Zwanzig Meter. Nur zwanzig Meter! – Gegen Ende des ersten Lebensjahres unternehmen die meisten Kinder ihre ersten wackelnden Schritte auf eigenen Beinen, und wenige Monate später, jedes Kind nach seinem eigenen Rhythmus, laufen die Mini-Erdenbürger dann herum und motivieren uns, Tisch- und Möbelkanten zu polstern. Auf den eigenen Beinen zu laufen ist buchstäblich kinderleicht – umso erstaunlicher ist es, wie schwer es uns fällt, ja, dass es schier unmöglich ist, ohne äußere Hilfe viel mehr als zwanzig Meter einfach gerade heraus zu laufen.
Biologische Kybernetik
Es hat sich herumgesprochen, dass in Hollywood-Filmen gelegentlich übertrieben wird. Im echten Leben explodieren Autos nicht ganz so leicht, und Computer lassen sich nicht grundsätzlich durch extra schnelles Tippen hacken, um dann in Rauch aufzugehen – und dann gibt es Dinge, die sind tatsächlich realistisch! Eins davon: Wenn Filmcharaktere zu Fuß durch die Wüste unterwegs sind, dann werden sie bald feststellen, dass sie im Kreis laufen – und dies ist tatsächlich realistisch!
2009 haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik im Experiment getestet, was es mit den im Kreis laufenden Wüstenwanderern auf sich hat.
Man gab Probanden einen GPS-Empfänger mit und ließ sie in einer natürlichen Umgebung so geradeaus wie möglich laufen:
»Die Sahara in Tunesien und ein Waldgebiet im Rheintal dienten dabei als Versuchsgelände. In beiden Umgebungen gelang es den Probanden nur dann, einen geraden Weg einzuschlagen, wenn sie sich am Sonnenstand orientieren konnten. War die Sonne von Wolken verdeckt, begannen sie, im Kreis zu laufen. „Es ist tatsächlich wie im Film: Einige unserer Versuchsteilnehmer haben mehrmals ihren Pfad gekreuzt, ohne es zu merken. Sobald Bewölkung am Himmel aufzog und die Sonne verdeckte, beschrieben sie mitunter scharfe Kurven und wichen vom geraden Weg ab“, sagt Jan Souman vom Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen.« (siehe mpg.de, 20.8.2009)
Die Metapher
Gleichnisse und Metaphern dienen uns als ein besonderer Spiegel, wie ein Kosmetikspiegel oder ein Zahnarztspiegel, der eine bestimmte Stelle beleuchtet – und wie bei jenen Spiegeln ist die Anwendung nicht immer stressfrei, und doch wichtig. Das Gleichnis richtet den Blick auf einen Aspekt, genauer: ein potentielles Problem – wäre es kein Problem, müsste man ja nicht drüber reden – doch immerhin macht die abstrahierende Grundeigenschaft des Gleichnisses es erträglicher, uns überhaupt dem Problem zu näheren.
Manchmal muss der Mahner die Verbindung zwischen Gleichnis und Gegenstand erst durch erklärende Hinweise sichtbar machen, doch bei wirklich passenden Gleichnissen springen die Verbindungen geradezu ins Auge, so auch (hoffentlich) hier; es braucht nur eine minimale Umformulierung, eine feine, aber unangestrengte Zuspitzung: wer nichts hat, woran er sich orientieren und immer wieder neu ausrichten kann, der läuft im Kreis, selbst wenn er sich noch so sicher ist, geradeaus zu gehen.
Menschheitsprojekte
Was sind die leuchtenden Orientierungspunkte am ganz großen Horizont, die großen Ziele, an denen wir – gemeint: die Menschheit im Ganzen und damit auch ihre kleinste Verästelung, das in der ersten Person Singular redende, denkende und in vielen, nicht allen, Kulturen auch fühlende Individuum – was ist es, woran wir im Ganzen wie im Einzelnen uns ausrichten – uns ausrichten sollten?
Anders, praktischer gefragt: Was sind sie denn, die großen Menschheitsprojekte? Die Ausrottung der Seuchen und Krankheiten? Künstliche Intelligenz, weit jenseits der Grenzen und Möglichkeiten menschlichen Verstandes? Wirklich nachhaltige Energie, die auch bei schlechtem Wetter verfügbar ist? Sauberes Wasser auch für die Ärmsten? Oder, noch immer: Das Herausgehen des Menschen aus seiner Unmündigkeit – auch Aufklärung genannt?
Alte Krankheiten, die Wiederkehr
Der Name der Stadt Portland ist zum Synonym für linke Hipster-Kultur geworden, also weltweite Szene ahnungsloser Besserwisser, die sich einheitlich mit Fake-Insignien vermeintlicher Authentizität uniformieren, prototypisch mit Bärten, Tattoos und Turnbeuteln – geistige und oft auch finanzielle Armut, als Stil und Lebensphilosophie verklärt.
Die Stadt Portland liegt im US-Staat Oregon, genauer aber in Multnomah County. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 hatte Hillary Clinton in Oregon 50,1% erreicht (Trump 39,1%), in Multnomah County, also quasi in Portland, sogar 73,3% (Trump 17,0%) – für Daten siehe nytimes.com.
Am 11. Januar 2019 spielten die Portland Trail Blazers, eine Basketball-Mannschaft, gegen die Charlotte Hornets im Moda Center, einer Multifunktionsarena in Portland. Das Spiel war mit 19.393 Zuschauern ausverkauft, von etwa 17:30 bis 23:30 Uhr befanden sich Menschen im Moda Center.
Knapp zwei Wochen später wird von US-Medien berichtet, dass sich unter den Zuschauer eine an Masern erkrankte Person befunden haben muss (siehe z.B. washingtonpost.com, 24.1.2019, cnn.com, 23.1.2019), so die Warnung der Behörden des erwähnten Multnomah County.
Portland ist nicht nur Hochburg von Clinton-Wählern und Hipstern, man spricht inzwischen von »Anti-Vaccination-Hotspots«, auch in der Umgebung von Portland.
Im nahen Clark County haben die Behörden eine public health emergency ausgerufen – inzwischen gelten 23 Menschen als an Masern erkrankt, davon die weitaus meisten Kinder (washingtonpost.com, 23.1.2019).
Krankheiten, die wir im Westen überwunden zu haben glaubten, kehren in den Westen zurück. In Deutschland wird in den letzten Jahren immer wieder Tuberkulose diagnostiziert (etwa in München, Dresden, Schönebeck). Die Gründe sind verschieden, teils ist es Anti-Impfungs-Aktivismus, teils sind es die offenen Grenzen, im Kern liegt aber praktisch immer das Primat des Bauchgefühls über Fakten.
Im Westen gilt etwa Polio als ausgerottet, doch in Ländern wie Afghanistan oder Nigeria ist das keineswegs der Fall (siehe z.B. unicef.org) – was bedeutet das für die Offene-Grenzen-wir-haben-uns-alle-lieb-Welt?
Es galt als Menschheitsprojekt, zumindest jene Krankheiten in den Griff zu bekommen und letzten Endes auszurotten, die in den Griff zu bekommen sind – die WHO zählt »Impf-Zurückhaltung« (»Vaccine hesitancy«) zu den zehn größten Gesundheitsgefahren für 2019.
Einige Zyniker kommentierten den Masern-Ausbruch in der Hipster-Hochburg, dies sei doch eigentlich das Jahr 2019, nicht 1919 – ja, wer gefühlte Wahrheit vor Fakten stellt, der dreht sich im Kreis, wie der Wanderer in der Wüste.
Gedenken als Wahlkampfmätzchen
Ein Menschheitsprojekt nach dem anderen droht wieder abgewickelt zu werden. Zu den zweifellos ganz großen Menschheitsprojekten gehört, dass es nie wieder zu einem Verbrechen wie dem Holocaust kommen darf, und dazu gehörte eben, auf kluge und würdige Art des Schrecklichen zu gedenken. Deutsche Politiker und Propagandisten haben dieses Anliegen in den letzten Jahren auf zwei Arten schwer beschädigt. Erst ließen sie zu, dass Juden in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten müssen, als direkte Folge gutmenschlicher »Toleranz«, 2019 aber ist das Jahr, in welchem die deutsche Politik und die um sie rotierenden Monde noch mehr ihrer demokratischen Scham ablegten und das Andenken an den Holocaust zum Wahlkampfmätzchen gegen die Opposition reduzierten. Ob der rhetorische Angriff auf die Opposition im Bayerischen Landtag (siehe z.B. faz.net, 27.1.2019; aber auch Deutschland, ein Narrenschiff) oder die plumpe Wer-mir-widerspricht-ist-rechtsextrem-Rhetorik von Peinlichminister Maas (siehe z.B. n-tv.de, 27.1.2019) – kein Thema hätte mehr Fingerspitzengefühl und einen zuverlässigen inneren Kompass gebraucht als der Holocaust, doch 2019 wird der Holocaust zum Wahlkampf-Talking-Point degradiert – sie sind wie Wanderer in der Wüste, ohne Orientierung, und welchen Gott wollen wir anrufen, wenn sie in ihrer Verblendung wieder da ankommen, wo sie einst losliefen? Denselben, der es auch das letzte Mal zuließ?
Eine 15-Jährige
Am 10. Oktober 1990 durfte eine 15-Jährige vor dem informellen Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sprechen. Das Mädchen, damals bekannt nur unter ihrem Vornamen Nayirah, berichtete unter Tränen davon, wie in kuwaitischen Krankenhäusern irakische Soldaten die Säuglinge aus Brutkästen gerissen und sterben gelassen hätten. Jener Auftritt half, die weltöffentliche Stimmung zugunsten eines US-Angriffs auf den Irak zu bewegen. – Später stellte sich heraus, dass alles gelogen war, dass eine PR-Agentur es inszeniert hatte.
Das Perfide an Propaganda-Coups wie der Brutkastenlüge ist ja, dass selbst wenn sich die Faktenbasis als Lüge erweist, die Stimmung bleibt. – Beispiel: Die tiefe Abneigung gegen Trump oder Nicht-Linke bleibt ja etwa bei Spiegel-Lesern bestehen, egal wie viele Stories, ob von Claas Relotius oder einem anderen Preisträger, sich als Lüge oder Halbwahrheit erweisen.
Noch eine 15-Jährige
Haben Sie es auch im Ohr, die Verteufelung der Angst, der Sorgen, der Bedenken? Wer heute Angst vor den Folgen des Regierungshandelns hat, der gilt als »Rechter« und Übleres (siehe auch: Angst ist ein Stück Lebenskraft). Die Unterwerfung Deutschlands unter den UN-Migrationspakt galt als »ermutigendes Zeichen gegen die Angstmacher« (zeit.de, 10.12.2018), den Demonstranten gegen die Regierungspolitik wird seit den ersten Tagen der merkelschen Welteinladung vorgeworfen »Angstmacher« zu sein (spiegel.de, .10.2015), und so fort. – Ist die linke Einheitsmeinung also grundsätzlich und immer gegen politisch wirksame Angst? Keineswegs! Seit einigen Monaten wird eine junge Schwedin gefeiert, welche mit kindischen Thesen (»we have to stop our emissions of greenhouse gases«) durch die Welt tourt. Laut z.B. newyorker.com, 2.10.2018 hat Thunberg mit einigen Herausforderungen zu kämpfen, darunter Autismus. Sie berichtet, dass ihre Eltern ihr von menschengemachten Klimaveränderungen erzählten, bis sie dann echte Angstzustände entwickelte. Eigentlich wäre es ein Fall für den Jugendschutz, doch das ist nicht, was 2019 passiert.
Thunberg darf etwa zur Unterhaltung der mit Privatjets nach Davos einfliegenden Elite auftreten. Leitmedien feiern sie anschließend für Sätze wie: »Alle sollen die Angst spüren, die ich selbst jeden Tag spüre« (spiegel.de, 25.1.2019).
Die Angst jener, die seit 2015 für ihre Angst als »Rechte« und »Nazis« verunglimpft werden, sie ist auf reale Fakten gestützt, ihre Vorhersagen bewahrheiten sich, täglich neu – die Angst eines 15-Jährigen, zugleich lächerlich wissenschaftsfrei und doch erstaunlich professionell auftretenden Kindes mit dokumentierten Problemen, diese Angst wird gefeiert, und wer sie nicht teilt, der ist bald des Falschdenkens schuldig.
Wir waren schon einige Male in der Geschichte an dem Punkt, dass Jugendliche für Propaganda eingesetzt wurden, dass Emotionalität und Unbedarftheit von eiskalten Kalkulierern als Ideal für die Masse gesetzt wurde (siehe auch: »… sie berechnen nicht, was sie tun!«), und es ging jedes Mal schief.
Mit falschen Fakten und unfundierten Emotionen wird eine politische Stimmung erzeugt, und die Stimmung bleibt, selbst wenn die angebliche Faktenbasis sich wieder und wieder als falsch erweist. Linke Debatte – und mit ihr die Wähler –sind wie Wanderer in der Wüste, die immer wieder feststellen, dass sie falsch laufen, dass sie sich an Fata Morganas orientiert haben, doch zu viele von ihnen lernen genau gar nichts daraus.
Der wird sie wiederholen
Der Themen und Beispiele sind viele, viel zu viele. Wie verirrte Wanderer in der Wüste kehren wir an Orte sozialer Evolution zurück, die wir verlassen zu haben glaubten. Beispiel: Die linke Toleranz gegenüber den religiösen Intoleranten, wenn diese nur den linken Hass auf den Westen teilen, sie führt uns zurück in die Zeit der Religionskriege, zurück vor die Zeit der Aufklärung. Energiepolitik orientiert sich an Bauchgefühl, und also wird man neu abhängig werden vom ausländischen Strom (siehe z.B. tichyseinblick.de, 27.1.2019), und so fort. Wir sind Wanderer in der Wüste, wir irren im Kreis, und jedes Mal, wenn wir unsere eigene Spur kreuzen, freuen wir uns, dass wir mehr und mehr werden.
Wer aus der Geschichte nicht lernt, so heißt es, der wird sie wiederholen. Man muss ergänzen: Wer masochistisch genug ist, Geschichte zu studieren – und klug genug, aus ihr zu lernen – der ist zu oft gezwungen, hilflos der Mehrheit zuzusehen, wie sie die Geschichte eben doch sich wiederholen lässt.
Konkurrierende Modelle
Ein Mensch kann ohne Orientierung nicht weiter als 20 Meter geradeaus gehen. Eine Gesellschaft ohne Werte und Ziele droht, alle paar Jahrzehnte oder vielleicht auch Jahrhunderte sich an Orten wiederzufinden, die sie für immer zurückgelassen zu haben glaubte.
Die westliche Gesellschaft hat es mit konkurrierenden Modellen zu tun, die – teilweise – sehr genau wissen, was ihre Ziele sind. Die islamische Welt weiß, woran sie sich orientiert. China weiß es auch (China denkt in sehr langen Linien). Putin scheint es ebenso zu wissen. Auch internationale Player außerhalb der Regierungen machen sehr deutlich, was sie wollen. (Einer davon sagte berühmterweise: »I am basically there to make money. I cannot and do not look at the social consequences of what I do.«)
Konzerne, Spekulanten und unsere globalen Wettbewerber wissen, woran sie sich orientieren, woran aber orientiert sich der Westen? Was sind unsere Werte, unsere relevanten Strukturen?
Wissenschaftler zeigten, dass wenn ein Wanderer nicht im Kreis laufen soll, er einen Fixpunkt zur Orientierung braucht, etwa die Sonne. Wer nicht weiß, wo er ankommen will, und nicht versteht, wo er sich gerade befindet, der wird womöglich nur wieder dort ankommen, wo er gerade war.
Wo wollen wir überhaupt hin – und wie realistisch ist es, dass wir auf dem aktuellen Weg dort auch ankommen?