25.10.2022

Barometer ohne Maske, im Zug

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Sandro Schuh
Fußballer sind manchmal wie ein Barometer, das den Luftdruck der Gesellschaft (oder derer Untergruppen) misst, und das Wetter vorhersagt. Etwa wenn sie im Zug fahren und das gleiche Recht wie Politiker einfordern – indem sie die Maske verweigern.
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Meine Großeltern hatten eine Multi-Funktionsuhr im Flur an der Wand, und im geschnitzten Holz war eine Quarzuhr eingelassen, dazu ein Thermometer und ein Barometer.

Später würde ich erfahren, dass mein Opa wahrlich nicht der einzige Großvater war, der sinnierend vor Barometer stand, mit dem Zeigefinger aufs Glas klopfte, und einem unbestimmten Hörer mitteilte: »Ich brauche nicht dieses Ding, um mir zu sagen, dass sich das Wetter ändert, das spüre ich in den Knochen!«

Ein Barometer misst den Luftdruck, wörtlich die »Schwere«, das »Gewicht«. An den Veränderungen des Luftdrucks lasen die Menschen ab, wie sich bald darauf der Rest des Wetters entwickeln würde.

Balltretende Gladiatoren

Im Buch »Talking Points« beschreibe ich die soziale Funktion des Fußballs als modernen psychologischen Ersatz für den Krieg – und die Fußballer wären demnach die Soldaten.

Fußballer sind jedoch nicht nur moderne Show-Soldaten, hochbezahlte Gladiatoren, solange die Sehnen halten – Fußballer fallen mir in letzter Zeit als »Barometer der Gesellschaft« auf.

Weil Fußballer »die neuen Soldaten« sind, tun Politiker gut daran, sich mit ihnen zu assoziieren. Kanzlerin Angela Merkel etwa begab sich schon mal in die Mannschaftskabine, gratulierte einem verschwitzten, hemdlosen Mesut Özil (welt.de, 20.10.2010) und ließ sich mit den teils halbnackten Athleten ablichten (welt.de, 16.16.2014). (Werden wir nun Bilder von Olaf Scholz in der Damen-Kabine sehen? Wollen wir das überhaupt?)

Immer wieder stellt die Politik balltretende Gladiatoren mit ausländischen Wurzeln als Musterbeispiele für Integration vor.

2016 etwa würdigte Merkel »sportl. Leistung + gesellschaftl. Engagement« des Fußballspieler Jérôme Boateng (@RegSprecherStS, 28.8.2016). Es war wohl eine populistische Reaktion auf jene These des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland und dessen kulturelle Sozialisation: »Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.« (faz.net, 2016)

2018 dann zerfiel das Image des Integrations-Superbeispiels Mesut Özil etwas, als dieser so öffentlich wie innig einem gewissen Herrn Erdoğan seine Aufwartung machte (siehe Essay vom 17.5.2018).

Und aktuell scheint das Image des linken Lieblings-Nachbarn Jérôme Boateng auch etwas Schaden zu nehmen. Boateng hatte diese Tage beim Landgericht München zu tun. Ich zitiere einfach mal die Schlagzeile von bild.de, 20.10.2022: »Erschütternde Vorwürfe gegen Jérôme Boateng: ›Er spuckte mir sein Blut ins Gesicht‹«.

Dasselbe politische Lager, das dereinst über Gauland schimpfte, sieht Boatengs Verhalten jetzt plötzlich als typisch für – richtig! – Männer. (Ich persönlich kenne niemanden, null, keine einzige männliche Person, die zu solchen Grausamkeiten, wie sie Boateng vorgeworfen werden, auch nur annähernd in der Lage wäre. Sind die Männer, die ich kenne, alle keine richtigen Männer? Interessant, was für ein Bild »richtiger Männer« gewisse linke Kreise offenbar pflegen.)

Fußballer auf Reisen

Jedoch, Fußballer finden sich nicht nur auf politischen Propaganda-Veranstaltungen und vor Gericht, manchmal sind sie auch auf Reisen – mit der guten alten Deutschen Bahn.

Die Spieler des VfL Wolfsburg waren dieser Tage mit der Bahn unterwegs, und zwar zum Bundesligaspiel gegen Bayer Leverkusen.

In Deutschland, diesem europäischen Corona-Geisterfahrer, gilt im Fernverkehr und im ÖPNV offiziell aktuell noch die Maskenpflicht. Klar, sie gilt nicht, wenn man wichtiger Politiker ist oder durch Kontakt zu einem solchen ebenfalls wichtiger Journalist: da lügt sich die Politik ad hoc angebliche »Sonderregeln« zusammen, die es nirgends nachzulesen gibt (siehe Essay vom 24.8.2022).

Und es gilt offenbar nicht zwingend, wenn man Bundespräsident Frank-Walter »nichts mit Eikonal zu tun« Steinmeier ist (tagesspiegel.de, 12.10.2022).

Die kickenden Gladiatoren des VfL Wolfsburg könnten nun dem kindischen, aber doch sympathischen Irrtum aufgesessen sein, dass für sie als Fußballer dieselben Regeln gelten wie für Politiker und Journalisten.

Als die bemitleidenswerte Dame vom Zugpersonal die Herren Fußballer aufforderte, die FFP2-Maske vor das Gesicht zu ziehen, sollen viele von denen gelacht und sich geweigert haben, Folge zu leisten (sportschau.de, 23.10.2022).

Werkzeug und Zeichen

Offiziell erklärte der Verein, dass man ein strenges Wort mit den Spielern reden würde. Was wird man ihnen sagen? Dass in Deutschland, so wie in Parabel-Roman »Die Farm der Tiere«, alle »Schweine« gleich seien, aber manche eben »gleicher« – und sie, die Fußballer, gehören eben leider nicht zu den »gleicheren«.

Kickende Gladiatoren sind zwar Werkzeug und Bühnendekoration des Propagandastaates, aber eben nicht Personal. Dafür sind Fußballer eine Art Barometer, ein Gradmesser des gesellschaftlichen Luftdrucks, ein Zeichen kommender Veränderungen.

Fußballer sind eher »normale Menschen«, selten gebildeter und geschliffener als der sprichwörtliche Durchschnitt, und bis auf Ausnahmen auch nicht in PR-Angelegenheiten geschult, doch sie werden in eine Vorbildrolle gestellt.

Doch gerade indem sie an der ihnen aufgedrückten Musterrolle scheitern, werden sie zum Barometer kommender Wetterumschwünge.

Özils Würdigung des türkischen Präsidenten war ein Hinweis darauf, wie nicht wenige Deutschtürken wirklich fühlen (wie türkische Wahlen in Deutschland und jeder einzelne Besuch Erdoğans es ebenfalls sind; siehe auch Essay vom 25.9.2018).

Boatengs Verhalten könnte ein Hinweis darauf sein, wie viel Respekt man in bestimmten sozialen Gruppen wirklich Frauen gegenüber bringt. Boateng wurde von der Politik explizit als Musterbeispiel gelungener Integration aufgeführt – wehe, wenn einer fragt, wofür er denn jetzt als Musterbeispiel dienen soll.

In den Knochen

Die Maskenverweigerung der Spieler des VfL Wolfsburg aber könnte ein Barometer dafür sein, was die Bürger sich nach und nach trauen werden – verbotenerweise.

Es tut mir sehr und ehrlich leid, wenn es das arme Zugpersonal trifft, das ja auch nur überleben und sich mit ehrlicher Arbeit einen Unterhalt verdienen will. Das Zugpersonal muss ausbaden, dass Politiker unsinnige Gesetze zur Demütigung des einfachen Volkes erlassen, dann sich natürlich selbst nicht dran halten – und der Bürger dann schlicht dieselben Freiheitsrechte verlangt, wie die politischen Bessermenschen sie vorleben.

Fußballer widersetzen sich öffentlich den vermutlich unsinnigen und verlogenen Regeln des Staates, und die Fußballer lachen die armen Leute aus, die diese Demütigung durchsetzen wollen.

Es ist nicht schön.

Vermutlich ist es nicht ganz legal.

Doch die Handlungen der Fußballer im Zug sind ein Barometer, ein Gradmesser des gesellschaftlichen Luftdrucks.

Diese Barometer sind nützlich und wichtig, und doch bestätigen sie nur, was wir ohnehin ahnen.

Das Wetter schwingt um, und wir spüren das in den Knochen.

Weiterschreiben, Dushan!

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