28.12.2022

Der Hass auf Helfer folgt einer inneren Logik

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: DW via Stable Diffusion
Es ist inakzeptabel, dass Rettungskräfte bei ihren Einsätzen immer wieder Hass und Aggression erleiden. Helfer verdienen unsere Unterstützung und Anerkennung – doch in manchen Stadtteilen müssen sie Gewalt fürchten. Das ist mehr als nur »absurd«.
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Die meisten von uns, wenn wir keine Sanitäter oder Feuerwehrleute sind, denken beim Thema „Silvester“ ans Feiern, an gute Laune, an Böller und vielleicht Champagner.

Rettungsleute aber denken bei »Silvester« und bei Festtagen allgemein eher an Verbrennungen, Schnittwunden, viele Betrunkene, und auch an abgesprengte Finger (vergleiche rnd.de, 25.12.2010).

Der Jahreswechsel ist die Zeit der Rettungseinsätze. Menschen hocken aufeinander und sind schon mal alkoholisiert. Der Alltag verliert den Rhythmus. Emotionen kochen hoch.

Zu alldem ist es auch noch dunkel und oft glitschig – Unfälle passieren. Und als wäre das nicht genug, kommt um Silvester noch das Feuerwerk dazu.

Häufig jene

Nun würden Sie und ich ja denken, dass Rettungskräfte immer auf ein dankbares Publikum stoßen. Immerhin opfern sie die Zeit, in welcher andere feiern, um ihren Mitmenschen zu helfen.

Und tatsächlich ist das auch manchmal der Fall. Je nach Zielgebiet kann das auch meistens der Fall sein.

Aber eben nicht immer.

Es gibt sie, die Gegenden in Deutschland, wo Rettungskräfte lieber nur mit Polizeischutz helfen, weil sie selbst gefährdet sind.

Und ja, es kann zwar passieren, dass Rettungskräfte auch in der braven Einfamilienhaus-Siedlung angepöbelt werden. In der Praxis, so hört man, sind die für Rettungskräfte gefährlichen Gegenden auffallend häufig jene, in denen sogenannte Toleranz gelebt wird.

Über Kulturen hinweg

Soziologen untersuchen tatsächlich schon seit Jahrzehnten, ob und wann Menschen anderen helfen – und wann sie es eben nicht tun.

Der Konsens scheint zu sein (vergleiche etwa „Helping and Volunteering across Cultures: Determinants of Prosocial Behavior“, Aydinli, Bender, Chasiotis; 2013; via scholarworks.gvsu.edu), dass für jene Gruppe, mit der man sich eng identifziert, das Helfen quer über Kulturen hinweg identisch ist.

Wenn ein Familienmitglied einmal Hilfe braucht, dann hilft man meistens aus.

Der große Unterschied, so stellen Soziologen fest, besteht zwischen den Kulturen darin, ob man jenen hilft, die nicht zur eigenen Gruppe gehören.

In Stämmen denken

Leute schwärmen schon mal von der Herzenswärme und vom Familienzusammenhalt in fremden Kulturen.

Und man schimpft schon mal über den angeblichen Hyper-Individualismus des Westens.

Tatsächlich aber zeigt sich in Untersuchungen, dass in individualistischen Kulturen einem Fremden eher organisiert geholfen wird als in kollektivistischen.

„Warum sollte ich die Ressourcen meines Stammes verbrauchen, um dem Angehörigen eines fremden Stammes“, so ließe sich theoretisch und krass formulieren, „das Leben zu retten, wenn sein Ableben dagegen die Ressourcenlage meines Stammes stärkt?“

Fußwaschung und Nonnen

Die sogenannte „Gastfreundschaft“ wird in vielen Kulturen gepriesen, doch sie geht implizit immer vom Verhältnis sozial ähnlich starker Menschen aus, die sich auf Augenhöhe begegnen können, nur dass eben der eine beim anderen zu Gast ist.

Es als hohen moralischen Wert zu betrachten, Menschen zu helfen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, das scheint dagegen eine speziell christliche Erfindung zu sein.

Zu helfen, das bedeutet in manchen Kulturen, sich zu erniedrigen.

„Denn wer der Kleinste ist unter euch allen, der ist groß“, sagt Jesus (Lukas 9:46-48), und er sagte es, nachdem seine Jünger gestritten hatten, wer von ihnen der „Größte“ wäre.

Auch andere Kulturen kennen die eigene Erniedrigung des Gläubigen, doch es ist meist eine Erniedrigung vor Gott oder der Institutionen, nicht vorm Mitmenschen.

Zumindest in der Theorie ist die eigene Erniedrigung vorm Mitmenschen ein christliches Markenzeichen: Die Fußwaschung, wie sie in manchen Freikirchen auch unter einfachen Gläubigen praktiziert wird. Nonnen, die ihren Dienst an Jesus darin versehen, dass sie als Krankenschwestern ihren Mitmenschen den Eiter aus den Wunden schaben und diese dann verbinden. Der de-facto freiwillige Tod Jesu Christi am Kreuz, nach vorangegangener öffentlicher Demütigung, als maximale Selbsterniedrigung – die Wiederauferstehung auch als Symbol für diesen zentralen Aspekt christlicher Lehre: Werde du selbst, indem du alles loslässt, vor allem deinen Stolz.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10:25-37) lehrt die Christen, dem in Not geratenen Fremden zu helfen. So selbstverständlich es uns inzwischen erscheint, so absurd erscheint es vielen anderen.

Den Parkplatz blockiert

Vertun wir uns nicht: Es sind wohl überproportional häufig Menschen aus fremden Kulturen, die Retter angreifen – doch die Täter können auch mal Müller und Maier heißen.

Es ist nicht die Herkunft, die handelt, sondern Gehirn und Verstand, betrieben von gewissen Denkmustern – und die werden natürlich von der Herkunft geprägt.

Die Retter, ob Sanitäter oder Feuerwehrleute, verkörpern einen zentralen Gedanken des Christentums – und sie lassen das Handeln und damit das eigene Leben so manches Menschen eben diesem als von ganz anderer Denkart als eben das erscheinen, was und wie es ist: Absurd und kalt, sich selbst aus der großen Menschengemeinde herausnehmend.

(Ja, ich weiß, dass es etwa schon im alten Rom eine Feuerwehr gab; siehe Wikipedia. Doch sie wirkte auch als verlängerter Arm des Sicherheitsapparates, wie Rettungsdienste in vielen Teilen der Welt es bis heute tun, was mit ein Faktor dafür ist, dass Migranten aus gewissen Erdteilen diesen Diensten misstrauen könnten. Das Helfen als mit großem Ernst und Einsatz betriebener erster Zweck ist tatsächlich eine Besonderheit christlich geprägter Kultur – die natürlich und hoffentlich viele Nachahmer in anderen Kulturen findet. Es ist aber nun mal so, dass der Rote Halbmond als Symbol nach dem Roten Kreuz kam, nicht andersherum; siehe Wikipedia.)

Kein Wunder, dass solche Gestalten die Feuerwehr oder den Rettungsdienst attackieren. Selbst wenn sie einen Vorwand für ihre Attacke suchen, etwa dass der Rettungswagen, in welchem gerade um das Leben eines Kindes gerungen wird, ihnen den Parkplatz blockiert.

Die These ließe sich aufstellen, dass der Hass auf Helfer eine ähnliche Ursache hat wie der Hass auf jene, welche über diese Probleme reden: Wenn Menschen helfen oder über unangenehme Probleme reden, ist die bloße Handlung bereits ein Vorwurf, und stellt still die entlarvende Frage, warum man selbst es nicht tut.

Wenn Selbsterniedrigung und die Hilfe am Fremden dir als Schwäche erscheint, doch irgendetwas in dir ahnt, dass diese Haltung ein Irrtum ist, du aber nicht deine emotionale Faulheit überwinden willst, dann ist Aggression gegen den Helfer tatsächlich konsequent.

Ist Respekt lehrbar?

Politiker ringen die Hände, und tun ganz ratlos. In Schulen will man Schülern beibringen, dass Rettungskräften doch mit Respekt zu begegnen sei.

Wird es funktionieren?

Nur derjenige Mensch wird Rettungskräften mit Respekt und Dankbarkeit begegnen, der auch für sich das Helfen als Teil seines Wesens sieht.

Wird es uns also gelingen, die Menschheitsfamilie in den Köpfen aller Menschen als neues „Wir“ zu etablieren?

Nun, man kann die Herzen nicht zwingen, man kann sie nur gewinnen. Eine Seele nach der anderen, jede Generation ein wenig mehr.

Bis wir aber soweit sind, wäre es eine gute Idee, sich vor denen zu schützen, für die Helfen etwas Schlechtes ist, und die also auf Helfer spucken.

Ja, ich träume von einer Welt, in welcher ein jeder Mensch der Helfer seiner Mitmenschen sein möchte.

An Ihnen und mir wird die Ankunft dieser neuen besseren Welt der gegenseitigen Hilfe nicht scheitern, und für den Augenblick halten wir uns an den Rat Jesu (Markus 10:16b): „seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“

Weiterschreiben, Wegner!

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