Dushan-Wegner

02.04.2023

Lucy, ich und unser Eskimo-Baby

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten
Ich habe einen Traum, dass meine Kinder eines Tages in einer Welt leben, in der sie endlich nicht mehr an ihrer Leistung oder ihrem Charakter gemessen werden, sondern daran, als was sie sich identifizieren. (Es ist eine kurze Geschichte)
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Ich bin so glücklich! Ich möchte Ihnen von Lucy und mir erzählen – und natürlich von unserem Eskimo-Baby. Das Zucken in meinem rechten Auge nervt etwas, aber sonst geht es Lucy und mir super gut. Ich möchte vor Freude und Aufregung schier platzen!

Doch Sie würden nichts verstehen, wenn ich nur durcheinander erzählte, also lassen Sie uns am Anfang beginnen.

Es hat mit der ARGSO zu tun.

Es war das Jahr 2035, und seit 5 Jahren besaßen wir nichts und waren glücklich. Wer aber nicht glücklich war, den griff die Polizei auf und injizierte ihm einen Happy-Booster, und dann war er glücklich. Oder er war tot. Aber nicht mehr unglücklich, und das war die Hauptsache.

Lucy und ich waren glücklich, und genau deshalb wollten wir zusammen in eine gemeinsame Wohnung ziehen, vielleicht sogar in eine mit Fenster!

Lucy und ich hatten etwas Geld angespart, und dann hatten wir einen Termin bei der ARGSO vereinbart.

In einer ARGSO arbeiten RGSO-Berater. Wir saßen unserem RGSO-Berater gegenüber, vertrauenseinflößend getrennt durch seinen Schreibtisch, und er stellte uns die üblichen Fragen. Nach unserem Einkommen, unseren Abschlüssen, unseren derzeitigen Geschlechtsorganen und so weiter.

Seit die Regierung im Jahr 2025 das »Gesetz für gerechten Wohnraum« erlassen hatte, wählen Bürger ihren Wohnraum nicht mehr selbst, denn selbst zu wählen ist ungerecht.

Wohnraum wurde nun nach den Formeln und Gewichtung der Wohngerechtigkeitstabelle zugeteilt.

Das bedeutete allerdings, dass Lucy und ich ohne geschickte RGSO wenig Aussichten auf eine gemeinsame Wohnung mit Fenster hatten. Der Gerechtigkeit muss man gelegentlich nachhelfen, damit sie wirklich gerecht ist, und dafür ist eben RGSO da.

Lucy und ich hatten beide viel zu gewöhnliche Berufe, als dass wir in jener Hinsicht auf die Wohngerechtigkeit hätten hoffen können.

Ich trainierte die Sprachmodelle in der Antragsbearbeitung einer Unfallversicherung. Nebenbei schrieb ich kleinere Geschichten und notorisch unvollendete Romanfragmente. Lucy wartete die genderneutralen Sexroboter in einem der neuen Bordelle, mit denen China zuletzt in westliche Städte expandierte.

Weder Lucy noch ich wollten uns als Journalist, Demonstrant oder Drogenhändler im Park verdingen. Wir brauchten also professionelle Hilfe bei der Suche nach einer gemeinsamen Wohnung mit Fenster, und deshalb buchten wir 2035 endlich die Dienste der ARGSO.

Es ist ja nicht so, dass wir es nicht versucht hätten, unseren RGS allein zu optimieren! Viele junge und unerfahrene Menschen versuchen das zunächst allein, so leider auch wir.

2032 waren Lucy und ich noch frisch verliebt gewesen. Wir wollten zu zweit in den Urlaub fliegen. Nicht nur virtuell, wie es als neuer Standard gepriesen wurde, sondern so richtig, mit Flugzeug und Hotel und Schaumwein schon zum Frühstück.

Bei der Buchung des Urlaubs sollten wir ankreuzen, mit welcher Genehmigung wir in den Urlaub zu fliegen gedächten.

Es waren noch Plätze frei im Flugurlaub-Kontingent für schwule Paare im Alter zwischen 25 und 30 Jahren.

Das klang machbar.

Wir kreuzten die entsprechende Checkbox an, und Lucy identifizierte sich so mit dem notwendigen Geschlecht und ich mit dem notwendigen Alter. Der Reiseveranstalter meldete unsere neue Identifikation automatisch an die Behörde für Fluggerechtigkeit.

Wir flogen in den Urlaub und dachten uns erst einmal nichts dabei.

Wir erwarten keine negativen Folgen unserer Spontan-Identifikation. Unser Eindruck war, dass in der Praxis nur Funktionäre, Journalisten und professionelle Demonstranten einfach so und ohne Identitätswechsel in den Urlaub fliegen können – und diese Leute fliegen ohnehin nicht in dieselben bescheidenen Urlaubsorte wie wir.

Doch da gab es einige Details und Wechselwirkungen, die ich nicht bedacht – oder schlicht nicht gewusst – hatte.

Für die Genehmigung des Kaufs einer Waschmaschine hatte ich mich wenige Monate zuvor als nigerianischer Pfingstler-Pastor identifiziert, der das wasserverbrauchende und damit umweltschädigende Gerät benötigte, um seine Gottesdienst-Uniform zu waschen. Es war noch nicht einmal meine eigene Idee gewesen! Allein jener Elektromarkt verkauft täglich zehn bis fünfzehn Waschmaschinen an nigerianische Pfingstler-Pastoren, zumindest laut der Meldungen an die Behörde für Wassergerechtigkeit.

Als die Gerechtigkeitsbehörden aber erfuhren, dass Lucy und ich nun ein schwules Pärchen im Alter zwischen 25 und 30 Jahren waren, fielen wir offenbar in eine mir bis dahin unbekannte RG-Kategorie.

Die erste daraus folgende Überraschung war noch äußerst angenehm: Man genehmigte uns unerwartet den Kauf eines Achtel-Anteils an einem Automobil. Wir hatten zwar kein Interesse an solchem Luxus und auch nicht das notwendige Geld, doch als wir diese Genehmigung ablehnten, zahlte man uns als Erstattung eine sehr willkommene Klimaprämie.

Hätten wir dieses Geld zuvor zur Verfügung gehabt, hätten wir vermutlich den Achtel-Anteil gekauft, aber dann hätten wir … ach, Gerechtigkeit ist bisweilen kompliziert. Gut, dass unsere Regierung sich darum kümmert.

Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen in unvorhersagbarem Tempo, mal in Sekundenschnelle, mal quälend langsam wie früher die Gletscher, doch sie mahlen.

Mein Arbeitgeber hatte zuvor meine Anstellung innerhalb des Umerziehungsprogramms für  »Involuntary Celibates« genehmigen lassen, also für Männer, die ihr Leben »unfreiwillig zölibatär« fristeten und damit zumindest früher eine Randgruppe bildeten (allerdings eine, die es umzuerziehen galt, meist zu »freiwillig zölibatären« Männern).

Mein Arbeitgeber hatte kaum eine andere Wahl gehabt, als mich derart anzumelden, denn es gab nur wenige Möglichkeiten, Personen mit meinem biologischen Geschlecht anzustellen, und er brauchte meine Qualifikation unbedingt.

Vielleicht hatte er mir von dieser Extra-Genehmigung erzählt, vielleicht auch nicht – ich weiß es nicht mehr. Indem ich aber bei der Buchung des Urlaubs unbedacht ankreuzte, dass Lucy und ich ein schwules Paar bilden, fiel ich rechtlich aus der Kategorie »Incel« heraus – und das war ein Problem: Die Gerechtigkeitsbehörde drohte meinem Arbeitgeber, die Genehmigung meiner Einstellung als bloß-biologischer Mann zu widerrufen.

Kaum waren Lucy und ich aus unserem Urlaub zurück, bestellte mich mein Arbeitgeber in den großen Konferenzraum ein.

Mein direkter Chef saß da, dazu der Prokurist und ein in RGSO geschulter Psychologe.

In einem kräftezehrenden Gespräch wurde aufgedeckt, dass ich an einer prämanifesten dissoziativen Identitätsstörung leide. Das würde man zur Begründung einer Genehmigung meiner Weiterbeschäftigung nutzen.

Man bat mich inständig, in Zukunft keine weiteren RGSO auf eigene Faust und ohne professionelle Beratung zu betreiben.

Und deshalb saßen Lucy und ich 2035 bei der professionellen ARGSO und ließen uns beraten, wie wir an eine gemeinsame Wohnung gelangen könnten.

»ARGSO« bedeutet »Agentur für Randgruppenstatus-Optimierung«.

Wer sich im Leben behaupten will, muss mindestens jährlich, besser noch monatlich, seinen Randgruppenstatus von einem Profi überprüfen und gegebenenfalls neu aufstellen lassen.

Du willst eine neue Förderung in Anspruch nehmen, die für bestimmte Randgruppen ausgeschrieben ist? Du hättest gern eine Wohnung mit Wasseranschluss? Die Genehmigung für einen Flugurlaub? Zu alledem möchtest du dein Kind in einer jener Luxusschulen unterbringen, die maximal ein schwerstverletztes Kind pro Woche und maximal drei Tote pro Jahr garantieren?

Für all das musst du dich als Mitglied einer benachteiligten Randgruppe identifizieren, und zwar einer benachteiligten Randgruppe, zu der zu gehören auch wirklich den angestrebten Vorteil verschafft, während es zugleich nicht im Widerspruch zur Zugehörigkeit zu einer anderen Randgruppe steht.

Das ist alles nicht einfach, doch es kann sich lohnen.

Unser ARGSO-Berater scherzte einmal: »Sage mir, wie stark du benachteiligt bist, und ich sage dir, wie weit du es in diesem Leben bringen wirst!«

Die erste Beratung unserer ARGSO war extra gründlich, und sie war auch anstrengend, das muss ich hier offen sagen.

Der Experte klopfte Lucys und meine bisherigen Identitäten ab, soweit ich mich an diese erinnerte. Dann entwarfen wir verschiedene Pläne für die Zukunft, inklusive denkbarer weiterer Identitätswechsel.

Es war faszinierend, einem Profi bei der Arbeit zuzusehen! Er sah und kannte Möglichkeiten und Wechselwirkungen, die mir selbst niemals eingefallen wären!

Ein Beispiel: Durch eine Gesetzeslücke im Gesetz für Transportwesengerechtigkeit etwa hatte ein Mensch, der sich als »arbeitslos gewordener Kutscher der deutschen Kaiserzeit« identifizierte, Anspruch auf eine »Kutscherrente« – ein besseres Taschengeld, aber immerhin Geld. Er musste sich damit allerdings zugleich als mindestens 140 Jahre alt identifizieren, was ihn aber dummerweise durch das Gesetz für Krankenkostengerechtigkeit von allen teureren ärztlichen Kassenleistungen bei den Ärzten ausschloss. (Wir waren keine ehemaligen Kutscher, und wir wollten uns auch nicht als solche identifizieren.)

Unser ARGSO-Berater fand einen für uns geeigneten Weg, wie Lucy und ich eine feine Wohnung zugeteilt bekommen würden.

Ach, was waren Lucy und ich glücklich, als wir durch die ARGSO-Beratung unsere erste gemeinsame Wohnung beziehen konnten — mit Fenster!

Das Fenster ließ sich zwar nicht öffnen, doch wenn ich mich direkt vor das Fenster hockte und den Kopf in den Nacken legte, sah ich sogar den Rand des Himmels!

Ich konnte der ARGSO gar nicht genug danken. Der Berater hatte wirklich an alles gedacht, und er hatte mich rechtzeitig darauf vorbereitet, auf einige Dinge wieder verzichten zu müssen.

Ich musste die Waschmaschine zurückgeben und die Wäsche wieder mit der Hand waschen, denn ich identifizierte mich nicht mehr als nigerianischer Pfingst-Pastor. Ich identifizierte mich als orthodoxer Rabbiner.

Die Wohnung war es aber wert, und Lucy begann plötzlich, wöchentlich leckeren Hefezopf zu backen.

Der Hausverwalter kündigte eines Tages an, dass wir neue Nachbarn bekommen würden, nämlich zwei blinde Senegalesen.

Und einen Tag später waren sie schon eingezogen. Wunderbare Leute! Magda und Alexander Eisenstein hießen sie. Als sie uns sahen, grüßten sie gleich mit einem herzhaften »Zdravstvuite!«, das bedeutet »Hallo!« auf Senegalesisch.

Wir verabredeten uns gleich für den folgenden Freitagabend. Wir erzählten voneinander, und Magda fragte mich, ob Lucy oder sie die Kerzen anzünden würden. Ich wusste nicht, was sie meinte — ach, es gab noch so viel über Senegal zu lernen!

Durch regelmäßige Optimierung des Randgruppenstatus lernt man ja immer wieder neue Menschen kennen, allein beim Blick in den Spiegel.

Und ARGSO ist natürlich auch ganz konkret nützlich — seien wir ehrlich! Wer seinen Randgruppenstatus nicht optimiert, der vergibt sich manche Chance, gerade in unserer streng toleranten Welt.

Nur leider kann man sich noch nicht überall auf der Welt auf seinen optimierten Randgruppenstatus verlassen.

In weniger fortschrittlichen Ländern, also wo sich die Menschen ernst nehmen oder einfach ihre Sinne halbwegs beisammen haben, wird RGSO leider noch nicht so gut akzeptiert wie bei uns.

Und auch die ultimative Randgruppe, »das eine Prozent«, treibt zwar diese fortschrittliche Denkweise weltweit voran, reagiert jedoch erstaunlich abweisend, wenn man sich als einer von ihnen identifiziert und folglich bei ihren Partys dabei sein will. (Gehen Sie mal in die Bank und identifizieren sich als Milliardär, der sein Geld abheben will – erschreckend, was für rückständige Heuchler sogar Banker mit zehn Toleranzflaggen vorm Hauseingang sein können!)

Doch ja, insgesamt bin ich sehr zufrieden mit der Arbeit unserer ARGSO – und natürlich mit unserer Wohnung.

Meine Beziehung zu Lucy ist lebendiger denn je! Ja, Lucy ist mein täglicher Lichtstrahl, und ohne sie wäre ich allein.

Manchmal fragen mich Leute, wer diese Lucy sei, von der ich erzähle. Mein Arbeitgeber sagt aber, dass ich über Fragen nach der Existenz von Lucy nicht nachdenken soll, wenn ich meinen Job behalten will. Also tue ich das auch hier nicht weiter.

Es genügt mir ja, dass Lucy und ich glücklich sind. Man hat uns für jetzt eine Wohnung zugeteilt, unserem aktuellen Randgruppenstatus entsprechend, und wir besitzen nichts, und wir sind glücklich.

Lucy und ich sind dermaßen glücklich, dass wir seit einiger Zeit daran arbeiten, ein Kind zu adoptieren.

Wir fragten unseren ARGSO-Berater, welche Identität sich für uns anbietet, um ein Kind adoptieren zu können, ohne die Wohnung oder die Arbeitsstellen zu verlieren.

Nach Prüfung unseres Falls und der tagesaktuellen Lage empfahl er, dass wir zu einer Identifikation als Eskimos wechseln.

Natürlich taten wir das gern!

Es würde also ein Eskimo-Baby sein, nur für Lucy und mich!

Heute durften wir unser Baby zum ersten Mal sehen, unser süßes Eskimo-Baby.

Der Junge ist biologisch etwas älter als ich, zwei Köpfe größer, und er arbeitete bis eben noch sehr hart, wenn ich auch nicht weiß, was er arbeitete, doch er identifiziert sich als Eskimo-Baby.

Wir sind also nun eine Familie!

Lucy und ich wechseln unserem Eskimo-Baby abwechselnd die Windeln, wie es sich für moderne Eltern gehört.

Wir haben nichts, außer unserem Baby und uns, und natürlich der zugeteilten Wohnung, und wir sind glücklich.

Zur Sicherheit haben Lucy und ich unsere Happy-Booster auffrischen lassen. Seitdem zuckt mein rechtes Auge etwas, doch das ist nicht so wichtig.

Wir sind glücklich, und wir haben nichts, und das ist das Wichtigste.

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