Dushan-Wegner

05.04.2021

Die Schatten sind fake

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Monica Valls
Was unterscheidet einen Witz, zumindest einen guten, von den Nachrichten? In jedem Witz steckt ein wahrer Kern! – Im Ernst aber: Was, wenn die Nachrichten nicht einmal die Umrisse der Wahrheit zeigen?!
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»Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat« – Sie erkennen es gewiss, liebe Leser, woraus ich zitiere! – und weiter: »In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind.« (zitiert nach Schleiermacher)

Richtig, es ist das Höhlengleichnis, eine der wirkstärksten und wichtigsten Metaphern der (westlichen) Denkgeschichte.

Menschen sind an die Wand einer Höhle gefesselt, und sie sehen nicht die Dinge der Welt, sondern nur die Schatten der Dinge: »Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?«

Wenn einer, etwa weil er zuvor gewaltsam befreit wurde, das Licht und die wahren Gegenstände sähe, und dann zurückgeführt würde, dann käme er zuerst überhaupt nicht zurecht in der Schattenwelt – und man würde ihn verhöhnen und darauf schließen, dass jeder Ausflug an die Oberfläche schädlich ist (wie heute die »Comedy« des verfluchten deutschen Staatsfunks jeden verhöhnt, der sich nicht in den geistigen Gleichschritt-des-Tages einsortieren will). Wenn einer aber seine Mitgefangenen gar befreien wollte, damit sie gemeinsam die Dinge hinter den Schatten sehen, dann würde man ihn dafür gleich erschlagen (wie heute die Terrorbanden der Antifa auf jeden einschlagen, der Menschen ermutigen will, sich nicht in den geistigen Gleichschritt-des-Tages einzusortieren).

Wenn Sie beim Lesen des vorherigen Absatzes erneut etwas von der Kraft und Wahrheit der Höhlengleichnis-Metapher geradezu körperlich gespürt haben, dann geht es Ihnen wie mir – und wie den Lesenden in vielen Generationen vor uns.

Heute jedoch – und hier schütte ich kaltes Wasser auf die philosophische Glut – die im Höhlengleichnis codierte philosophische Argumentation baut auf eine implizite Prämisse, deren Gewissheit ich in Abrede stelle – und wenn diese eine Prämisse wirklich so wacklig ist, wie mir scheint, dann ist ein guter Teil unserer Bemühung auf denkbar wackligem Grund gebaut.

Gaukler und getragene Vasen

Platon spricht von Gauklern, anderen Menschen, teils redend (so dass die Gefangenen es hören, aber nicht zuordnen können), von Kunstwerken und anderen Gegenständen, die allesamt den Gefangenen nicht unmittelbar sichtbar sind, jedoch indirekt durch »die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft«.

Und hierin, liebe Leser, liegt eine gefährliche implizite Prämisse, deren Wackligkeit wir übersehen, denn Dramatik der folgenden »Befreiung«, ähem, überschattet sie: In der Metapher folgt der Umriss der Schatten eben doch den realen Gestalten und Gegenständen.

Das Wissen der Gefangenen ist ein lückenhaftes, aber die Umrisse und groben Formen sind doch richtig! Bei Platon gibt es stets etwas, worauf sich diese und jene Schattenform bezieht!

Erst diese Prämisse lässt das Höhlengleichnis so inspirierend wirken! Die erkenntnistheoretische Aussage des Höhlengleichnisses ist (also) nicht, dass alles Lüge und Irrtum sei, sondern, dass alles und jedes eine wahrheitsförmige Lüge sei – und das ist ein im Wortsinn wesentlicher Unterschied!

Woher wissen wir, dass der Befreite, sobald seine Augen sich an das Licht der Sonne gewöhnten, nicht erstmal in schallendes Lachen ausbricht, weil er feststellt, dass die Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts mit dem Umriss der Schatten zu tun hat?!

In jedem Scherz sei stets auch etwas Wahrheit enthalten, so sagen wir, und ähnlich müsste nach Platon gelten, dass in jeder der Lügen, die wir glauben, auch etwas Wahrheit enthalten sei. Wir glauben Lügen – wahrheitsförmige Lügen!

Nicht einmal als Umriss

Wie nervöse Wandernde, die sich bei Windstößen auf schmaler Brücke ans Geländer klammern, so halten wir uns an der bei Platon implizierten Hoffnung fest, dass wenn wir auch von Lügnern und ihren Lügen umgeben sein mögen, so zumindest die Umrisse der Lügen doch eine Wahrheit bilden.

Wir schauen in die Nachrichten, und wessen Verstand noch nicht von der Propaganda aus- und gleichgeschaltet wurde, der vermutet täglich, dass das Gesagte nicht die Wahrheit ist, zumindest nicht die ganze Wahrheit, dass Teile fehlen – und dass wir durch Nachdenken und Weiterforschen herausfinden können, wofür diese flackernden Schatten wirklich stehen.

Ich fürchte, es ist zuerst unser Wunschdenken, dass uns annehmen lässt, dass die Lügen zumindest »wahrheitsförmig« sind.

Es gibt eine Realität, kein Zweifel, und sie beeinflusst jeden unserer Tage, jede unserer Stunden, doch die Schatten, die wir an der Wand sehen, bilden sie nicht zwingend ab, oft nicht einmal als Umriss.

Sorry, liebe Leser, manche Vase, deren Schatten Sie an der Wand zu erkennen meinen, deren Schatten man uns laut und bunt in den Nachrichten zeigt, diese Vase gibt es wahrscheinlich gar nicht – dafür gibt es aber ganz andere Vasen, die kaum einen Schatten werfen. In der Metapher bleibend: Die Schatten sind nicht einmal wahrheitsförmig.

Die Schatten sind fake.

Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag!

Weiterschreiben, Wegner!

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