Lüge nicht! Gib es zu: Du hast auch schon einmal Reden gehalten – heimlich.
Du hast dir auch schon mal am inneren Pult die Papiere zurechtgelegt, die Stichpunkte zur Rede, die du halten würdest, wenn du am Pult des Bundestags stündest. Wenn du im Sessel bei Markus Lanz säßest.
Wenn du der König von Deutschland wärst. Ach was, warum so bescheiden: der Kaiser von Europa! Ja, was du – Manntje, Manntje, Timpe Te – als Papst reden wirst, dem Petersplatz ins Gewissen.
Memento Mori, so hauchst du dir selbst in den Nacken – bedenke, dass du dümmlich bist. Du weißt so manches, dies und das, also: nicht alles. Das aber, worauf es ankommt, das weißt du eben doch. Du hast es lernen müssen. Die harte Universität des Lebens, die mit so schrecklich dummem Grinsen abgetan wird von jenen, die nichts außer Wissen wissen – und so eigentlich gar nichts wissen.
Soll beginnen und enden
Halte sie doch jetzt gleich, in Gedanken oder laut vorm Spiegel, deine große Rede.
Wie lang ist deine Rede? Wie breit und wie tief?
Was ist die These deiner Rede, was ist der Anfang und wo das Ziel?
Meine Rede, wenn ich hier ein Beispiel vorlegen darf, soll besagen, soll beginnen und enden: Ich bin die Gegenthese.
Nein, nicht ich sage die Gegenthese, sondern ich bin die Gegenthese.
Ich sage auch nicht: »Ich bin die Antithese«, denn das wäre ein bloßes Gegenargument. Ich sage: Ich bin die Gegenthese – ein anderer Mensch, eine andere Art zu leben.
Kann man eine Gegenthese sein, so fragst du, und ich frage zurück: Was ist das Gegenstück zur Gegenthese?
Um dich her, diese Leute, sie sind die These. Zu viele von denen sind die These.
Wer ein Warum
Die These, dass die Menschen alles hinnehmen werden, wenn ihnen nur die Autoritäten dafür den Kopf tätscheln. »Who has a Why can endure any what\«, so versichern moderne Weisheitslehrer.
Auf Deutsch: Wer ein Warum hat, kann jedes Was ertragen. Und das ist wahr! Doch für zu viele Menschen genügt als Warum: »Weil ich von den Autoritäten hören will, und sei es indirekt ex negativo oder sehr allgemein in öffentlicher Ansprache, dass mein Leben, als These gelesen, richtig und durchs öffentliche Lob bewiesen ist.«
Diese Leute sind die These, dass Menschen alles glauben werden, dass ein Mensch lieber mit der Masse über den Rand der Klippe läuft, als umzukehren, der Lemmingherde trotzig ins Gesicht zu sehen und Nein zu sagen. (Deshalb, damit es die Entgegenkommenden lesen, steht es beim neuen T-Shirt auf der Brust: Ich bin die Gegenthese.)
Meine lieben Freunde Gegenthesen, euch werden gewiss genug konkrete Dimensionen einfallen, bezüglich derer ihr die Gegenthese seid.
In Funk und Fernsehen
Ich hörte vor ein paar Jahren – ist es schon so lange her? –, dass einige Mitmenschen sich selbst zur Kontrollgruppe erklärten. Gegenthese zur These der »Experten« in Funk und Fernsehen. Und jedem anderen war man dann gerechtfertigt zu sagen (und ist es noch immer, in mehr als einer Hinsicht): »Du bist Teil dieses Experiments.«
Noch ein Beispiel, aus dem Gebiet der trotz wiederholter Todesanzeigen immer noch lebendigen Religion: Fragt man einen Menschen, was und wer er ist, wird er meist seinen Namen nennen und dann wohl seine berufliche Tätigkeit. Darin ist die These impliziert, dass ich der Inhalt ebendieser Aussagen bin. Ein Christ etwa könnte auf die Was-Frage antworten: Ich bin Christ! (Das impliziert, dass ich geschaffen bin, als solcher wertvoll, dazu erlöst und als solcher frei und so weiter. Es wäre aber auch ein durchaus spannender Fall des Zusammenfallens von Warum und Was, was wohl den Reiz gerade abrahamitischer Religionen ausmacht, insofern sich die Gläubigen selbst ernst nehmen.)
Ach, so viele Möglichkeiten bieten sich, die Gegenthese zu sein. Sei die Gegenthese zum täglichen Geschrei. Sei die Gegenthese zur These »Jogginghose im Alltag«. Sei die Gegenthese zur These »YouTube ist so gut wie lesen«. Die Gegenthese zu Sola Scriptura und Egomanie, zur Hässlichkeit und zur Kälte des Herzens.
Wahrlich nicht sicher
Wenn du an einem biblischen Beispiel studieren willst, was es bedeutet, die Gegenthese zu sein, öffne deine Online-Bibel und lies im Alten Testament das Buch Daniel, Kapitel 3.
Der König Nebukadnezar lässt ein goldenes Standbild errichten (»sechzig Ellen hoch und sechs Ellen breit«) und befiehlt all seinen Untertanen, sich vor dem Standbild niederzuwerfen und es anzubeten. Wer sich weigert, soll in einen glühenden Feuerofen geworfen werden.
Drei Judäer, namentlich Schadrach, Meschach und Abed-Nego, verweigern sich und bleiben aufrecht stehen. Entsprechend werden sie in den Feuerofen geworfen.
(Es ist spektakulär: »Die Knechte des Königs, die die drei Männer in den Ofen geworfen hatten, hörten nicht auf, den Ofen mit Harz und Werg, Pech und Reisig zu heizen« und so weiter. Heftige Sache!)
Doch die drei Männer verbrennen einfach nicht! Als wäre die Sache nicht peinlich genug, sieht Nebukadnezar zu seinem Schrecken plötzlich vier Männer im Ofen umhergehen: »Sie sind unversehrt und der vierte sieht aus wie ein Göttersohn.«
Die drei Männer im Ofen konnten sich wahrlich nicht sicher sein, dass sie gerettet würden. Aller Erfahrung nach erwartete sie der sichere Tod, wie so viele Märtyrer vor ihnen. Doch sie fürchteten die Flammen des eigenen Gewissens mehr als die Flammen Nebukadnezars.
Genug aber mit jener Story für jetzt, lest selbst nach! Denn in diesem Essay will ich mir (und als Angebot: dir) diesen einen Punkt einprägen, einhämmern, wie der Wert der Währung dem Metall aufgeprägt und eingehämmert wird: Habe den Mut, wenn du tief in dir die Notwendigkeit spürst, die Gegenthese zu sein.
Solche Konsequenz
In einer Welt, in der wir von Thesen umgeben sind, die so gleichförmig wie falsch sind, sollen mein und dein Leben die Gegenthese sein.
Das aber, liebe Freunde und Weggefährten, soll heute meine ganze Rede sein: Ich bin die Gegenthese! (Und wenn du die Gegenthese zu mir bist, dann feiere ich solche Konsequenz!)