Dushan-Wegner

24.08.2020

Boris Johnson gegen das Dicksein

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Sergio Souza
Das größte Problem an Propaganda ist noch nicht einmal die Propaganda selbst. Das größte Problem speziell an deutscher Propaganda ist, dass sie die Bürger dazu manipuliert, großen Schaden am eigenen Land hinzunehmen.
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Wie Moses einst die Hebräer aus der Knechtschaft Ägyptens führte, so führte Boris Johnson die Briten aus der Brüsseler Knechtschaft (hoffentlich). Als der chinesische Virus die Welt bedrohte, nahm Boris Johnson es auf sich, selbst am Virus zu erkranken, wie ein gewöhnlicher Mensch eben auch erkranken kann – und er überwand die Krankheit, auf dass jeder andere, den die unsichtbare Kralle ergreift, sich so wie Boris wieder aus dem kalten Griff des Todes befreien kann. (Als ich Elli diese Passage vorlas, kommentierte sie: »Sehr gut. Who needs sanity anyway?«)

Als Boris Johnson darniederlag, wurde er erleuchtet – und also gürtete der Jüngling mit dem leuchtend goldenen Haarschopf seine Lenden und zog in den Krieg gegen das Dicksein.

»Ich war zu dick!«, verkündete Boris (theguardian.com, 24.8.2020). Dick zu sein ist ein Risikofaktor für mehr Krankheiten als es Kekssorten im Supermarkt gibt, und einiges spricht dafür, dass auch das Risiko, sich nicht nur mit COVID-19 zu infizieren, sondern auch daran zu erkranken, messbar höher ist, wenn man dick ist (bbc.com, 25.7.2020, meine Übersetzung: »Coronavirus: Übergewicht steigert Covid-19-Risiken, sagen Experten«).

Alle Freude aus dem Leben!

In der Brexit-Abstimmung manifestierte sich eine innere Spaltung der britischen Gesellschaft, ein Gegeneinander der Jünger linksglobalistischer, politisch korrekter Lehre (einige davon von den bekannten NGOs bezahlt) und denen, die ihnen folgen – und auf der anderen Seite die »commoners«, die den »lebensfremden Besserwissern« misstrauen (vergleiche blogs.lse.ac.uk, 1.2.2018, pewresearch.org, 28.10.2019, bbc.com, 1.2.2020).

Dieselbe debattenbestimmende Neu-Linke reagierte auf Johnsons Gesundheitskampagne, ganz wie zu erwarten, höhnisch (»You had to laugh. I certainly did.«, telegraph.co.uk, 2.8.2020) und aggressiv (es ist Wesen und Zweck politischer Korrektheit, reale Probleme im Namen der Moral zu tabuisieren), sprach natürlich von »fatshaming«, dailyrecord.co.uk, 29.7.2020.

»Boris Johnson’s obesity crackdown sucks all the joy out of life« las man in entertainmentdaily.co.uk, 27.7.2020, zu Deutsch etwa: »Boris Johnsons Übergewicht-Razzia saugt alle Freude aus dem Leben«. (Was sagt es über die Journalistin, dass etwas mehr Gemüse statt Chips zu essen ihr »alle Freude aus dem Leben« saugt?)

»Wenn wir schlank sein sollen«, wurde in telegraph.co.uk, 28.7.2020 gefragt, »warum sind so viele Krankenschwestern dick?« – und natürlich wurde diese unangenehme, aber in der Sache nicht sofort von der Hand zu weisende Frage aufgegriffen von der Was-unangenehm-ist-hat-man-zu-verschweigen-Fraktion (siehe etwa thelondoneconomic.com, 28.7.2020).

Johnson aber hatte von Anfang an beschwichtigt, der »obesity drive« würde weder »bossy« noch »nannying« sein (theguardian.com, 27.7.2020 (£)) – gleichzeitig aber die Briten zur Ehrlichkeit sich selbst gegenüber aufgefordert, und sei es via Arzt, der ihnen ins Gesicht sagen soll, wenn und dass sie zu dick sind: »You’re fat.« (thesun.co.uk, 26.7.2020)

»Lalala!«

Politische Korrektheit ist die akademisch-publizistische Variante des Kleinkindes, das sich die Ohren zuhält und laut »Lalala!« brüllt, um nicht zu hören, was es nicht hören will; in der Politik wird diese Korrektheit dann um den Versuch erweitert, alle übrigen Debattenteilnehmer zu verpflichten, sich ebenfalls die Ohren zuzuhalten und die Augen zu verschließen. Man könnte politische Korrektheit als eine Variante der »Drei Affen« deuten – Probleme nicht sehen wollen, von Problemen nichts hören wollen, über Probleme nicht reden (dürfen).

Jedoch, nicht alle Kritik an Johnsons Anliegen war von der politisch korrekten Drei-Affen-Art!

Nicht wenige fanden es etwa bemerkenswert, dass wenige Tage zuvor dieselbe Regierung zur Stützung der Gastronomie das Programm »Eat Out to Help Out« lancierte (Details: gov.uk, thelondoneconomic.com, 27.7.2020), welches den britischen Bürgern stolze 50% ihrer Restaurant-Rechnung übernahm. Die Johnson-Regierung sponsert bis zu 10 Pfund pro Essensgast, auch für Fastfood – während sie dieselben Bürger motivieren will, die Pfunde um die Hüfte zu verlieren. – Man könnte hier realistischerweise entgegnen, dass ein einmaliges Essengehen nicht wirklich einer langfristigen Gesundheitsverbesserung widerspricht, doch »von der politischen Optik her« schillert es tatsächlich.

Eine andere Kritik erschiene mir, pardon: gewichtiger. Ich kenne eine Reihe britischer Johnson-Fans, teils ansonsten mit geradezu heißen Herzensgefühlen für ihn, die heute und im Nachhinein seine ersten Reaktionen auf das China-Virus in kräftigen und keinesfalls nur positiven Worten beschreiben.

Johnson schüttelte demonstrativ vielen Menschen die Hände, als Experten bereits vorm Händeschütteln warnten (theguardian.com, 5.5.2020). Als der Familienvater Johnson dann selbst an Covid-19 erkrankte, spuckten einige taktlose Zeitgenossen derbe Sprüche aus – doch auch mancher Höfliche seufzte. Es wäre keine ungewöhnliche Taktik von Politikern, zur Ablenkung von ihren Fehlern ein Streitthema in die Debatte zu werfen. Wenn einer sagte, Johnsons so plötzliche wie öffentliche Schlankheitskur sei von doppeltem Überlebensinstinkt befeuert, vom biologischem wie auch vom politischen Überlebensinstinkt, ich wüsste ad hoc nichts zu widersprechen.

Die Wörterbuch-Definition

Vertun wir uns nicht, und benennen wir, da wir keine Lügner und noch weniger etwa Linke sein wollen, benennen wir alle Dinge beim Namen, auch dies: Was Johnson in Sachen britischer Volksgesundheit anstößt ist Propaganda.

Der Duden (der dringend Konkurrenz bräuchte, spätestens seit er einen durchaus umstrittenen Staatsfunker für sich schreiben lässt und so selbst in den Bereich der Propaganda abzugleiten drohen könnte) beschreibt die Bedeutung des Wortes »Propaganda« derweil noch als »systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen« (duden.de zu »Propaganda«)

In nur wenigen Ländern des sich »demokratisch« nennenden Westens ist die Propaganda so intensiv, teuer und den Bürger rund um die Uhr umfassend wie im traditionellen Propagandastaat Deutschland (siehe auch »2018, 1984 und die einfachen Wahrheiten«) – und doch, so unangenehm der Begriff »Propaganda« ist, kommt kaum eine Regierung vollständig ohne sie aus.

»Propaganda«, wie »Populismus«, ist einer jener Begriffe, die man immer nur bei den anderen ausmacht – selbst wenn man wie das Merkel-System absurd hohe Steuergelder in brachiale Propaganda steckt, welche die Wörterbuch-Definition von »Propaganda« geradezu übererfüllt.

Eine politische Kampagne, die das öffentliche Denken verändern will, ist Propaganda.

Sollte man als Demokrat und freiheitlich denkender Bürger gegen alle Propaganda sein? Natürlich möchte man das. Spätestens seit dem Propagandasturm 2015, als deutsche Medien alle im Chor ihr Loblieb »Willkommen, ihr Flüchtlinge!« erklingen ließen, seit 2016 eine Art »Ministerium für Liebe« zu entstehen schien, seit man selbst schon darin ermüdet, täglich denen da oben zuzurufen »1984 war nicht als Anleitung« gedacht, seit einiger Zeit schon haben wir den Eindruck, in einem Propaganda-Staat zu leben. (Wer nicht den Eindruck hat, wie sicher kann er sich sein, aus demselben Grund nichts von der Propaganda mitzubekommen, aus welchem der Fisch das Wasser nicht bemerkt?)

Es wäre mehr als verständlich, wenn wir uns aus Prinzip gegen jede Propaganda richten würden, auch gegen die, deren Themen und Absichten wir eigentlich zustimmen – doch wir könnten uns ins eigene Fleisch schneiden.

Stärker und gesünder

Es wäre ja, wenn wir es recht bedenken, auf einer Ebene eine Unverschämtheit, die deutsche Propaganda mit der Gesundheitskampagne Boris Johnsons zu vergleichen.

Heutige deutsche Propaganda manipuliert die Bürger, sich selbst echten Schaden zuzufügen, ihre Leben zu riskieren und den Wohlstand des Landes auf Jahrzehnte unwiederbringlich zu verjubeln. Johnsons Gesundheits-Propaganda will die Bürger überzeugen, stärker und gesünder zu sein, und so sich selbst und dem Land etwas Gutes zu tun. Johnsons Propaganda ist lebensbewahrend, deutsche Propaganda ist suizidal.

Die Suizidalität heutiger deutscher Propaganda ist eng verknüpft mit einem sehr wesentlichen strukturellen Unterschied in der Argumentation:

– Deutsche Propaganda leitet ihre Handlungsvorgabe von angeblicher Moral ab und tabuisiert das Reden über die Konsequenzen.

– Johnsons Gesundheitspropaganda leitet ihre Handlungsvorgaben von den Konsequenzen ab, und entwickelt daraus erst ihre Moral.

(Es hat wohl etwas mit Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik zu, wie es etwa im Text »Die Schuld der Gutmenschen« skizziert wurde.)

Unabsehbare Konsequenzen

Es wäre verständlich, wenn man Position gegen jede Form von staatlicher Meinungssteuerung bezieht, gerade in Deutschland mit seiner so zähen und langen wie unseligen Propagandatradition, doch es umzusetzen könnte unabsehbare und wohl auch ungewollte Konsequenzen auslösen.

Nehmen wir hypothetisch an, dass zwei Staaten miteinander konkurrierten, von denen einer die Bürger zu Verhaltensweisen motivierte, welche dem Wohl der Bürger und des Staates selbst diente, und ein zweiter es unterließ – es liegt im Bereich des Denkmöglichen, dass es den Bürgern mit der sinnvollen Propaganda tatsächlich mittel und langfristig besser geht, dass sie glücklicher sind (mit »glücklich(er)« meine ich: Mit dem Zustand ihrer »relevanten Strukturen« zufrieden(er)).

Aus der Bewertung, dass suizidale Propaganda wie in Deutschland das Leben schlechter und das Land schwächer macht, folgt (nur), dass suizidale Propaganda schlecht ist – und (noch) nicht, dass jede staatliche Beeinflussung öffentlicher Meinung schlecht ist.

Sogar Moses!

Jeder Staat braucht Propaganda, und jeder Staat betreibt sie. Das Problem ist nicht allein, dass Propaganda und Meinungssteuerung getrieben werden, sondern dass sie sich in Deutschland nicht öffentlich rechtfertigen muss, während sie dem Land aktiv schadet.

Das Familienministerium treibt Propaganda unter dem orwellschen Decknamen »Demokratie leben!«, und wie vom Merkelsystem zu erwarten werden die Inhalte nicht in breiter Öffentlichkeit diskutiert. Die Regierung überweist Geld an Zeitungen – ich wage zu behaupten, dass mindestens diese Überweisung damit von den Titelseiten verschwindet. Ausgerechnet Staatsfunker führen zynischerweise hehre Ausdrücke wie »Pressefreiheit« an, wenn es in Wahrheit darum geht, frei von den Regeln zu sein, die für alle anderen Akteure der (Rest-) Demokratie gelten.

Ja, es braucht öffentliche Meinungsbeeinflussung – doch gerade diese muss sich rechtfertigen! Boris Johnson kann seine Gesundheitspropaganda rechtfertigen: Tut es, damit ihr nicht sterbt! Heutige deutsche Propaganda tabuisiert die Frage nach der Begründung und Konsequenz, sonst müsste sie ja ehrlicherweise rufen: »Tut es, und dann werden einige von euch halt unnötig sterben, aber besser zu sterben als ein ›Nazi‹ zu sein.«

Sogar Moses musste dereinst, als er die Hebräer aus Ägypten führte, sich vor seinem Volk erklären und rechtfertigen. (Bibelkenner wissen, dass die Geschichte der Wanderung durch die Wüste eigentlich eine Geschichte von 40 Jahren Beschwerden ist – zu Jiddisch: kvetchen.)

Ich weiß ehrlich nicht, was für eine Zukunft der Gedanke der Demokratie heute noch hat, zu viele Aspekte moderner Konsumkultur und der Realität etwa im deutschen Propagandastaat greifen das Fundament der Demokratie direkt an. Da ich kein Linker bin, weiß ich zu unterscheiden zwischen dem, was ich mir wünsche, und dem, was wahrscheinlich ist.

Ob Demokratie, Monarchie, Einparteienstaat, Diktatur, Gottesstaat oder eine dieser neuen Mischformen, wo Konzerne die wahre Richtung bestimmen während den Bürgern eine ihnen gewohnte Regierungsform vorgespielt wird – der Staat der Zukunft wird klügere (und nicht ganz so dicke) Menschen brauchen.

Letztens schrieb ich über Googles entspannt-lockeren Ansatz, mal eben und schrittweise die Unis überflüssig werden zu lassen (Essay »Irgendwas ist immer (und dann waren die Unis irrelevant)«). Das Fundament, auf dem wir bis eben noch standen, zerbricht unter unserer Füßen – doch es wird auch gleich wieder neu zusammengesetzt!

Am Ende gewinnt immer die Realität – und die Realität ist, dass der Staat mit der klügeren Regierung und den klügeren Bürgern gewinnen wird.

Manche meinen, dass 2020 ein Jahr des Umbruchs ist. Ich meine, dass es erst der Beginn des Beginns der neuen Dinge ist.

»Es ist ja nichts mehr sicher!«, so ruft jemand, und ich rufe zurück: »Das stimmt, doch es bedeutet auch: Alles ist noch offen!«

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