Dushan-Wegner

25.03.2023

Die zweite Genehmigung

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten
Emilia und Simon dachten eigentlich, sie seien fertig. Dann klopfte es an der Tür, und ein langer Tag begann – ein sehr langer Tag … (Eine Geschichte)
Telegram
Facebook
Twitter
WhatsApp

»Emilia, wir sind fertig«, sagte Simon und legte mit großer Geste das Werkzeug in seine Kiste.

»Ja, es ist vollbracht«, sagte Emilia, und sie gab ihm einen Kuss.

Er sah kleine Schweißperlen auf ihrer Mädchenstirn. Seine Hände griffen nach ihren. Er fühlte, dass sie zitterte.

Er hielt ihre Hände weiter fest, tat einen Schritt zurück und fragte: »Emmi, ist alles in Ordnung?«

»Es ist nichts«, sagte sie, »es war viel Arbeit. Lass uns schlafen gehen.«

»Ja«, sagte er, »die erste Nacht im wirklich fertigen Haus.«

Emilia prüfte, ob ihr Häuslein ordentlich für die Nacht verriegelt war. Simon verschloss seine Werkzeugkiste.

Und so schliefen sie. Nicht die erste Nacht im Haus, aber die erste im Bewusstsein, dass es fertig war.

Emilia wachte auf, früher als es notwendig war, und bereitete ihm das Frühstück vor, um ihn dann der neuen Liebe adäquat zu wecken.

Ihr Häuslein saß weiter oben auf dem Berg, und am Tisch hatte man Ausblick auf die Bucht weiter unten.

Beim Kauen des Marmeladenbrotes konnte man die Morgensonne auf den Wellen glitzern sehen, aber auch die Schmetterlinge über den Blumen des eigenen Hügels.

Simon lächelte mal Emily an und mal den schönen Ausblick. Eigentlich lag ja eine Terrasse in Richtung der Bucht, doch sie blickte zu den Nachbarn. Also bevorzugten sie für jetzt, drinnen zu essen.

»Was machen wir heute?«, fragte Emilia, »das Haus ist ja fertig.«

»Jetzt fängt alles erst an!«, sagte Simon.

Da klopfte es an ihrer Tür.

Emilia blieb sitzen. Simon öffnete die Tür. Es war der Bürgermeister Paolo Antonio Romano.

Hinter dem Bürgermeister standen zwei Herren.

»Mein Name ist Paolo Antonio Romano«, sagte Paolo Antonio Romano, der Bürgermeister, »und ich bin Ihr Bürgermeister.«

»Guten Morgen, Herr Bürgermeister Romano«, sagte Simon.

»Ach, nennt mich Paolo«, sagte dieser und streckte seine Hand zum Gruß aus.

Simon schüttelte die Bürgermeisterhand. Emilia war aufgestanden und räumte den Küchentisch ab. Das gab ihr die Entschuldigung, lediglich aus der Entfernung mit Wort und Kopfnicken zu grüßen, ähnlich wie es die beiden Herren hinter dem Bürgermeister taten.

Nach erfolgtem Händeschütteln zog der Bürgermeister seine Hand wieder zurück. Es geschah wohl unwillkürlich, eine Sache der Gewohnheit, dass Romano seine Hand drehte und in seine Handfläche blickte, als prüfte er, ob etwas darin lag.

»Was für eine Freude, so junge Leute begrüßen zu dürfen! Im Namen der Stadt darf ich Ihnen sagen, dass es uns eine große Ehre ist«, deklamierte der Bürgermeister, »dass Sie bei uns Ihr Bauprojekt planen, begonnen haben!«

Emilia und Simon horchten beide auf.

»Begonnen haben?«, wiederholte Simon.

»Wir sind fertig«, rief Emilia, »das Haus ist fertig.«

»Das ist ja wunderbar«, sagte der Bürgermeister, »Sie haben also die Bauarbeiten abgeschlossen.«

»Jawohl«, erklärte Simon stolz, »der Bau ist abgeschlossen.«

Einer der beiden anderen Herren trat vor, und ohne sich weiter vorzustellen, insistierte er: »Dürfen wir kurz hereinkommen?«

Man trat ins Haus.

»Sie haben so eine schöne Terrasse«, sagte der Bürgermeister, »wollen wir uns nicht am Ausblick erfreuen?“

Man schritt weiter zur Terrasse und setzte sich auf die schönen, neuen Außenmöbel.

Der Bürgermeister blickte sich um, aber nicht in Richtung der Bucht, sondern zu den Terrassen der Nachbarn.

»Ein schönes Haus haben Sie gebaut, und eine schöne Terrasse mit einem wunderbaren Ausblick«, sagte der Bürgermeister.

Emilia stand auf der Schwelle der Terrasse. Der Bürgermeister wandte sich an sie und fragte: »Sie sind bestimmt auch stolz, die Bauarbeiten abgeschlossen zu haben, als frischgebackene, ach so jugendliche Hausherrin?«

»Ja, natürlich«, sagte Emilia und fragte sich, warum ihre Hände wieder zitterten.

Der Bürgermeister nickte, als entließe er Emilia aus ihrer Pflicht. Zu Simon sagte er aber: »Es wäre wirklich sehr schade, wenn es Ihnen und Ihrem Haus so wie den Nachbarn und deren Häusern erginge!«

Simon blickte ihn abwartend an.

Emilia hatte Simon von Anfang an immer gefragt, warum die Nachbarhäuser alle leer standen.

Simon wünschte sich nun sehr, dass er darauf eingegangen wäre. Er hatte immer abgewunken, hatte sie »viel zu besorgt« genannt.

Der Verkäufer dieses Grundstücks hatte zwar immer wechselnde Gründe genannt, doch für einen Unerfahrenen, der ohnehin zum Kauf entschieden war, war es genug.

Jetzt aber schnürte es Simon die Kehle zu. Er saß stumm da. Emilia war zu ihm getreten und stand hinter ihm, doch es war nicht ganz eindeutig, ob sie ihn stützen oder strafen wollten. Ihre Hände ruhten auf seinen Schultern fest, doch ihre Fingerspitzen krallten sich schmerzhaft in sein Schlüsselbein.

»Die Häuser stehen leer«, sagte Bürgermeister Romano, welcher »Paolo« genannt werden wollte, »und Sie beide haben sich gewiss informiert, warum die Nachbarhäuser allesamt leer stehen. Oder nicht?«

Nein, das hatten sie nicht.

Simon blieb stumm.

»Warum?«, fragte Emilia, »Warum stehen die Häuser leer?«

»Ja, eine fürwahr traurige Angelegenheit«, erklärte der Bürgermeister, »und so unnötig!

Der Erste der beiden Herren sagte: »Die hatten sogar alle Genehmigungen für den Baubeginn eingeholt.«

Simon erwachte wieder zum Leben und rief: »Ja, die haben wir auch! Und sie waren wahrlich nicht billig. Alle Genehmigungen, den Bau zu beginnen. Emilia, du weißt, wo sie sind. Hol sie doch!«

Der zweite Herr winkte ab: »Ja, ja. Das wissen wir. Doch haben Sie auch die Genehmigungen für den Abschluss der Bauarbeiten?«

»Für den … Abschluss?«, fragte Simon überrascht.

»Sie haben eben beide zugegeben, und zwar vor Zeugen, dass Sie den Bau abgeschlossen haben«, sagte der Bürgermeister.

»Ich bin Zeuge«, sagte der erste Herr, und der zweite wiederholte: »Ich bin Zeuge.«

»Wir sind eine Stadt der Ordnung, mit Regeln und Verordnungen«, dozierte der Bürgermeister, »und die Verordnungen regeln, dass einem der Beginn von Bauarbeiten genehmigt sein muss und der Abschluss ebenso. Sie wollen sich doch nicht gegen Ordnung und Verordnungen stellen?«

»Nein, natürlich nicht«, stammelte Simon.

Der erste Mann erklärte: »Unsere Verordnungen besagen, dass ein Haus, das ohne Genehmigung fertiggestellt wird, ins Eigentum der Stadt übergeht.«

»Und dann stehen diese Häuser leer?«, fragte Simon.

»Dann stehen sie leider leer«, bestätigte der Bürgermeister.

»So ist das Gesetz«, seufzte Simon, und die Schultern unter Emilias Händen sackten nach unten.

Emilias Hände aber zitterten nicht mehr, stattdessen fragte sie: »Könnte ich diese Verordnungen einmal nachlesen?«

Bürgermeister Romano und die beiden Herren blickten einander an. Der zweite der Herren atmete tief ein und erklärte, als hätte das Einatmen ihm neue Energie gegeben: »Es besteht natürlich die Möglichkeit, nachträglich eine Genehmigung zum Abschluss des Hausbaus zu erhalten.«

»Aha«, sagte Emilia.

Der Bürgermeister nickte, doch seine Laune war spürbar schlechter geworden.

Emilia stand noch immer hinter Simon, klopfte ihm von hinten auf die Schultern, und sie sagte: »Ja, dann wollen wir das doch gleich angehen!«

»Wie viel Zeit haben wir denn?«, fragte Simon.

Der zweite Herr sagte: »Wenn Ihr Vorgang im Rathaus eröffnet wurde, am besten heute noch, wurde er eben eröffnet. Wichtig ist, dass sie es vorantreiben. Einen Tag werden wir eben warten.«

»Einen Tag?«

»Einen Tag ab Ihrem jeweils letzten Besuch. Sie kommen gleich vorbei?«

»Ja.«

»Dann müsste es recht schnell gehen.«

Der Bürgermeister blickte in seine leere Handfläche, doch die Herren schienen ihn zu drängen, für jetzt noch zu warten.

»Hat die noch keiner nach dem Text der angeblichen Verordnungen gefragt?«, wunderte sich Emilia, als sie gegangen waren.

»Egal«, rief Simon mit neuem Mut, »lass uns die Genehmigungen auftreiben!«

»Ja«, sagte Emilia, »hier ist ein frisches Hemd. Hier sind deine guten Schuhe. Hier unsere Aktentasche mit den bisherigen Hauspapieren. Ich warte auf dich und bereite das Abendessen vor!«

Simon brach auf. Er wusste, was sie zubereiten würde, und er wusste, dass sie definitiv noch nicht wusste, wie man das richtig tat. Aber das war der Preis junger Liebe. Ein kluger Mann muss sich aufs Schauspielern verstehen.

Die Eingangshalle des Rathauses war voll mit Menschen, die auf die Verfügbarkeit dieses oder jenes Beamten warteten. Als Simon die für seinen Fall zuständige Stelle gefunden hatte, fand er deren Flur jedoch vollständig leer.

Simon klopfte an die Tür mit dem Schild »Nachträgliche Abschlussgenehmigungen. In dem Büro saß der zweite Herr, der eben noch in ihrem Haus gewesen war.

Simon grüßte, wie man einen alten Freund grüßt, doch der Beamte fragte stur: »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Simon ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. Keine Verzögerungen! Ein kluger Bürger muss sich aufs Schauspielern verstehen.

Simon erklärte sein Anliegen, berichtete sogar vom Besuch des Bürgermeisters und der beiden Herren, deren einer doch genau der vor ihm sitzende Beamte war.

Der aber äußerte Verständnis und sagte immer wieder: »Ja, so sind die Verordnungen. Schade um die Nachbarn! Gut, dass Sie das in Ordnung bringen.«

Er nannte Simon die notwendigen Genehmigungen.

Eine Genehmigung für die tatsächlich installierten Steckdosen, inklusive genauer Anzahl und Platzierung im Raum. Eine Genehmigung für die Bauweise des Briefkastens. Eine Genehmigung für das fröhliche Gelb der Hausmauern. Eine für die Himmelsrichtung des Dachfirsts. Eine vorläufige Genehmigung für die voraussichtliche Zielhöhe der Büsche vor, der Bäume hinter dem Haus und eine für die Tomatenpflanzen. Eine endgültige Genehmigung für Windspiele, die man in den nächsten zehn Jahren anzubringen gedachte. Eine Genehmigung für die gewählte Farbe der Kacheln und eine Genehmigung für die Abwesenheit von Treppen im einstöckigen Haus.

Für den Abschluss des Baus brauchte es hundertfach mehr Genehmigungen als für den Beginn. Und nicht alle konnte Simon direkt bei dem zweiten Herrn beantragen! Ja, eigentlich war dieser nur für die Begleitung des Vorgangs zuständig.

Und doch, der Zeitpunkt kam, an welchem Simon alle nachträglichen Genehmigungen beisammen hatte.

»Ich gratuliere dir«, sagte der Beamte für nachträgliche Baugenehmigungen.

Man schüttelte einander die Hand. Sie beide waren müde.

»Simon, es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen. Emily wartet auf dich, in eurem nun wirklich fertigen Haus.«

»Danke dir, Samuel«, sagte Simon, »ist es wirklich fertig?«

»Falls sie nicht in der Zwischenzeit die Verordnungen ändern, ist es jetzt wirklich abgeschlossen«, scherzte Samuel und setzte noch nach: »Wenn das der Bürgermeister erlebt hätte, was der wohl sagen würde?«

Simon schüttelte den Kopf. Das war ihm herzlich egal. Samuel lachte, denn er verstand.

Simon kehrte zu seinem nun wirklich fertigen Haus zurück.

In die Ruine neben ihnen waren neue Besitzer eingezogen. Ob er ihnen die Angelegenheit erklären sollte, bevor die Behörden es taten? Ach, morgen vielleicht. Oder auch nicht. Die jungen Leute müssen eben ihre Lektionen lernen.

Emilia wartete an der Haustür auf ihn.

»Es ist vollbracht, Emilia«, sagte Simon.

Emilia lächelte und nahm ihm den Mantel ab, die Aktentasche und den Stock.

»Du hast die Genehmigungen?«, fragte sie.

Er wies auf seine Aktentasche und bot ihr seine Lesebrille an. Er wusste ja, dass sie ihre immer verlegte.

»Ich schaue gleich«, sagte sie, »lass uns erst mal essen, Simon!«

Emilia hatte sein Leibgericht gekocht, und es war vollkommen. Emilia hatte es ja oft genug geübt. Er liebte ihre Beharrlichkeit.

Ja, es war vollkommen. Simon lächelte Emilia über den Tisch hinweg an und griff nach seinem Löffel. Seine Hand zitterte, seit einiger Zeit nun schon, doch Emilia tat so, als bemerke sie es nicht. Heimlich hatte sie einen Arzt danach befragt, und der hatte gesagt, dass man da wenig tun könne.

»Ja, es ist vollbracht«, wiederholte er, »es ist abgeschlossen. Der Abschluss unseres Hausbaus wurde genehmigt.«

Emilia fragte: »Ist es sicher?«

»Wenn sie die Verordnungen in der Zwischenzeit nicht geändert haben«, scherzte er und lachte, um den vom Beamten kopierten Scherz als solchen zu markieren.

Das Paar aß zu Ende. Beide sagten nicht viel und waren dennoch nicht einsam. Jeder hing den eigenen und doch über die Jahrzehnte gemeinsam gewordenen Gedanken nach.

Emilia räumte den Tisch ab. Simon half. Abspülen würden sie morgen. Am Abend abspülen geht immer so in den Rücken. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Die erste Nacht im wirklich, wirklich fertigen Haus.

Emilia hielt inne, und sie fragte: »Hast du das gehört?«

»Was?«

»Hat es an der Tür geklopft?«

Er hatte es gehört, doch er sagte: »Morgen weiter.«

Weiterschreiben, Wegner!

Geschichten wie diese bedeuten Arbeit, und diese Arbeit wird nur durch Ihre Unterstützung möglich. Bitte wählen Sie selbst:

Jahresbeitrag(entspricht 1€ pro Woche) 52€

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
Twitter
E-Mail

Herd der Herde

Die Regierung möchte einen »magischen« Herd einführen. Und alle Bürger werden diesen »Herd der Herde« kaufen müssen, zwangsweise. Erst lachen Leute über die irren Pläne, aber die Regierung meint es gefährlich ernst …

Warteraum 254

Mein erster Roman. Er handelt vom städtischen Beauftragten für Warteräume, der eines Morgens vom Ärger im Warteraum 254 hört … 

alle Bücher /buecher/ →

Die zweite Genehmigung

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)