Dushan-Wegner

04.07.2021

Surreale Szenen, am Zensor vorbei

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Ellena McGuinness
Was heute zur Wahrheit erklärt wird, ist immer wieder blanke Lüge. Wer aber eine Wahrheit vorm Zensor schützen will, der könnte ja seine Wahrheit wie eine Lüge klingen lassen. Die Realität selbst wirkt doch heute wie ein verrücktes Märchen!
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Wer gern Filme schaut, wer sich gar »Filmkenner« nennt, der hat Wes Anderson und dessen Lebenswerk zu verehren, so sagt es das Filmkennergesetz. (Einige Filmtitel dieses Filmemachers: »The Royal Tenenbaums«, »The Life Aquatic with Steve Zissou«, »The Grand Budapest Hotel«). (Tipp: Bei YouTube finden Sie eine sehenswerte, englischsprachige Erklärung und Dokumentation zum Wes-Anderson-Gefühl.)

Andersons Filme sind von einer melancholischen und hyperästhetischen Stimmung geprägt. Jede Szene ist wie ein belebtes Gemälde komponiert. Jedes Bild zelebriert seine Farben, oft Pastell, stets geordnete Flächen. Viele Erinnerungen an Kindheit – stellvertretende Symbole. Das Kleine wird groß, und das Große wird seufzend hingenommen. Selbst in hektischen Szenen herrscht eine luxuriöse Ruhe. Eine Sache wird nach der anderen erzählt.

Wenn man genug Wes-Anderson-Filme gesehen hat, und wenn man für so etwas sensibel ist, dann erlernt das Auge den Wes-Anderson-Blick auf die Welt. Wer es je selbst erlebt hat, der weiß was ich meine, wenn ich von »Wes-Anderson-Momenten« rede.

Eine Brise hielt die Luft frisch

Ach, früher konnte man so viel einfacher verreisen. Ich erinnere mich an einen Tag am Pool. Sommer, fernes Land. Einer jener Tage, von denen man weiß, dass sie gezählt sind. In ein paar Tagen fliegt der Flieger, und dann ist alles wieder anders.

Es war warm, aber nicht heiß. Eine Brise hielt die Luft frisch und bewegte die Palmenblätter. Das Licht tanzte in den friedlichen Wellen des blauen Beckens.

Es musste früh am Badetag gewesen sein, noch bevor die vielen Leute kommen würden. Ich hörte das leise Rauschen des Windes, dazu das Plätschern des Überlaufs.

Ich erinnere mich an eine Dame mittleren Alters. Auf ihrem Bikini waren Blumen aufgedruckt. Die Dame lag auf einer Badeliege. Ihr Strandhandtuch war mit Blumen verziert. Mit der rechten Hand schützte sie ihre Augen vor der Sonne. Mit der linken Hand hielt sie einen Roman, auf dessen Einband prangten ebenfalls Blumen. Ich vermute, dass die Dame eine Vorliebe für Blumenmuster pflegte.

Die übrigen Badeliegen am Pool waren leer. Bald würden sie sich füllen, aber in diesem Moment waren sie leer. Es war ein filmischer Augenblick, und um die Szene abzurunden, erklang eine spanische Gitarre. Jemand spielte Melodien und Akkorde, ruhig, als ob auch er es gar nicht eilig hätte. Ich sah den Künstler nicht, er spielte wohl in einem der Gebäude, die meisten Türen und Fenster standen ja offen.

Mir fiel auf, dass alle Elemente der Szene jeweils eigene Farbflächen bildeten. Das Blau des Wassers. Das Weiß des breiten Beckenrandes. Die weiße Wand um die Liegebereiche. Das Schwarz der Schmucksteine um die dekorativen Pflanzen, und das fast künstlich glänzende Grün dieser Pflanzen. Wenn Wes Anderson eine Poolszene komponiert hätte, sie wäre so ähnlich gewesen.

In genug Abstand zur Dame, so dass sie diese nicht störten, saßen drei Mädchen auf blauen Handtüchern, und sie spielten Bingo. Ein Mädchen drehte eine Gitterkugel mit Zahlenbällen, und sie rief die Zahlen aus. Alle drei verglichen dann die Nummern mit ihrer Zahlenkarte. Wer gewann, sagte sachlich: »Bingo!« – Ich hatte davor und danach nie Kinder gesehen, die freiwillig Bingo spielten, und gewiss nicht mit voller Ausrüstung, am Rand eines Pools und in so großer Ernsthaftigkeit.

In wieder ähnlichem Abstand zu den Mädchen saß ein Junge auf dem Boden am Pool, der einen Hund streichelte. Er saß einfach nur da, streichelte einen Hund und ließ die Zeit vorbeistreichen. Sonst tat er nichts. Seine Eltern waren in der Nähe, aber nicht am Pool. Haben Sie jemals erlebt, dass ein Junge neben einem Pool auf dem Boden sitzt und in aller Seelenruhe einen lieben Hund krault, und beide es nirgends hin eilig haben? Ich bis dahin auch nicht.

Niemand schwamm in jenem Moment. Alle gingen »normalen« Urlaubstätigkeiten nach, zum Klang der fernen Gitarre. Es wirkte surreal, auch wenn nichts per se unerwartet war.

»Das ist ja wie in einem Wes-Anderson-Film!«, dachte ich bei mir, und dann: »Das heißt aber, dass die Filme nicht ›gelogen‹ sind! Anderson wählt ganz besondere Momente, und erzählt eben nur von diesen.«

Die Magie war dann plötzlich vorbei, als ein lieber Mensch sich näherte und mir eine kalte Cola-Dose in die Hand drückte. Er redete fröhlich auf mich ein. Just dann beschlossen die Bingo-Mädels, eine nach der anderen in den Pool zu springen. Eine Freundin der Dame im Blumenbikini gesellte sich zu ihr und sie redeten laut aufeinander los. Der Hund sprang auf und wollte die Erde in den Parkanlagen aufgraben. Prompt wurde er, wie es sich gehört, vom Verantwortlichen weggezogen. War ich aus einem kurzen Traum aufgewacht?

Wie eine Lüge

Dieser Essay soll ein kurzer Kommentar sein zur aktuellen Zensur-Situation in Deutschland. Leser berichten mir erschrocken davon, dass dieser oder jener schreibende Kollege plötzlich auf dieser oder jener Plattform zum Schweigen gebracht wird. Wer weiß, der weiß.

Im Jahr 2017, im Essay »In der Zukunft ist alles ironisch gemeint« zitierte ich (zum ersten Mal) den Satiriker Karl Kraus, wonach Satiren, die der Zensor versteht, mit Recht verboten werden.

Die Szene am Pool, wie real ist sie? In meiner Szene ist (mindestens) eine Wahrheit enthalten, und es ist jene, die mir genau in jenem Moment bewusst wurde: Wes Anderson lügt nicht – er beschreibt eine Welt, die es durchaus gibt, doch er schmückt es derart aus, dass es glatt wie eine Lüge klingt. Ein wunderschöne Lüge, wie buntes Geschenkpapier um eine sentimentale Wahrheit gewickelt. – Die Nachrichtenlage im Propagandastaat Deutschland ließe sich aber als das Gegenteil einer Wes-Anderson-Situation beschreiben: Manches, was als Wahrheit erzählt wird, ist bei näherem Betrachten gar keine, sondern – oh Schreck! – eine obszöne und gewissenlose Lüge!

Es ist wohltuend, dass es Mutige gibt, welche offen und geradeheraus sagen, was ihnen als die »wahrere« Wahrheit erscheint. Einige davon sind auf dushanwegner.com/freie-denker/ versammelt. (Hinweis: Die Website eines bekannten Kollegen musste ich temporär auslisten, weil er, Stand 4.7.2021, seinen Server umzieht. Sobald es wieder läuft bei ihm, wird er sogleich wieder verlinkt werden.)

Ich will meinen Respekt aussprechen, und dann doch versuchen, einen Schritt weiter zu denken. Die Zeit wird kommen, und auf gewisse Weise ist sie schon da, da wird alles, was wie Wahrheit klingt, wenn es nicht von »lizensierter« Quelle stammt, denen-da-oben (sowie ihren vielen willigen Helfern) als verdächtig und verboten erscheinen. Wehe dem, der ohne Lizenz etwas sagt, was wahr sein könnte! – Wie bereiten wir uns vor?

Die-da-oben erzählen Lügen, als ob es die Wahrheit wäre. Wir-hier-unten werden lernen müssen, die Wahrheit zu sagen, als ob wir Lügen sagten.

»es ohne Worte sagen«

Ich war auf angenehme Art schockiert, als ich feststellte, dass sie durchaus wahr sind, die Bilder, die Wes Anderson uns zeigt – er erzählt sie bloß, als wären sie gelogen. Ich will heute von ihm lernen (und dann will ich sanft meinen Lesern die Ohren in Richtung der Melodien zwischen den Zeilen drehen).

Die Dame am Pool im Blumenbikini, was sie wohl heute tut? Die Mädels am Pool, ob sie wohl jemals danach wieder Bingo gespielt haben? Vielleicht gehörte gar eines der Mädels zu der Dame, und sie spielte im Spiel die Lotterie nach, die ihre Mutter jede Woche ganz im Ernst spielt, immerzu in der Hoffnung auf den großen Gewinn. Vielleicht liegt jener Hund heute schnarchend in jemandes Arbeitszimmer, älter gewiss, doch genauso ruhig, und vielleicht ist der Hund das einzig Wahre an jener Geschichte.

»Maybe we could express ourselves more fully when we say it without words«, sagt Patricia im Wes-Anderson-Film »The Darjeeling Limited«; zu Deutsch etwa: »Vielleicht können wir uns vollkommener ausdrücken, wenn wir es ohne Worte sagen.«

Ich stimme Patricia wie auch Anderson zu. Wenn die Lügen wie Wahrheit klingen, und also die Wahrheit wie eine Lüge klingen muss, könnte es eine gute Idee sein, ohne Worte zu reden. Nach eintausendzweihundertneunundsechzig Wörtern und Wortkombinationen sei ab jetzt also wieder geschwiegen – bis morgen.

Weiterschreiben, Wegner!

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