Ich weiß nicht, ob Sie es wussten, aber ich putze meine Zähne, wasche mich und ziehe eine Hose über meinen Hintern, bevor ich aus dem Haus gehe. (Ich habe gehört, dass manche Leute sich sogar jeden Tag rasieren, etwa im Gesicht, aber wir wollen mal nicht übertreiben – wer hat die Zeit?)
Die allermeisten Menschen, die Sie draußen auf der Straße treffen, haben einen Hintern in der Hose (längst nicht alle auch im metaphorischen Sinne). Und doch, von Einzelfällen abgesehen, zeigen die Menschen ihren Hintern nicht öffentlich (außer etwa im Rahmen gewisser Moden und sonniger Strandsituationen).
Warum aber ziehen wir eine Hose an? Natürlich, weil es sonst unangenehm windig würde, untenherum. Vor allem aber ist es eine Kombination aus Scham und Sitte, die uns eine Hose anziehen lässt.
Seit wir aus dem Paradies auszogen, wollen wir unsere Scham verdecken. (Wann kam eigentlich der erste Designer auf die Idee, unsere Feigenblätter mit seinem Markenlogo zu versehen und also für einen schamlosen Aufpreis zu verkaufen?)
Wir alle haben jene Teile, die man nicht den anderen Mitmenschen zeigt, außer vielleicht in Momenten der Erregung (oder natürlich in Momenten der Peinlichkeit, beim Arzt). Wir alle haben also jene Teile, die wir nicht für gewöhnlich anderen Menschen zeigen, und wir wissen, dass jeder einzelne unserer Mitmenschen diese Teile hat, doch außer wenn man vielleicht einer dieser schmierigen Leute aus dem Hollywood-US-Democrats-Dunstkreis ist, denkt man ja nicht immerzu daran, dass alle anderen unter ihrer Kleidung nackt sind.
»Inakzeptabel!«
Am letzten Samstag wurde in Berlin gegen die Regierung demonstriert, konkret gegen die sogenannten Corona-Maßnahmen – und nebenbei, mindestens implizit, gegen den politmedialen Komplex. Die Politik ist noch Tage in die folgende Woche hinein beleidigt, dass man ihr zu vielen Tausenden zu widersprechen wagt. Angeblich sei die »Missachtung der Hygieneregeln« »inakzeptabel« (welt.de, 4.8.2020), und man hört Forderungen nach einem »harten Durchgreifen«. Im Essay »Nuhr, Corona-Demos und die Einheitsfarbe« erwähnte ich diese merkwürdige Heuchelei, dass teils durch exakt dieselben Politiker die sogenannten »Anti-Rassismus«-Aufmärsche laut und begeistert begrüßt wurden. Wie nennt man solche Unverfrorenheit? Es geht ja weit über fast-schon-gewöhnliche Doppelmoral hinaus!
Sozialisten in den Bundestag!
Wo wir über Unverfrorenheit reden: Kevin Kühnert von der SPD kündigt an, den Schritt vom sozialistischen Vorsitzenden der Jungsozialisten zum vollversorgten Bundestagsabgeordneten zu unternehmen – und seine Chancen in der von aller Scham befreiten Rent-a-Sozi-Partei stehen wohl gut (vergleiche spiegel.de, 3.8.2020). Was qualifiziert Herrn Kühnert zum Sprecher der Arbeiter, zum Mitbestimmer über Gesetze und das Schicksal der Bundesrepublik? Seine Kurz-Biographie, laut Wikipedia: Klagte sich sein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ein, brach ab. Arbeitete im Callcenter und dann in zwei Abgeordnetenbüros. Nahm Studium der Politikwissenschaft auf – nicht abgeschlossen. Derzeit Juso-Chef, demnächst wohl als Politik-Bonze in Berlin, vollversorgt mit Angestellten, auf Kosten der Bürger, die wirklich arbeiten. Wie soll man solche Unverschämtheit nennen? Es geht ja bald über die heute fast-schon-gewöhnliche Dreistheit hinaus!
Pendlerpauschale zur Bankenaufsicht
Die eine Partei aber, die für die vollständige Trennung von Wort und Realität steht (und damit auch für die Trennung von Anspruch und Tat), sind natürlich die Grünen – und für die steht derzeit natürlich unter anderem der Kinderbuchautor Robert Habeck. Herr Habecks erste (und wohl auch ausreichende) Qualifikation zur Politik ist, dass Berliner Journalistinnen in seiner Präsenz ganz wuschig zu werden scheinen – die übrigen Qualifikationen sind eher, äh, spannend. Als Politiker sollte man in der Lage sein, auch im Stress seine Emotionen im Griff zu haben und stets Demokrat zu bleiben – Anfang 2019 meldete sich Habeck von Twitter ab (n-tv.de, 7.9.2019), weil er sich zu einigen unflätigen und offen anti-demokratischen Bemerkungen hatte hinreißen lassen – sprich: seine Gefühle nicht im Griff hatte und Undemokratisches durch die demokratische Fassade durchzubrechen schien.
Auf jeden Fall sollte man sich als Politiker zu seinen Kernthemen gut auskennen – als Habeck am 22.9.2019 vom Staatsfunk wieder mal eine Vorlage zur Selbstpräsentation bekam, diesmal zur Verkehrspolitik, bewies er grobe Unkenntnis über die von ihm zu bester Sendezeit kritisierte Pendlerpauschale (welt.de, 23.9.2019), fast also ob er sich noch nie über Arbeit, Arbeitswege und Steuererklärungen auch nur einen Gedanken gemacht hätte.
Natürlich können und müssen Politiker sich gelegentlich auch zu Themen außerhalb ihres Kernbereichs äußern, und dafür haben sie einen Mitarbeiterstab, der ihnen zuarbeitet (und hoffentlich nach Kompetenz und nicht nur nach »Sachzwängen« eingestellt wurde). Habeck wurde, warum auch immer, zum Thema »Wirecard« und »Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin)« interviewt, und natürlich hatte er im selbstbewussten Tonfall des Journalistinnen-Lieblings harsche Kritik anzubringen: »Die BaFin ist vielleicht gut darin, mittelständischen Unternehmen nachzuweisen, dass Handwerkerrechnungen falsch eingebucht wurden. Aber sie ist schlecht darin, internationale Finanzakteure zu kontrollieren. Das muss sich schleunigst ändern.« (t-online.de, 31.7.2020)
Nein, die Bankenaufsicht kontrolliert nicht Handwerkerrechnungen. – Es sagt etwas über die Qualität heutiger Journalisten aus, dass an der Stelle nicht nachgehakt wurde. Und: Die allermeisten deutschen Politiker-Interviews werden heute von der Pressestelle der Prominenten gegengelesen – was würde es über Habecks Personalkompetenz aussagen, dass niemand seiner Leute diesen Unsinn bemerkte, falls sie es lesen?
Frank Schäffler von der FDP formuliert über Habecks fachliche Ausführungen: »Nichts wissen, nichts verstehen, alles sagen.« (@f_schaeffler, 1.8.2020)
Man könnte es auch seufzend fragen: Wie sollte man dieses Selbstbewusstsein nennen, von wenig eine Ahnung zu haben, zu allem eine laute Meinung, und derart mit Rückendeckung von Staatsfunk und Haltungsmedien zur ernstzunehmenden Politikfigur aufgebaut zu werden? Was für Substantive und Adjektive sollen wir bei der Beschreibung eines solchen Systems wählen?
So weit wäre es so bekannt
In meinem Buch »Talking Points« beschrieb ich den politrethorischen Trick »Heiliger Widerspruch«. Gemeint ist: Priester wie Politiker können gelegentlich eindeutig widersprüchliche Dinge behaupten, und wenn sie es mit großem Pathos tun (und dazu die Presse ihnen wohlgesonnen ist), geht das als »heiliger Widerspruch« durch.
Gläubige Menschen akzeptieren es als »heiligen Widerspruch«, dass Gott »allgütig« ist – aber kleinen Kindern mal eben Krebs zuteilt. Grüne Wähler und die sie einpeitschenden Journalisten akzeptieren es als »heiligen Widerspruch«, dass – etwa beim Bau von Vogelhäckslern – im Namen des Umweltschutzes die Umwelt zerstört und die Lebensqualität der Menschen beeinträchtigt wird (siehe auch »Windkraft ist Gewalt«). Der Priester wie auch der zuerst an Gefühle appellierende Politiker kann sagen: »Das erscheint dir nur als Widerspruch – ich aber habe höhere Einsicht, also nimm es so hin.« (Deshalb ficht es Linke und Linksgrüne wenig an, wenn wir die Lügen und Widersprüche in ihrem Denken und Handeln aufweisen – für sie sind das allesamt »heilige Widersprüche«, und dass wir darauf hinweisen, zeigt in deren Augen nur auf, dass wir »Ungläubige«/»Populisten«/»Heiden«/»Kuffar«/»Nazis« et cetera sind.)
So weit wäre es so bekannt, doch in mir wächst zunehmend der Verdacht, dass uns eine Kategorie rhetorischer Effekte fehlt, welche durch eine buchstäblich schamlose Kombination von offener Heuchelei und »heiligem Widerspruch« entsteht. Ich will es, als Arbeitstitel, »Immunität durch Schamlosigkeit« nennen.
Politiker, welche dieselbe Tätigkeit, nämlich das Demonstrieren, mal in den Himmel loben, mal übelst angreifen und am liebsten ganz verbieten würden, je nach der politischen Nützlichkeit für ihre Anliegen, haben längst den »heiligen Widerspruch« hinter sich gelassen, und sie betreten das Terrain der »Immunität durch Schamlosigkeit« – sie wissen, dass die Kohärenz ihrer Forderungen längst nicht mehr öffentlich beurteilt und bewertet wird. Parteien, welche Politiker ohne nennenswerte Lebensleistung, ja sogar ohne Ausbildung oder Studienabschluss, zur steuerfinanzierten Vollversorgung heben, sie genießen »Immunität durch Schamlosigkeit«, denn sie wissen, dass sie damit in der Erregungsrepublik durchkommen werden. Ein Habeck, der beliebigen Bullshit erzählen kann, und Journalist(innen) werden weiterhin tun, als ob er ein ernstzunehmender Politiker wäre – er suhlt sich, wie der Rest seiner Partei, geradezu in der »Immunität durch Schamlosigkeit«.
Gegen alle Anwürfe
Die Scham ist dem Menschen als eine Art innere Bremskraft angeboren, als ein begrenzendes Prinzip, und die Erziehung formt unsere Scham auf diese oder jene Sittenordnung hin. Fast jeder Mensch kennt die Scham, und jeder Mensch wird von seiner Scham gebremst (bis auf einige Politiker und viele Journalisten).
In der Bibel entdeckt der Mensch die Scham, kurz bevor er aufgrund seiner Grenzüberschreitung aus dem Paradies vertrieben wird (3. Mose 7a: »Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren«).
Es ist geradezu biblisch korrekt und kohärent, wenn Politiker und Journalisten die »Immunität durch Schamlosigkeit« betreiben – was uns als eine sich auflösende Demokratie in Panik versetzt, ist für diese Leute ein Paradies. Wer einmal als einer der »Guten« gilt und im »richtigen« Club ist, der kann Beliebiges tun (nicht selten exakt das, was er der Opposition und ungeliebten Abweichlern vorwirft), doch seine politisch korrekte Schamlosigkeit verleiht ihm Immunität gegen alle Anwürfe, seien sie sachlicher, logischer oder ethischer Art.
Wofür Politiker einst ausgelacht oder sogar zum Rücktritt bewegt worden wären, das tragen sie heute mal stolz, mal gleichgültig vor sich her.
Es reimt sich nicht so schön wie »ruiniert« und »ungeniert«, doch die neue Lebensregel der Politiker und Journalisten ist: »Ist die Scham erst abgestorben, wird man gegen alle Kritik immun.«
Vollständige Schamlosigkeit
Schamlosigkeit verleiht Macht, zumindest eine Zeit lang.
Es soll ja gelegentlich passieren, dass ein Mensch sich in der Öffentlichkeit entblößt und so umherstolziert. Wie aber reagieren die Menschen auf so eine Szene? Die meisten Menschen bekommen es ob solcher Schamlosigkeit mit der Angst zu tun.
Die neuen Schamlosen von Berlin sind wie jene Extrem-Exhibitionisten, die mit heraushängendem Dödel durch die Einkaufsstraße stolzieren, und sich am Schrecken der Menschen erfreuen. Wie willst du jemanden beschämen, der keine Scham kennt? Vollständige Schamlosigkeit verleiht Immunität – und doch ist sie ein Virus, der Menschen und Nationen von innen her zerstören kann.
Wir werden die Schamlosen nicht zum Schamgefühl bekehren. Wie sollte man einem Menschen das Schamgefühl einpflanzen, das er sich selbst herausgerissen hat? Wie willst du einen Menschen von der Scham überzeugen, wenn seine Schamlosigkeit ihm Macht und Wohlstand verleiht?
Wir werden den Schamlosen von Berlin kein Schamgefühl einpflanzen, so wenig wie wir den Toten auf dem Friedhof neues Leben einhauchen können. (Manche von uns hoffen, dass höhere Macht das eine und/oder das andere bewerkstelligen kann, und würde gewiss darin widersprechen, dass es eine schöne Hoffnung wäre.)
Nein, wir werden die Schamlosen nicht zum Schamgefühl bekehren, zu reich ist der Lohn der Schamlosigkeit, zu bitter die Strafe, die den Abtrünnigen droht. Umso mehr gilt es für uns, darauf zu achten, dass wir uns selbst nicht das Schamgefühl nehmen lassen.
Wir sehen nach Berlin, und bei aller Sorge um die Zukunft wird es vom sarkastischen Bonmot zur dringenden Weisheit-des-Tages: Werdet nicht wie jene, die kein Schamgefühl kennen! Bewahrt euer Schamgefühl, bewahrt euren Anstand und eure Achtung vor euch selbst.
Wir wissen nicht, wie die Welt in einigen Jahren aussehen wird, wir wissen nicht einmal, ob unser Land noch existieren wird, wenn diese Schamlosen mit ihm durch sind, doch über eines bin ich mir sicher: Wir wollen, schon heute, ein Leben leben, für das wir uns dereinst nicht schämen werden.