Dushan-Wegner

26.03.2023

Toms täglicher Wahnsinn

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten
Wie weit kann Tom gehen, bis er auffliegt – oder bis wir alle Pech haben und die Welt in die Luft fliegt? (eine Geschichte)
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Tom schrieb. Tom schrieb für ein bis heute angesehenes politisches Magazin. Tom wurde pro Meldung und Zeile bezahlt.

Jede Meldung und jede Zeile bedeuteten Geld. Das Geld brauchte Tom, um den Schmerz der Langeweile mit den bewährten Mitteln zu bekämpfen.

Auf dem Welt-Wasser-Gipfel wurde beschlossen, einen Fonds für nachhaltige Wasserversorgung und Abwasserversorgung aufzulegen — 1 Meldung, 80 Zeilen: 1 Amerikaner … und mit Amerikaner meinte er natürlich eine Flasche aromatischen Bourbon.

Internationale Hilfstruppen werden beschuldigt, in Afrika die Hilfslieferungen geplündert und unter der Hand weiterverkauft zu haben – 1 Kurzmeldung, 10 Zeilen: ein Deutsches … und mit Deutsches meinte er offensichtlich ein hochwertiges deutsches Bier.

Ein Staatschef wurde bei Affäre mit Schauspielerin erwischt – weitere Kurzmeldung, weiteres Deutsches. Dann stellt sich allerdings heraus, dass diese eine außereuropäische Agentin ist — 3 Meldungen, 412 Zeilen: 1 hochwertiger Ire … und Ire müssen wir doch hoffentlich nicht erklären!

Dann aber unterlief Tom etwas, das den Lauf der Dinge gründlich verändern würde – womöglich nicht nur seiner Dinge.

Das erste Mal war es ein Fehler ohne Absicht. Tom waren zwei Meldungen durcheinander geraten.

In einer Meldung hatte er geschrieben, dass ein bekannter Wohltätigkeitsverband in einen Skandal um Schiedsrichterbestechung verwickelt war, und dass ein Sportverband gespendete Hubschrauber für Privatflüge des Vorstands nutzte.

Als Tom sein Fehler auffiel, war der Unsinn bereits publiziert, und Tom rechnete fest mit einem eigenen Skandal.

Es passierte – nichts.

Niemand merkte es.

Niemand beschwerte sich.

Las überhaupt irgendwer irgendetwas?

Von jetzt auf gleich hatte Tom wieder Interesse an seiner Arbeit.

Am nächsten Tag erfand Tom ganz absichtlich einen wilden Text.

Die CIA hatte, so schrieb Tom, erste Erfolge im Einsatz von Zeitreisen erzielt. So wolle man politische Gegner in der Vergangenheit bekämpfen.

Von einem Filmplakat inspiriert, fabulierte Tom dann: Der dänische Umweltminister zog nachts ein Superheldenkostüm an und verprügelte Umweltsünder.

Tom stellte fest: Auch absurde politische Meldungen klingen erstaunlich glaubwürdig, wenn man Dänemark als Urheberland behauptet.

Beide latent wahnsinnigen Texte wurden veröffentlicht und bezahlt – und sonst gab es keine nennenswerten Reaktionen.

Was bedeutete das?

Als Tom berichtete, dass UN-Diplomaten ab sofort internationale Konflikte durch Monopoly entscheiden wollten, schrieb lediglich ein Leser an die Redaktion, dass er diese Maßnahme begrüße, doch dass er lieber ein weniger am Kapitalismus orientiertes Spiel in dieser Funktion gesehen hätte.

Tom begann zu fürchten, dass auch dieser ausgedachte Wahnsinn langweilig werden könnte.

Die Dosis musste rauf.

Toms täglicher Wahnsinn wurde immer wahnsinniger.

Ein aus Südafrika stammender Milliardär, so phantasierte Tom, plante angeblich, erst den Mars und dann das umliegende Weltall zu besiedeln.

Ein reicher Computerunternehmer, so Toms wilde Story, kaufte seit Jahren in großem Stil amerikanisches Farmland auf, um die Produktion von Nahrungsmitteln zu kontrollieren.

Und als er einmal arg zu viel vom torfigen Schotten genossen hatte, lallte Tom in die Tasten, dass die Gesundheitsministerin der USA in Wahrheit ein als Frau verkleideter Mann war.

All diese wilden Geschichten kaufte man ihm ab.

Was sollte Tom denn noch tun?

Nachdem er mit halbem Bewusstsein zum wiederholten Mal einen alten James-Bond-Film schaute, wurde Tom von der Erzähllaune ergriffen, und er schrieb die wilde Meldung von der IBS, der Internationalen Bruderschaft der Schatten.

Hinter den Kulissen, so phantasierte Tom, arbeitete eine internationale Verschwörung mächtiger Leute, welche die Regierungen weltweit absetzen und ersetzen wollen, um eine neue Weltordnung zu etablieren.

Die IBS rekrutiere gezielt intellektuell und charakterlich schwache, und also leicht kontrollierbare politische Figuren. Man statte diese mit scheinbarer Macht und viel Luxus aus, doch es bleibe unzweideutig klar, dass diese Annehmlichkeiten auch mit einem Fingerschnippen wieder entzogen werden können.

Die Methoden der IBS seien allen anderen Versuchen, die Weltherrschaft zu erringen, dadurch überlegen, dass diese Verschwörer zwar viel von Moral sprechen, aber selbst keine Moral kennen, keine Werte und nicht einmal durch die Verbundenheit zu einem Staat oder einer Ideologie behindert würden.

Auch diese internationale Räuberpistole publizierte und bezahlte man ihm.

Doch dann geriet der erste Kieselstein ins Rollen.

Der Mumbai-Korrespondent des kanadischen Politikmagazin Diplomatic Turnip wurde quasi zum Patient Zero dieser Angelegenheit.

In einem Bericht über rätselhafte Vorgänge in Indien berichtete der Mumbai-Korrespondent im Ton eines Eingeweihten, dass diese Vorgänge offensichtlich mit der Internationalen Bruderschaft der Schatten zusammenhingen, von der er persönlich in Genf gehört habe.

Es war ein widerlich früher Dienstagmorgen, als Tom auf diese Meldung stieß. Er stellte seinen Kaffee zur Seite. Er erwog, an diesem Tag schon früher auf härtere Getränke umzusteigen. Doch zunächst rief er in der Redaktion an und meldete sich für den Tag ab. Er brauchte eine Pause.

Am nächsten Morgen klagte ein Kommentar in der australischen Publikation The Quantum Quokka, die neuesten Kürzungen bei Forschungsgeldern seien laut anonymen Quellen auf eine veränderte Interessenlage der IBS zurückzuführen. Die Schattenbrüder kontrollierten, seit einem Jahrhundert schon, was geforscht werde und was nicht.

Tom hoffte, dass diese Absurdität im Sande verlaufen würde. Er musste etwas anderes einreichen. Vom Morgenbier inspiriert, griff er wieder auf Dänemark zurück. Tom phantasierte etwas von einer Bierpartei, welche in Dänemark angeblich seit einigen Jahren nun in der Politik mitmische. Es ist schier unglaublich, was die Leute alles glauben, wenn es nur in einem seriösen Layout daherkommt.

So einfach würde Tom aber nicht die Geschichte mit seiner Internationalen Bruderschaft des Schattens hinter sich lassen.

Es war eine Behandlung des IBS aus metaphysischer Sicht in der kalifornischen Philosophie-Postille Postmodern Inquisitor, welche endlich die amerikanischen, russischen und chinesischen Geheimdienste (und aus ungeklärten Gründen auch den Vatikan und die monegassische Polizei) auf IBS aufmerksam werden ließ.

Sein Chefredakteur bestellte Tom zu sich in die Redaktionsräume – umgehend.

Tom rechnete sich aus, dass seine beste Strategie die Flucht nach vorn war. Er würde alles gestehen und dann irgendwie mit den Reaktionen umgehen.

Der Chef begrüßte ihn, doch bevor Tom etwas sagen konnte, winkte der Chef ab, und er sagte: »Ich habe hier Anfragen von einem Dutzend Geheimdiensten. Alle zu diesem IBS. Von der Hälfte dieser Dienste hatte ich bislang noch niemals gehört. Gute Arbeit, Tom!«

»Ich muss etwas …«, setzte Tom an, doch der Chef winkte erneut ab und sagte: »Wir brauchen mehr Details!«

»Mehr Details?«

»Wir brauchen mehr Details zu dieser, äh, Internationalen Bruderschaft der Schatten. Ein Hintergrund-Dossier. Geschichte und Bedeutung so. Mögliche diplomatische Implikationen. Du weißt schon.«

Tom erstarrte. Aber sein Chef sagte: »500 Zeilen, mindestens, gerne 1000« – und damit war das Gespräch beendet.

Tom litt nicht mehr an Langeweile.

Tom hatte Angst.

Was sollte er tun? Was konnte er tun? Nur weil der Gaul nicht existiert, heißt das nicht, dass du ihn nicht reiten kannst!

Tom schrieb über die IBS. Tom erfand deren Geschichte. Er deutete Orte an, an denen sie sich trafen. Er spekulierte über Geldquellen und politische Werkzeuge. Ian Fleming wäre stolz auf ihn gewesen, Baron von Münchhausen sowieso.

Toms täglicher Wahnsinn wurde erträglicher, als andere nationale und internationale Zeitungen über die IBS zu schreiben begannen. Und es lief ganz von selbst, als Politiker erste Statements abgaben.

Tom konnte nun Phantasie und Zitate vermengen. Diese Melange würden andere Schreiber aufgreifen, die er dann wieder zitieren konnte. Das Handwerk des Journalismus eben.

Nicht immer zitierten sie ihn korrekt. Manchmal stahlen schreibende Schurken auch seine Recherchen, ohne ihn zu nennen.

Das machte ihn schier rasend.

Er, Tom, hatte doch die IBS aufgedeckt.

Er riskierte sein Leben, um die Machenschaften der Schattenbrüder publik zu machen.

Diese Schmierfinken bestahlen ihn, ohne Anstand, ohne Ehre.

Tom wurde täglich angespannter, aus vielen Gründen.

Wenn ein Auto an ihm vorbeifuhr und langsamer wurde, fürchtete Tom, dass es Agenten der IBS waren. Wenn nachts ein Windstoß die Fensterläden rüttelte, war Tom sich sicher, dass die Bruderschaft nun seinem Treiben ein Ende bereiten würde. Ein Wunder, dass sie ihn so lange die Wahrheit hatten sagen lassen.

Es war ein Freitag, als er schließlich jene andere Meldung las, und diese Meldung wurde de facto gleichlautend von allen internationalen und nationalen Agenturen sowie den allermeisten großen Nachrichtenmedien kolportiert.

Die Sprecher vierer Weltmächte erklärten unisono, dass durch internationale Zusammenarbeit die Zerschlagung des IBS gelungen sei. Diese gefährliche Verschwörung stelle keine Gefahr mehr dar.

Tom fiel auf, dass in keinem der Berichte und in keinem Statement die Namen konkreter Personen genannt wurden. Es hätte ihn durchaus interessiert, wer die Köpfe des IBS waren.

Egal. Gut, dass man sie zerschlagen hatte. Das war doch die Hauptsache.

Tom atmete durch und ging in der Redaktion vorbei.

Er traf den Chef. Tom wollte vorfühlen, worüber er nun schreiben sollte.

Wieder ließ ihn der Chef gar nicht erst zu Wort kommen: »Diese Bruderschaft-Story ist durch. Gute Arbeit, Tom. Journalismuspreis sollte drin sein. Nächstes Thema.«

Tom musste ratlos dreingeschaut haben, denn der Chef erklärte: »Schreib doch solche Recherchen wie vorher.«

»Wie vorher?«

»Ja, wie vorher. Du weißt schon: interessant, aber etwas kleiner.«

»Ich verstehe«, sagte Tom.

»Guter Mann«, sagte der Chef, klopfte Tom auf die Schulter, und schon stand die nächste Angelegenheit an.

Ach, es war eigentlich gut, dass es vorbei war, dachte Tom. Schön, wenn die Regierungen zusammenarbeiten.

Er musste sich nicht mehr fürchten, wenn zufälligerweise ein dunkles Auto neben ihm verlangsamte.

Endlich konnte Tom wieder seinen ganz normalen täglichen Wahnsinn erfinden.

Als Tom die Redaktion verließ, sah er einen Obdachlosen, der mit einem Eimer hantierte. Der arme Verwirrte schimpfte über die Regierung und stülpte den Eimer zeitweilig über seinen Kopf.

Tom schrieb. Am nächsten Tag reichte Tom einen Text über einen »Lord Buckethead« ein, der angeblich in der britischen Politik mitmischte – 1 Meldung, 90 Zeilen: ein wahrer Schotte.

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