In den Jahren, die mich formten (ich bin recht sicher, dass die erste Ziffer meines Alters damals eine »1« war), hörte ich ein modernes Gleichnis, welches mich bis heute prägt – ja, vielleicht sogar definiert. Es ist das Gleichnis von der schweren Truhe (oder war es ein Baumstamm?) und den Trägern.
Das Gleichnis geht so: Stellen Sie sich vor, Sie sehen drei Männer eine schwere Truhe heben. Auf der einen Seite heben zwei Männer, auf der anderen hebt nur einer, und dieser eine tut sich schwer mit seiner Last. Sie möchten helfen. Frage: Auf welcher Seite packen Sie mit an? Wem helfen Sie?
Die spontane Antwort auf dieses Lehr-Gleichnis wird bei den meisten Menschen lauten: »Natürlich helfe ich dem Schwächelnden – denn da, wo bereits mehr Leute helfen, braucht es meine Hilfe doch nicht so sehr!«
Selbst wenn ich wollte, könnte ich der Botschaft dieses modernen Gleichnisses nicht entkommen, gerade heute, gerade als Essayist. Etwas in mir drängt mich, immerzu jene Meinung zumindest öffentlich zu prüfen, welche von weniger Leuten vertreten wird.
Bei Putins russischem Angriff auf die Ukraine ist das kein einfaches Unterfangen. Dazu ist es tatsächlich neu, dass ich von beiden Seiten eines Konfliktes wütende Mails erhalte. Letztens schrieb ich, dass ich etwas hilflos bin bei Zuschriften, die nicht klar erkennen lassen, warum sie wütend auf mich sind, nur dass ich eben falsch liege.
Ich habe nun eine neue Quelle von Ratlosigkeit entdeckt: Diese Woche schrieb mir ein Leser, dass er mir eklatant widerspräche, nur um dann Punkt für Punkt gute Argumente und Aspekte vorzutragen, die ich allesamt genau so unterstütze.
Ein anderer, extra-unzufrieden klingender Leser wies mich jüngst sogar recht barsch auf den Artikel »Korrupt wie eh und je« in der Süddeutschen vom Februar 2021 hin, den ich doch bedenken solle, statt auf »Atlantiker-Propaganda« bezüglich Selenskiy (oder »Zelensky«) hereinzufallen. Ich verwies ihn höflich auf meinen Essay »Ein Held wie eh und je« vom 1.3.2022, der de facto eine »Meditation« über genau diesen SZ-Artikel ist.
(Übrigens: Mittlerweile steht über der Online-Version jenes SZ-Textes ein »einordnender« Hinweis, der in der archivierten Version nicht zu finden ist: »Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien im Februar 2021 in der Süddeutschen Zeitung«, womit wohl mitschwingen soll, dass das so nicht mehr gilt. Selenskiy ist jetzt nicht mehr ein »Präsident, der Tatkraft vortäuscht«, nehme ich an. Ach, ihr Journalisten.)
Jener extra-unzufriedene Leser hat mir seitdem nicht mehr geantwortet. Es scheint fast so, dass manche von uns sich wütend und hilflos fühlen, und nicht so recht wissen, wohin sie ihre Wut richten sollen – und die Wut dann nicht immer ein passendes Ziel trifft. Querschläger gehören wohl zum Krieg dazu.
Nun, ich folge weiterhin stur dem Gleichnis von den Truhenträgern. Wäre ich Journalist, würde ich ins gleiche Horn blasen wie alle anderen, doch auch wenn ich wesentliche Aspekte der öffentlichen Meinung heute teilen könnte, käme ich mir redundant und faul vor, sowohl emotional als auch intellektuell faul – ein Journalist eben.
Zum Thema »Propaganda« war ich letztens tatsächlich positiv überrascht, als der deutsche Staatsfunk darauf hinwies, dass auch die Ukraine und ihre Sympathisanten durchaus mit Fake-News vorgehen können (tagesschau.de, 1.3.2022). Ich will einmal die Ironie übersehen, wenn die Tagesschau auf ukrainische Propaganda hinweist, doch da ich kein Linker bin, werde ich im Regen nicht behaupten, dass doch die Sonne scheint, nur weil »die Falschen« zum Regenschirm geraten haben.
Ich lasse mich lieber weiter vom Gleichnis von den Truhenträgern leiten. Ich möchte auf ein Detail hinweisen, dass wohl jeden von uns bewegen wird – und ich will auch darauf den Spruch der alten Griechen anwenden: »Erkenne dich selbst!«
Heute Morgen habe ich in meinen Nachrichtenquellen die Bilder zweier Pässe gesehen, die zwei in der Ukraine getöteten russischen Soldaten gehört haben sollen.
In beiden Pässen sah man das Geburtsjahr der Soldaten: 2002. – Die Soldaten waren 20 Jahre alt, als sie starben.
Ich sah auch (glaubwürdige) Smartphone-Videos von russischen Soldaten, deren Panzer liegengeblieben sind. Ukrainer fragen die russischen Soldaten, wohin sie unterwegs seien. »Nach Kiew«, sagen die. Und warum? Das wissen sie (angeblich?) selbst nicht genau. Im Moment sind sie aber über nirgends unterwegs, denn der Sprit ihres Panzers ist alle, und es ist Nachschub in Sicht.
Meine Familie erzählte mir von den russischen Panzern, die 1968 in die ČSSR rollten, um den Prager Frühling niederzuwalzen. Damals merkten die Tschechen bald, dass die Elitesoldaten, die Prag besetzten, präzise informiert waren, aber viele der übrigen »kleinen« sowjetischen Soldaten eigentlich gar nicht wussten, was ihr Auftrag war. (Die Elitesoldaten in Prag waren übrigens präzise, aber falsch informiert, denn sie suchten nach einer »Konterrevolution«, die es so nicht gab.)
(Zwischennotiz: Ein Leser schreibt mir als schnelle Reaktion auf die Ankündigung dieses Essays, ganz als würde ich etwas entschuldigen wollen: »Gilt nicht. Ist in jedem Krieg so. Oder glaubst Du, die 17-jährigen, die 1944 an die Ostfront geworfen wurden, waren komplett informiert?« (@supaschlaumeier, 16.3.2022) – Ein anderer Leser schreibt: »Nach Afghanistan haben sie ja 1979 auch unerfahrene Wehrpflichtige geschickt. Die USA haben das selbe mit ihrer“Kinderarmee“ im Vietnamkrieg gemacht. (Durchschnittsalter 21)« (@MehnertLukas, 16.3.2022) – Ach nein, ich will nichts entschuldigen. Ich versuche, die Conditio Humana zu verstehen – und dann zu lernen.)
Nehmen wir einmal an, dass nun beides so stimmt, dass also in der Ukraine zwanzigjährige Jungs als russische Soldaten dienen, und dass sie selbst nicht wissen, was sie eigentlich wollen – oder dass ihnen das Märchen erzählt wurde, die Ukrainer würden sie mit offenen Armen empfangen, und sie das tatsächlich noch in der dritten Woche der Invasion glauben sollten. Es sind russische Söhne, die eigentlich ihr Leben vor sich gehabt hätten – und nun, wenn sie Pech haben, demnächst die Kühlhäuser in Weißrussland füllen helfen oder in einem mobilen Krematorium entsorgt werden. (Siehe auch n-tv.de, 13.3.2022: »Wo sind Russlands Tote? Leichenhallen in Belarus sind wohl überfüllt.«)
So erschütternd diese Realitäten sind, so kann der philosophierende Essayist in mir doch nicht anders, als auch fragen: Was hätten diese jungen Russen tun können, um nicht »unwissendes Material« zu werden?
Vielleicht hätten sie sich nicht kurzfristig dem Einsatz entziehen können, doch sie hätten zumindest dafür sorgen können, eben nicht wie »unwissendes Material« zu wirken, hätten Verantwortung für ihr Handeln übernehmen können, oder nicht?
Was hätten sie tun können? Was hätten sie tun sollen? Hätten sie vielleicht ein paar Parties weniger feiern sollen, stattdessen via VPN etwas Auslandsnachrichten lesen? Hätten sie sich angewöhnen sollen, zu jeder Regierungsmeldung auch eine alternative Deutung zu suchen? Hätten sie grundsätzlich misstrauischer sein sollen?
Es wäre eine denkbar unnütze, vielleicht sogar unanständige Übung, vom westeuropäischen Schreibtisch aus den 20-jährigen Putin-Soldaten wohlfeile Vorwürfe zu machen, gar wenn diese bereits erschossen wurden.
Ich sehe, wie diese Jungs in der Ukraine unwissend und naiv sind (oder zu sein vorgeben?), doch ihre Naivität macht sie nicht weniger gefährlich. Ich frage mich: Was kann ich daraus lernen?
Es gilt, auch heute, diese »Truhe« dort zu heben, wo viel zu wenige andere Leute sie heben wollen. Ich frage mich, im Geist des »Erkenne dich selbst!«: Was weiß ich alles nicht, wo bin ich viel zu naiv, und werde so zur Gefahr für mich selbst, womöglich sogar für andere?
Ja, auch im Krieg – womöglich gerade im Krieg – können wir dazulernen und klüger werden.
Heute lerne ich: Schmunzele nicht über die, die viel zu wenig wissen – ein anderer könnte über dich schmunzeln, dass du zu wenig weißt. Schmunzele nicht darüber, wie wenig der andere weiß – werde du selbst lieber klüger!