Dushan-Wegner

05.12.2021

Privates in Gedanken

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Balázs Horváth
Die eigenen Gedanken aufzuschreiben hilft dabei, eben diese Gedanken zu ordnen. Jedoch, soziale Medien sind dafür denkbar ungeeignet. Öffentlich schreiben wir mit Filter und Schminke, für die anderen, nicht für uns. Sollen wir Tagebücher wiederentdecken?
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Wer schreibt heute noch ein Tagebuch? Manche von uns haben früher und damals vielleicht ein Tagebuch geführt, als wir Jugendliche waren, also Werdende. Aber heute, haben haben die meisten von uns für so etwas doch keine Zeit mehr – für solchen »Kinderkram«!

Wir produzieren heute mehr sogenannten »content« denn je. Manche nennen Blogs und Tagebücher ein »Online-Tagebuch«, doch es ist nur halb richtig, also auch halb falsch.

Ich selbst reflektiere ja ebenfalls online, was ich wirklich bin – das Wort »reflektieren« in beiden Bedeutungen – meine Rolle und Perspektive, und ich bin nicht allein damit – ich bin nur besessener als die meisten.


Notiz: Wenn dir in diesen Tagen von all den Ereignissen schwindlig wird, wenn sich dein Kopf dreht und die Welt um dich herum rotiert, dann darfst du für Fakt erklären, dass die Welt sich um dich dreht, dass du die Sonne deines Sonnensystems bist, der Hebel und der Mittelpunkt dieses deines Universums. Wer wollte dich hindern? Wer dich widerlegen?


Wir posten, wir tweeten und facebooken und instagrammen und bloggen, wir praktizieren all die anderen zu Verben gewordenen Namen amerikanischer Internet-Medien-Konzerne. (Am Rande: Sind wir glücklich, sind wir gar glücklicher? – Dabei, dadurch oder deshalb nicht?)

Es ist gefiltert, was wir sagen und was wir zeigen, was wir als unser auffällig jung wirkendes »Alter-Ego« online auftreten lassen, unsere »Nummer 2«, wie Schirrmacher es nannte. (Notiz: Wenn ich mit dem Finger auf die Stelle im Zeitstrahl zeigen sollte, wann mir bewusst wurde, dass mir die deutsche Debatte in den Mittelstrahl-Medien langweilig zu werden begonnen hatte, dann wäre es wohl der Tod Frank Schirrmachers im Jahre 2014. Wer soll jetzt noch im Mainstream große Thesen aufstellen?)


Unsere digitalen Tagebücher sind auf mehr als einer Ebene gefiltert – und die moralgewordene Generallüge namens »politische Korrektheit« ist nur einer der Filter. Jugendliche (und solche, die gern noch welche wären) posten ihre Fotos mit digitalen Filtern. Der Filter formt, was wir sagen und damit sind, mindestens halb-unsichtbar als Schere und Schminke im eigenen Kopf.

Es ist kein Tagebuch, wenn du nach Likes und Retweets lechzt, wenn du von irgendwas anderem getrieben bist, als vom Wunsch, einige kurze Minuten lang wahrhaftig zu sein, dir und dem Tagebuch die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, und – wir kennen den Rest – nichts als die Wahrheit.


Es passiert ja, und es passiert längst nicht selten genug, dass ich digitale Bekenntnisse lese, da denke ich mir, dass dieses oder jenes vielleicht besser dann doch wirklich privat geblieben wäre.

Jedes Gefühl ist gerechtfertigt, so habe ich zu sagen gelernt, und so sage ich auch, doch nicht jeder emotionale Seelenklecks sollte auch auf die globalen Litfasssäulen digitaler Medien plakatiert werden, wenn es ästhetisch bleiben soll.

Und dann gibt es andere Notizen, da wäre ich durchaus neugierig, was da wohl tatsächlich der Fall war. Manche Texte, Retweets oder Fotos erinnern mich an das Quietschen der Autoreifen, wenn der Wagen in der Kurve schleudert. Interessanter als das grelle Geräusch allein wäre doch, was aus dem Auto und seinem Fahrer wurde, und natürlich, warum er überhaupt ins Schleudern geriet.


Wie stiehlt man die Bahnhofsuhr? Im hellen Tageslicht, einfach mit der Leiter selbstbewusst den Bahnsteig betreten und hinaufsteigen. Wie versteckt man seine wahre Absicht? In der Öffentlichkeit, mitten vor den kalten Augen dieser Zeit!  (Notiz: Wir sind hektisch aufgeregt und zugleich tödlich gelangweilt, latent panisch und doch unerklärt apathisch – wir sind Dazwischenwesen.)

Wir verstecken uns vor uns selbst, und wir tun es, wie man die Bahnhofsuhr klaut, nämlich in aller Öffentlichkeit (und, nur zur Sicherheit, drehen wir die verzerrenden und dabei ein klein wenig aufhübschenden Filter kräftig hoch). Wir verstecken uns bald so geschickt, dass wir uns selbst nicht mehr finden können.


Es bräuchte mehr schriftliche Privatsphäre. Mehr Geheimnisse – aber eben schriftlich. Das eigene Schreiben ist das beste Werkzeug, das die Menschheit bislang zwecks Ordnung der eigenen Gedanken (und Gefühle!) entwickelt hat.

Jeder von uns kann sich so seine eigenen Gedanken machen, besonders im Geheimen, doch ob die eigenen Gedanken auch nur theoretisch einen Sinn ergeben, das prüfen wir, indem wir sie aufschreiben – und indem wir unsere eigenen Gedanken aufschreiben und so beobachten, können wir gar nicht anders, als sie zu ordnen zu beginnen.

Wir könnten ja die guten alten Tagebücher mit Schlössern neu entdecken. Einige von Ihnen, liebe Leser, werden spätestens an dieser Stelle einwenden, dass Sie kein »Wiederentdecken« brauchen, da Sie seit langer Zeit und weiterhin treu ein Tagebuch führen, und das macht mich froh!


Einst hatten bildungsnahe Mädchen aus Bildungshaushalten rosafarbene Tagebücher auf dem Nachttisch liegen, mit einem kleinen Messingschloss dran, und des Abends schrieben sie fleißig ihre Seelchen darin auf (damit der freche Bruder die privaten Büchlein heimlich entdecken, die Schlösser knacken und die Geheimnisse lesen kann). Papier hat den Vorteil, dass man beim Schreiben nicht ständig vom Internet abgelenkt wird, dass keiner es aus der Ferne »hacken« kann, dass es nicht »abstürzt«.

Die privatesten Gedanken aufzuschreiben hat natürlich auch ganz eigene Nachteile, etwa dass ein ledergebundener Papierstapel nicht in die Hosentasche passt, dass ein vollgeschriebenes Buch von Familienmitgliedern und anderen Schnüffelnasen entdeckt werden oder gleich ganz verloren gehen kann, ohne Backup im Internet.

Jedoch, die praktischen Fragen sind nachlaufend, sind Details. Die grundsätzliche Frage lautet hier noch und erstmal: Bin ich bereit, offen zumindest zu mir selbst zu sein? Bin ich überhaupt zur Offenheit fähig? Und dann, falls ich offen sein will, und nachdem ich meinen Willen zur Offenheit kundgetan habe: Habe ich (noch?) genug Energie, es praktisch durchzuziehen?


Nicht ganz offen zu sein zu den Mitmenschen, das kann Höflichkeit oder Vorsicht sein. Nicht offen sein zu sich selbst aber, das ist stets eine Lüge.

Wenn ein Mitmensch mich fragt, wie es mir geht, und ich erwähne die eine oder andere Sorge nicht, dann ist das Rücksichtnahme. Wenn ich allerdings einem Arzt verschweige, was mich zwickt und zwackt, dann belüge ich den Arzt – und ich schade mir selbst.

Sollte ich nicht mein eigener Arzt sein wollen, in Angelegenheiten meiner Seele, meiner Wichtigkeit? Sollte ich also nicht zu mir selbst ehrlich sein, wahrhaftig und offen? Und wäre es nicht produktiver, wenn ich meine Gedanken nicht nur gestehe, sondern gleich auch ordne?


Ja, ordne deine Gedanken, Denkender. Nimm Zettel und Papier, oder nimm dein elektronisches Piepsding, drücke deine Gedanken als Keilschrift in den weichen Lehm, und brenne die Tafeln für deine Nachfahren, oder schreibe es mit Quantencomputern in die Blockchain.

Ordne deine Gedanken, und sei offen zu dir selbst, und fürs Erste verschließe deine Gedanken vor der Welt, um sie nicht vor dir selbst verschließen zu müssen.

Manche Angelegenheiten müssen verschlossen und weggeschlossen werden, und nur so können wir wirklich offen sein.

Weiterschreiben, Wegner!

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