Am heutigen Morgen, noch bevor all die anderen Dinge dieses Tages passierten, was war dein Vorhaben für diesen Tag?
Was hattest du vor, bevor all die Ablenkungen auf dich einprasselten?
Zwei Szenarien sind denkbar, in denen diese Frage nicht auf dich zutrifft: Vielleicht hattest du gar nicht erst einen Plan, dann kann es auch keine Ablenkungen geben. Oder aber du hast dich tatsächlich nicht ablenken lassen, und in diesem Fall nimm meinen Glückwunsch für deinen stählernen Charakter entgegen – dieses Kapitel dient dir dann mehr zur Vergewisserung.
Wenn es dir aber geht wie mir, dann ringst du darum, heute wie jeden Tag, dich nicht ablenken zu lassen.
Das Soufflé entfernt sich selbst
Ich las, unter vielem anderen, diese Schlagzeile: »Mann zielt nachts in Menschenmenge: Schießerei in Berlin und Clan-Boss Abou-Chaker ist dabei!« (bild.de, 07.01.2025)
Was auch immer meine Pläne und Absichten zuvor waren, wie kann man von solchen Meldungen denn nicht abgelenkt werden?
Dann las ich schmunzelnd Kommentare zum Rücktritt des schon sehr lange sehr lächerlichen Justin Trudeau in Kanada (tagesschau.de, 07.01.2025). Über Kanada als WEF-Experimentierlabor und Trudeau als Posterboy des woken und anti-westlichen Globalismus hatte ich über die Jahre öfter geschrieben, zum Beispiel im Essay »Alternative Fakten und das große Narrativ« vom 16.1.2018. Die deutsche Propaganda hatte den luftig-lustigen Trudeau einst als »Mutmacher« gepriesen (tagesschau.de, 16.02.2017). Bei den Freunden von Gates und Relotius feierte man einst, wie Justin »mit seinen Socken Politik macht« (spiegel.de, 22.09.2017). Ich schrieb im Essay vom 1.3.2019 davon, wie im Kontext von Korruptionsvorwürfen eigentlich das Trudeau-Soufflé zusammengefallen war – es sollte noch fünf weitere Jahre dauern, bis das kollabierte Soufflé sich dann auch selbst entfernte.
In Österreich wird derweil wohl die konservative FPÖ den nächsten Kanzler stellen, und amüsiert las ich am Morgen dieses Kapitels, wie die Mainstream-Söldner in Deutschland darüber wutentbrannt schnaufen (vergleiche bild.de, 07.01.2025).
Ich las noch so manches, was meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte – und sollte –, was also meinen Geist hätte ablenken können. Ich las etwa noch vom grünen Größenwahn und vom Freidrehen gewisser Staatsfunker. All das zerrte an mir, zerrte an meiner Aufmerksamkeit und wollte mich ablenken von meinem Vorhaben, Kapitel für Kapitel zu erarbeiten, ob und wie der Mensch bestimmen kann, in welcher der beiden »Glocken« er sich demnächst wiederfindet.
Die mich inspirierte
Es zerrt und reißt an mir, vom ersten Moment des Wachwerdens an.
Ich hörte mal das ätzende Bonmot, Frauen inspirieren Männer zu großen Taten … und hindern uns dann daran, diese auszuführen. – Ich muss das korrigieren, indem ich es erweitere, zumindest für mich als Schreiber gilt: Das Leben in all seinen verwirrten Verästelungen inspiriert mich zu Texten … und dann lenkt mich genau jene Art von Ereignissen, die mich inspirierte, von der Umsetzung und/oder Fertigstellung des Inspirierten ab.
Ein Schreiber aber, der seine Texte nicht zu Ende schreibt, der ist von außen nicht zu unterscheiden von einem Möchtegern, der überhaupt nicht schreiben kann. Auch auf diese Weise gilt: Ablenkung macht dumm.
Hund sei Dank
Man empfiehlt Schreibern seit jeher, stets ein Notizbuch mitzuführen (heutzutage wohl auch eine Notizen-App).
Der erste und oberflächliche Zweck der jederzeit möglichen Notiz besteht natürlich darin, Ideen vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Einige meiner beliebtesten Essays wurden von Ideen inspiriert, die mir beim Spazierengehen mit dem Hund einfielen – doch es wurde nur deshalb später ein Text daraus, weil ich die Ideen unterwegs sofort notierte.
Ein bei meinen geschätzten Lesern recht populärer Essay enthält den Hund sogar als Gegenstand und Metapher, nämlich der Text »Hund an der Leine« vom 14.9.2021. Und nicht selten, auch bei jenem Text vom Hund an der Leine, lagen zwischen Notiz und Umsetzung viele Monate – es wäre doch schade gewesen, wenn ich die schöne Idee vergessen hätte!
Das sofortige Notieren hat neben dem Nichtvergessen noch einen weiteren, sehr nützlichen und auch notwendigen Zweck: die konstruktive Anwendung der Wahrheit in »aus den Augen, aus dem Sinn«.
Wenn ich mir eine Idee, Frage oder besonders prototypische Nachrichtenmeldung nicht notiere, versucht mein Gehirn sich in der absurden und zuverlässig vergeblichen Übung, diese Idee dauerhaft im Kurzzeitgedächtnis parat zu halten. Nein, das kann nicht gelingen. Doch bis das Gehirn die Unmöglichkeit dieses Vorhabens einsieht, ist mein Denken abgelenkt – und zwar von sich selbst!
Noch diese Felsmalerei beenden
Es wäre einfach(er), Ablenkungen abzuwehren, wenn nicht praktisch jede Ablenkung eine Berechtigung vorweisen könnte!
»Kannst du mal eben kurz …« – ach, wer so fragt, warum mischt er mir nicht gleich Chloroform in den Kaffee? Die Wirkung für mein Denken wäre die gleiche. Und bei Chloroform bekäme ich es zumindest nicht auf so schmerzhafte Weise mit, dass und wie mir Denk- und Lebenszeit durch solche Ablenkung gestohlen wird.
Das Teuflische an der Ablenkung durch Nachrichten aber ist die Tatsache, dass es unnatürlich ist, sich nicht ablenken zu lassen.
Es war einst für Menschen überlebenswichtig, jeder möglichen Gefahr sofort mit voller Aufmerksamkeit zu begegnen.
Wenn ein Säbelzahntiger umherstreifte, dann wäre es für die Savannenbewohner wenig ratsam gewesen, zu sagen: »Nein, ich lasse mich vom Säbelzahntiger nicht ablenken, ich habe noch diese Felsmalerei zu beenden.«
»Bad news is good news«, so heißt es bekanntlich im Nachrichten-Business: »Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.«
Das bedeutet allerdings: Der Mensch ist von Natur darauf programmiert, buchstäblich alles stehen und liegenzulassen, wenn er von Gefahr hört. Als man von Gefahren immer nur un-mittel-bar erfuhr (also ohne Medium zwischen dem Ereignis und einem selbst), bedeutete das Gewahrwerden einer Gefahr immer auch aktuelle, konkrete Bedrohung des eigenen Lebens. Sich nicht ablenken zu lassen, war potenziell tödlich.
Medien nutzen aus, dass der Mensch ein Wesen mit einem Gehirn aus der Steinzeit ist, in einer wesentlich aus dem späten Mittelalter stammenden Gesellschaftsform und mit Werkzeugen aus der Zukunft – also lenkt man uns ab.
Im Eingangsbereich ein Messer
Während ich noch an diesem Kapitel schreib und die innere Mechanik der (Nicht-)Ablenkung erarbeite, erfahre ich von einer Geiselnahme im beschaulichen hessischen Rimbach. Ich lese: »In einem Video, welches im Netz kursiert, sieht man schreckliche Szenen: Der Täter steht im Eingangsbereich der Bank, hält der Frau von hinten ein Messer an den Hals.« (bild.de, 07.01.2025)
Die vorsichtige Formulierung klingt wie ein Code, den automatisch zu dechiffrieren inzwischen ein Teil moderner Medienkompetenz ist. Ich suchte das Video, es war leicht zu finden. Der im Text nicht näher beschriebene Täter und sein imposanter schwarzer Bart sind von jenem Phänotyp, den man früher als »südländisch« beschrieben hätte.
Was da passierte, ist womöglich prototypisch für eine akute Gefahr, nicht nur für die Menschen in beschaulichen hessischen Städtchen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Also muss es geradezu meine Aufmerksamkeit binden – und doch ist all dies Ablenkung!
Aus dem Augenwinkel
Ich kann nicht jetzt sofort etwas daran ändern, dass es insgesamt ist, wie es ist. Sicher, ein Bürger kann versuchen, »dagegenanzuwählen«. Der Bürger kann sein Leben (oder zumindest die Zukunft seiner Kinder) langfristig strategisch entsprechend planen. Doch dass ich heute von den neuesten Iterationen des andauernden Wahnsinns erfuhr und also abgelenkt war, hat nur geringen praktischen, konkreten Nutzen.
Ich habe doch Ziele. Ich will mir (und damit uns) erarbeiten, wie der Mensch seine natürliche Intelligenz mit künstlicher Intelligenz zu hybrider Intelligenz verbinden kann, um sich in der »rechten Glocke« wiederzufinden.
Die Nachrichten inspirieren und motivieren mich dazu, so schnell wie menschen- und maschinenmöglich klüger zu werden – und ironischerweise könnten mich genau dieselben Nachrichten davon ablenken. Ich notiere manche dieser Nachrichten und Fragen auch zu dem Zweck, meinem Gehirn die gefühlte Erlaubnis zu geben, diese Gefahren für den Augenblick loszulassen.
»Bleib dran«, so ermahne ich mich selbst, »und beobachte die Gefahr eher so aus dem Augenwinkel.«
Vermeide nach Kräften, vom Säbelzahntiger gefressen zu werden – doch lasse die »Vermeidung des Gefressenwerdens« nicht selbst wieder eine »innere Art des Gefressenwerdens« werden.