Dushan-Wegner

16.11.2022

Der Vogel(an)schlag

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Federico Burgalassi
Das Fenster einer Synagoge in Hannover zerbrach. Die Politik sprach von einem »Anschlag« und einem »Zeichen für den zunehmenden Antisemitismus«. Jetzt steht fest: Es war eine Taube. Vielleicht sollten wir kollektiv unsere »Narrativ-Automatismen« prüfen.
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Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, erklärte letzten Monat, die »jüdische Gemeinde in Deutschland« sei »schockiert über den Anschlag auf die Synagoge« »am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur« (zentralratderjuden.de, 6.10.2022).

Es sei ein »Zeichen für den wiedererstarkten Judenhass in Deutschland« und die Politik dürfe deshalb den »Kampf gegen Antisemitismus und Radikalismus« nicht vernachlässigen.

Ron Prosor, der israelische Botschafter in Deutschland, twitterte:

Wer einen Stein wirft, zögert auch nicht, eine Kugel abzufeuern. 3 Jahre nach Halle wurde in Hannover eine Synagoge angegriffen. Ich bin sicher, die Behörden werden die Täter schnell festnehmen. Juden müssen sich in Deutschland sicher fühlen, besonders in ihren Gotteshäusern. (@Ron_Prosor, 16.10.202e)

Was war passiert?

»Angriff in Hannover an Jom Kippur: Synagogen-Fenster eingeworfen« titelte taz.de, 6.10.2022, und man zitiert den Landesbischof der evangelischen Landeskirche Hannover: »Der Anschlag auf die Synagoge in Hannover gestern Abend entsetzt und beschämt mich zutiefst«.

Auch die CDU-Justizministerin von Niedersachsen sprach von einem »Angriff«, und dies sei »ein hässliches Zeichen für den zunehmenden Antisemitismus in unserem Land« (ndr.de, 7.10.2022).

»Unbekannter wirft Stein durch Fenster von Synagoge« titelte stuttgarter-zeitung.de, 6.10.2022. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) wurde zitiert, es sei »eine Schande für Deutschland, dass immer wieder Synagogen angegriffen werden«.

Immer wieder wird ein Bezug zum Anschlag von Halle im Jahr 2019 hergestellt (siehe Essay vom 9.10.2019: »Der Yom-Kippur-Anschlag von Halle«). Damals versuchten Politik und Presse recht offen, der AfD auf Biegen und Brechen die moralische Schuld am Anschlag zu geben – als Björn Höcke sich emotional bestürzt äußerte (@BjoernHoecke, 9.10.2019), wurde er genau dafür von »den Guten« angegriffen (siehe derwesten.de, 13.10.2019), denn »die Guten« entscheiden, wer bestürzt sein darf und wer nicht.

Was war eigentlich genau passiert, das so scharfe Worte rechtfertigte?

Man weiß es inzwischen, und ich schreibe gleich darüber. Jedoch, schauen wir uns die Worte an, die da schnell und laut in die Welt gebracht wurden!

»Antisemitismus und Radikalismus«

Herr Schuster ruft die Politik auf, im Kampf nicht nachzulassen; ein Kampf richtet sich eigentlich immer gegen eine Entität.

Herr Schuster mahnt die Politik zum Kampf gegen »Antisemitismus und Radikalismus« – was aber Ideen und politische Kategorien sind. Gegen Ideen und Konzepte lässt sich aber nicht wirklich kämpfen, nur gegen ihre Träger und deren Aktivitäten, also gegen die (manchmal mythischen) Verantwortlichen.

Herr Schuster nimmt das zerbrochene Fenster von Hannover zum Anlass, um die Regierung aufzufordern, den »Kampf« gegen »Radikalismus« fortzuführen – »radikal« ist aber eine Wortwahl, die er sonst zuverlässig gegen die AfD verwendet.

»Radikalismus« ohne weitere Spezifizierung bedeutet jedoch so viel wie »sehr« oder »wenig«, nämlich: nichts. Wer »Radikalismus« sagt, lässt etwas ungesagt, und was er ungesagt lässt, müssen wir aus seinen sonstigen Verlautbarungen schließen.

zeit.de, 17.11.2019 titelt: »Josef Schuster gibt AfD Mitschuld an wachsendem Antisemitismus«.

Schuster wird zitiert: »Die Verantwortung für die verschobenen roten Linien gebe ich vor allem einer Partei wie der AfD.«

Herr Schuster (und nicht nur er!) sieht laut den mir vorliegenden Meldungen in der zerbrochenen Scheibe sogleich einen Anschlag. Die von ihm vermutete Ursache beschreibt er aber in einer Sprache, die er sonst immer wieder im Kontext der ungeliebten Oppositionspartei verwendet.

Kürzlich wurde Herr Schuster bei augsburger-allgemeine.de, 13.10.2022 zitiert, er betrachte »den erneuten Aufwärtstrend der AfD, aber auch anderer radikaler Bewegungen« mit »großer Sorge«. Allein in diesem Artikel werden dreimal Varianten des Wortes »radikal« verwendet.

Und selbst wenn Herr Schuster doch über »radikale Muslime« spricht, dann überrascht es nicht, wenn er im selben Atemzug einen politischen »Rechtsruck« konstatiert. In faz.net, 28.5.2019 wird er zitiert »Der politische Rechtsruck und Bedrohungen durch radikalisierte Muslime machen uns allerdings große Sorgen« – es klingt, als ob politisch rechts zu sein und radikaler Islamist zu sein auf einer Stufe stehe.

Einer von den beiden also, radikale Muslime oder die ungeliebte Oppositionspartei, was politisch ja fast dasselbe ist, scheint wohl Schuld gewesen zu sein am »Anschlag« – oder?

Ich will verstehen

Ich bin recht sicher, dass Herr Schuster durchaus mitbekommt, was »einfache Juden« im deutschen Alltag erleben, wenn sie sich öffentlich als Juden zu erkennen geben. Es sind eher nicht AfD-Politiker, welche das Tragen einer Kippah in einigen von »Toleranz« und »Weltoffenheit« geplagten deutschen Stadtteilen lebensgefährlich werden lassen.

Wenn derselbe Herr Schuster aber über jene Gruppe spricht, in der sich nach Berichten schmerzlich Betroffener tatsächlich immer wieder offene Judenfeindlichkeit erleben lässt, klingt Schuster so freundlich, wie man sich wünschen würde, dass er über alle kritisierten Gruppen spräche.

»Mehr gegenseitiger Respekt« sei gefordert (domradio.de, 2.2.2021), so bittet er schon mal. Und wenn die Mitglieder jener Gruppe von ihren Geistlichen zur Gewalt gegen Juden aufgerufen werden, dann würde damit die eigene Religion »missbraucht«, klar. (Impliziert er damit, dass er jene Religion besser versteht als die so redenden Geistlichen und ihre Gläubigen?)

Und doch, wissen Sie was? Ich will Herrn Schuster gar nicht kritisieren – ich will ihn ehrlich verstehen.

Herr Schuster scheint mir täglich einen veritablen Balanceakt zu praktizieren, zwischen gesellschaftlicher Realität und politischer Notwendigkeit.

faz.net, 28.5.2019 etwa titelt: »Zentralrat der Juden besorgt über politischen Rechtsruck«, tatsächlich hat Schuster politisches Rechtssein im gleichen Satz neben radikalen Islam gesetzt. Jedoch, indem er das tat, hat er eben auch die Feststellung der Existenz eines radikalen und damit gefährlichen Islam in die Zeitung und in die Ohren der ihn hörenden Politiker eingebracht. Hätte er es denn anders auch hinbekommen? Ich weiß es nicht.

Zwei Realitäten

Kürzlich forderte ein Berliner Rabbiner, der selbst angegriffen worden war, man solle »Antisemitische Flüchtlinge notfalls aus Deutschland ausweisen« (focus.de, 12.10.2022).

Schuster selbst handelte sich 2015 einige Kritik aus der öffentlichen Debatte ein, als er öffentlich die Notwendigkeit einer Obergrenze für Flüchtlinge besprach. (welt.de, 23.11.2015: Josef Schuster: »Wir werden um Obergrenzen nicht herumkommen«.)

Inzwischen scheint Josef Schuster anders zu klingen. tagesschau.de, 23.5.2021 schrieb: »Zentralratspräsident Schuster warnt davor, die jüngsten antisemitischen Vorfälle mit Migration und der Flüchtlingskrise von 2016 in Verbindung zu bringen.«

Wo sieht Funktionär Schuster laut diesem Tagesschau-Text also aktuelle Antisemitismus-Herde? Wir lesen etwas über »Querdenker« und natürlich über die »Politiker der AfD«, denn der »gemeinsame Feind« sei »in diesen Kreisen« »schnell die Juden«.

Hmm. Haben Juden wirklich Angst, mit Kippah durch Berlin zu gehen, weil sie Leute fürchten, die ihren Körper nicht mRNA-Experimenten aussetzen wollen?

Frei nach Kant

Wenn ein junger Mann mit einem Messer durch die Einkaufsstraße läuft, dabei die Größe der von ihm präferierten Gottheit preist und auf Ungläubige einsticht, dann wird berichtet, das Motiv sei »unbekannt«. Später heißt es dann mitunter, der Täter habe an »psychischen Problemen« gelitten, Gewalt sei schlimm, »egal aus welcher Richtung«, und überhaupt sei jetzt ohnehin das Wichtigste, gegen »rechte Stimmungsmache« vorzugehen.

Wenn aber ein Fenster an einer Synagoge zu Bruch geht, dann weiß man gleich, dass es ein »Anschlag« und ein »Angriff« war – und man beschreibt es in einer Sprache, welche sonst verwendet wird, um die Opposition zu dämonisieren.

Extra naiv gefragt: Sollten wir nicht in unserer Kommunikation stets versuchen, die Realität so realistisch wie möglich zu beschreiben? Und sollte unsere Moral (frei nach Kant) nicht darum bemüht sein – auch unsere Debatten-Moral – stets für alle ähnlich gelagerten Fälle anwendbar zu sein?

Der Täter

Sechs Wochen später ist nun der »Täter« ausgemacht, dessen Tat ein Zeichen war für den »wiedererstarkten Judenhass in Deutschland«.

Laut Staatsanwaltschaft und Polizei in Hannover, nach einem Gutachten des kriminaltechnischen Instituts des Landeskriminalamts Niedersachsen, zusammen mit Gutachten des Bundeskriminalamts kann durch molekulargenetische Untersuchungen gesichert gesagt werden, dass eine Taube in die Scheibe geflogen war. (siehe etwa de.nachrichten.yahoo.com, 15.11.2022)

Auf der Website (zentralratderjuden.de, 6.10.2022/ Stand 16.11.2022) hat man die Meldung immerhin um den Hinweis ergänzt, dass es sich um »Vogelschlag« gehandelt habe. Es bleiben aber, so schreibt man, »die vielen Solidaritätsbekundungen aus der Zivilgesellschaft und der Politik«.

Auch die Korrektur bleibt nicht ohne impliziten Vorwurf an Deutschland, es sei »erfreulich«, dass sich zumindest dieses »Vorfall nicht in die zunehmenden antisemitischen Übergriffe der letzten Jahre« einreihe.

Jenseits der Schlagworte

Meine erste Lehre aus dem Anschlag von Hannover dreht sich nicht einmal primär um die an der Oberfläche verhandelten Themen wie Antisemitismus, nicht einmal um die in der Sprache codierte Verteufelung der Opposition oder das reflexhafte Nichtnennen einer gewissen Gruppe, die in jüngerer Vergangenheit tatsächlich durchs Stellen entsprechender Täter auffiel.

Die Reaktionen der Funktionäre auf den Vogel(an)schlag von Hannover deute ich zuerst als ein Musterbeispiel für die »automatischen Narrative« der deutschen Debatte.

Die öffentliche Debatte in Deutschland ist wie ein Vorrat aufgezogener Narrativ-Automatismen, die nur darauf warten, angeschubst zu werden, um gewisse vorab bekannten Aktionen auszuführen.

Manchmal verlieren die Narrativ-Automatismen von selbst ihren Schwung. Manchmal werden sie jäh gestoppt, etwa wenn sich herausstellt, dass es der »falsche« Täter war – oder dass es eine Taube war.

Im Fall des falschen oder gänzlichen fehlenden Täters wird – wenig überraschend – von der Presse kein Widerruf in gleicher Lautstärke gestartet. Und so bleibt bei manchem Bürger nur hängen, dass es »wieder einen Anschlag« gab, wie in Halle, also von einem Rechtsextremen, was laut so manchem Mainstream-Lautsprecher gleichbedeutend mit der Oppositionspartei AfD ist. Welcher Mainstream-Politiker oder -Journalist hätte ein Interesse daran, diesen Nachhall zu korrigieren?

20 in Budapest

Ich rege mich nicht (hierüber) auf, und ich bin auch nicht wütend – ich leide etwas an dieser Story, und ich will Ihnen gern den Grund sagen: Während die Funktionäre ihre Narrativ-Automatismen abspulen, finden ähnlich gelagerte Probleme durchaus und weiterhin statt.

Die Reailität ist ja: Wo »Toleranz« herrscht (sprich: Realitätsblindheit), da wird das Leben für Juden täglich gefährlicher – und da, wo es angeblich weniger »tolerant« zugeht, kann schon mal jüdisches Leben relativ frei weitergehen. (Zur Illustration: Studie um Studie zeigt, dass sich Juden in Ungarn messbar sicherer und freier fühlen. Allein in Budapest sind etwa 20 Synagogen in Betrieb und Juden bekennen sich öffentlich zum Judentum, siehe aktuell etwa theamericanconservative.com, 17.10.2022, aber auch jpost.com, 22.6.2022 und sogar fra.europa.eu: »Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU«.)

Während Politiker in Deutschland ihre Narrativ-Automatismen abspulen, sind ja ähnliche Gefahren tatsächlich in Deutschland sehr real – ein Teil der wahren Gründe aber, um einen ehemaligen Innenminister zu zitieren (welt.de, 18.11.2015), »würde die Bevölkerung verunsichern«.

Unsere Automatismen

Ich frage mich heute zu so manchem Thema, ob wir nicht vielleicht vor lauter scheppernden Narrativ-Ritualen von den eigentlichen Problemen abgelenkt werden. (Etwa: Was, wenn an der Klimasache doch etwas dran ist, die Klimaspinner es aber alles ins Lächerliche bis Terroristische ziehen?)

Wir täten alle gut daran, unsere kommunikativen Automatismen zu überprüfen. Ich mache Herrn Schuster wirklich keinen Vorwurf: Er versucht sein Bestes, seine Aufgabe (spontan von mir definiert: jüdisches Leben in Deutschland möglich zu machen) innerhalb der Realität des heutigen deutschen Diskurses zu erfüllen. – Es anders zu tun wäre womöglich weniger effektiv und damit sogar unverantwortlich!

Seine anklagende Reaktion ist tatsächlich auch in meiner Deutung eine Anklage, aber eine Anklage unserer deutschen Narrativ-Automatismen.

Wer bei »Anschlag auf Synagoge« an »Rechtsradikale« dachte (und die eine Oppositionspartei meinte), oder an »Islamisten«, lag diesmal in beiden Fällen falsch. Es war eine Taube. (Es gab zwar Nazi-Tauben, in der Geschichte und auch im Musical, doch diese hier war wohl tatsächlich nur ver(w)irrt.)

Es gibt schlimme Probleme in Deutschland, doch nicht immer sind es auch genau die Probleme, über welche Politiker sich öffentlich empören. Manchmal sind die wahren Probleme jene, über welche Politiker ganz und gar nicht gern reden – ja, von denen sie sogar ablenken.

Ich wünsche den Mitgliedern der Synagoge an der Haecklerstraße in Hannover alles denkbar Gute, und viele kommende ruhige Gottesdienste.

Uns allen aber wünsche ich die Ruhe und Muße, jedes neue Ereignis ehrlich und neu zu bewerten – und auch mal den Mut, zu sagen: »Ich weiß es nicht.«

Weiterschreiben, Wegner!

Ich danke Ihnen, denn nur durch Ihre Unterstützung ist es mir möglich, in diesen (bislang 1,723) Essays wichtige Themen zu vertiefen:

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