Die Schlange versprach dem Menschen, er werde sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist (Gen 3:5). Die Schlange hatte ihre Redekunst wohl auf der Journalistenschule gelernt, denn sie sagte die Wahrheit und doch log sie – durch Weglassen.
Alle Philosophie sei nur Fußnote zu Platon, so ermahnte mich letztens ein freundlicher Dr. phil., während ich ihm das Geld für meinen Kaffee zahlte. Ich sollte wohl einen Theologen fragen, was die Fußnoten zu den Versprechen der Schlange sind. (Vielleicht sollte ich besser einen Satanisten fragen, doch die hohe Politik liegt mir nicht.)
Zu den Details, welchen im journalistischen Urteil der Schlange wohl bloß regionale Bedeutung innewohnte, gehört zuerst das Wort »können«. (Natürlich nur, wenn man für diesen Essay davon ausgeht, dass die Schlange in solidem Lutherdeutsch zischte. Im Original steht wohl etwas anderes, doch es ist lange her, dass ich Hebraicum, Graecum und Latinum ablegte. Das war etwa ein halbes Jahrhundert nach dem D-Day. Deutschland hatte noch D-Mark, D-Zug und Hoffnung – heute haben wir mehr so D-Industrialisierung, D-Sillusion und Habeck.)
Die Schlange versprach, dass der Mensch wissen würde – wie Gott! –, was gut ist und was böse. Die Schlange vergaß ein wichtiges Wort, zumindest im Lutherdeutschen, und das Wort ist »können«. Präziser hätte es lauten müssen: Der Mensch wird wissen können, was gut und böse ist.
Der Mensch kann wissen, was gut und böse ist. Ein kursorisches Studium der Relevanten Strukturen etwa genügt, und du weißt, wie ethische Urteile entstehen.
Du kannst wissen, was gut und was böse ist, du kannst dein Gewissen prüfen und verfeinern – doch warum tun es so wenige?
Weil Denken mühsam ist, auch und gerade das Nachdenken über das eigene ethische Urteil. Es ist geradezu schmerzhaft.
Ethische Meinungen bilden sich tief in den Windungen der Seele, sammeln sich an und entweichen dann zum ungelegensten Zeitpunkt, alle Umstehenden irritierend. (Für den Maßstab: In Deutschland sind 1.721 Fachärzte verzeichnet, deren Spezialgebiet die Moral der Gedärme umfasst (praktischarzt.de, 26.08.2024). Aber bei etwa 270 philosophischen Lehrstühlen in Deutschland dürfte man die Zahl der Meta-Ethiker, also Meta-Spezialisten für ethische Blähungen, mit lediglich etwa 20 bis 50 ansetzen – und selbst unter dieser Handvoll ist vermutlich ein Teil »linksgrün«, also intellektuell nutzlos.)
Der Mensch kann seine ethischen Begriffe selbst analysieren – wenn er denn die Arbeit auf sich nimmt! Dass der Mensch dies nicht tut, (auch) das ist (auch ein) Symptom der seelischen Trägheit und selbstgewählten Unaufgeklärtheit. Der Mensch könnte (in dieser Hinsicht wie Gott sein), wenn er sich nur aufraffte.
Leider: Dass du etwas tun kannst, heißt noch nicht, dass du es auch tun wirst. (Erst recht nicht, wenn ein mächtiger Propaganda-Apparat dich davon abhalten will, selbst eigene ethische Urteile zu bilden.)
Heute aber, gemäß biblischer Zeitrechnung etwa 6029 Jahre später, schwant uns, dass die Anwendung ethischer Erkenntnis zwar wichtig und die Welt wohl wirklich eine friedlichere wäre, wenn die Menschen sich endlich ernsthaft ernsthafte Gedanken über ihre relevanten Strukturen machten; doch inzwischen erwächst eine weitere, aus innerer menschlicher Unzulänglichkeit herrührende Gefahr, und diese ließe sich, frei nach jener vielversprechenden Schlange, so formulieren: Ihr werdet eben Menschen sein, und nicht wissen, was echt ist und was fake.
Da steht nun also dieser Essayist, der arme Tor, und ist noch hilfloser als zuvor. Ich war bei naiv, und ich glaubte tatsächlich, dass wenn man die Menschen über die Mechanik ihrer ethischen Urteile aufklärte, sie ebendiese überprüfen und verbessern würden.
Ach, ich vermisse meine eigene kindliche Naivität von damals! Anders als bei den ethischen Urteilen, bezüglich derer der Mensch wissen kann, was gut ist und was böse – und vor allem: warum –, bricht ein neues Zeitalter an, in welchem der Mensch eben nicht mehr wissen kann, was echt ist und was fake.
Das Zeitalter des großen Fakes bricht nicht an, es ist längst da, wir sind längst drin. Wir atmen tief durch und stellen uns eine Welt in fünf oder zehn Jahren vor, in welcher nicht einmal Computer noch unterscheiden können, welches Bild und welcher Text »echt« ist und welcher »fake«. Ja, schon heute experimentiert etwa Facebook mit »Fake-Menschen«, mit denen wir, die »echten« Menschen, interagieren sollen.
Ich weiß nicht, was die Begriffe »echt« und »fake« überhaupt noch bedeuten werden. Es fühlt sich an, als würden wir in ein Labyrinth hinabsteigen.
Ein Labyrinth zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass die meisten Verzweigungen und Wege schnell in Sackgassen münden, also fake sind.
Eine Intuition, eine innere Ariadne quasi, will mich schon heute einen roten Faden festmachen lassen in der Hoffnung, dass ich in einigen Jahren wieder »herausfinde« – doch woraus und worin soll dieser Faden bestehen?
Kulinarischer Nachtrag
Laut schwäbisch-katholischer Tradition kann der liebe Herrgott ein tatsächlich vegetarisches Nudelgericht nicht von Fleisch in Nudeltaschen unterscheiden, weshalb die Mönche auch zur Fastenzeit sich an den Herrgottsbescheißerle laben konnten.
Nun, offenbar sind wir also auch darin »wie Gott«, Original und Fake nicht immer auseinanderhalten zu können. Was den Zisterziensern das Schweinefleisch mit Kräutern im Nudelteig war, ist uns Menschen manches KI-generierte Bild, manche Desinformation vom Staatsfunk, manche Fake-News von Propaganda-NGOs.
Die schwäbischen Maultaschen kennen wir als Herrgottbescheißerle, das Maulheldentum der Berliner »Schwaben« mit all ihren Lügen und Weglassungen und sonstigem Schlangenhaften, all diese Fakes sollten wir Menschenbescheißerle nennen.