Dushan-Wegner

14.09.2021

Hund an der Leine

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Anna Dudkova
Es gibt Hunde, die bestehen darauf, an die Leine genommen zu werden. In der Freiheit sind sie unglücklich, an der Leine aber knurren und kläffen sie kampfeslustig alle Katzen und Kollegen an. Woran erinnert uns das bloß?
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Unsere Nachbarn haben einen Hund, es ist ein zuckersüßes Wesen! Der Vater war wohl ein Schäferhund, die Mutter ein Spaniel, und irgendwo muss ganz viel Kuscheltier in die Mischung geraten sein.

Von Zeit zu Zeit ist es mir eine Ehre und eine Freude dazu, mit diesem Hund spazieren zu gehen.

Früher, als dieser Hund mich noch nicht kannte, knurrte er mich an, wenn er mich traf. Mittlerweile titscht er fröhlich wie ein Gummiball, wenn er mich sieht. Er springt dann an mir hoch und wedelt so wild mit dem Schwanz, dass ich mich frage, ab wieviel Umdrehungen pro Sekunde der Schwanz wie ein Propeller wirkt und den Hund nach Art der Cartoons rückwärts in die Luft zieht.

Ich gehe also mit jenem Hund gelegentlich spazieren. (Nennt man es auch dann »Gassi gehen«, wenn es nicht durch Gassen sondern in die Natur geht?)

Wir gehen gern auf ein Feld. Dort werfe ich dies und das, und der Hund läuft los, um das Geworfene zu suchen. Er findet nicht selten etwas ganz anderes, und anschließend vergisst er, es zu apportieren. Wer könnte so ein Tier nicht lieben?

Auf dem Feld kann der Hund schnüffeln, wer sonst noch alles da war. Er kann die gelegentliche Katze anknurren und nach Schmetterlingen schnappen. Kurz: Wenn der Hund ganz Hund sein kann, ist er glücklich, so müsste man doch meinen – und wer würde so einem Tier nicht ein wenig Glück wünschen? Wie kurz ist sein Leben, wie unschuldig seine Seele!

Im Feld kann der Hund frei laufen, ohne Leine, ohne Gefahr (außer für die Schmetterlinge, die müssen sich vor ihm hüten, sonst ist schnell ein Flügel weg – und fragen Sie die deutsche Politik, wie schnell man ins Trudeln gerät, wenn ein ganzer Flügel fehlt, zum Beispiel der rechte).

Auf dem Feld kann der Hund frei laufen, wenn er will.

Ich betone: »wenn er will«!

Ich erinnere mich, als es mir zum ersten Mal passierte, dass der Hund sich mitten im Feld auf eine Anhöhe setzte, und nicht weiterlief, sondern mich bloß anschaute.

Ich ging weiter, aber er folgte mir nicht. Er guckte mich an. Er war friedlich, aber unbewegt.

Vielleicht wollte er mir sagen, dass er wieder nach Hause gehen wollte? Ich machte mich also in Richtung unseres Zuhauses auf, doch er bellte einmal deutlich, blieb sitzen, einzig sein Kopf folgte meinem Blick.

Der Hund schien nicht verletzt zu sein. Ich weiß, wie er sich die Pfote leckt, wenn er in einen Dorn getreten ist. Es war ihm auch nicht zu heiß. Getrunken hatte er auch genug, und es es war auch nicht Essenszeit. Nein, körperlich fehlte nichts. Was beschäftigte ihn? 

Ich wollte ihm Zeit geben. Vielleicht brauchen auch Hunde ihre Nachdenkzeit, um ihre Hundegedanken zu ordnen. Doch da bellte er wieder, und er forderte mich offenbar zu einer Handlung auf. Aber zu welcher?

»Alter«, sagte ich zum Hund, »ich weiß es nicht. Lass uns mal weitergehen, dann finden wir es heraus!«

Der Hund bellte wieder und stand auf, aber er bewegte sich nicht vom Fleck.

»Na gut«, sagte ich, und nahm den Hund wieder an die Leine.

Ich wollte mich beim Hund entschuldigen, dass ich ihn wieder angeleint hatte, mitten im Feld, doch ich kam nicht dazu.

Kaum war der Hund wieder an der Leine, rotierte der Schwanz des Hundes wieder fröhlich, und wir zogen sofort los, tiefer ins Feld, an jedem Stein schnuppernd (also der Hund schnupperte an den Steinen, nicht ich).

Ich schrieb mir als Notiz auf: »Der Hund weigert sich, weiter zu gehen, wenn er nicht angeleint ist.«

Ja, an manchen Tagen, so scheint es mir, da liebt dieser Hund die Ungebundenheit immer nur für ein paar Minuten. Dann wird ihm die Freiheit zu viel, und er will wieder an die Leine.

Angeleint läuft er dann gutgelaunt neben mir her, so ich ihm nur die Zeit gebe, an Steinen und Sträuchern zu schnüffeln und seine Version von Social Media zu lesen (also wer wann was wohin gepinkelt hat).

Wäre es arg unverschämt von mir, manche unserer Mitmenschen mit einem gern-angeleinten Hund zu vergleichen? Einem Hund, der sich nur dann wohlfühlt, wenn er an der Leine geführt wird? Ein Hund, der mutig die Katzen und Schmetterlinge ankläfft, solange nur das Herrchen ihm enge Grenzen setzt? Ein Hund, der arg nervös wird, wenn keine Leine ihm Weg und Richtung vorgibt?

Ach, ich will noch unverschämter sein, ich will es umdrehen: Ich vergleiche diesen Hund mit jenen Menschen.

Dem Hund sei es verziehen, wenn er von diesem oder jenem Menschen an die Leine genommen werden will. Alle Frauchen und Herrchen um diesen konkreten Hund herum wünschen ihm tatsächlich nur sein Bestes.

Was aber jene Untertanen betrifft, diese braven Bürger, welche den Gehorsam fürs höchste Gut halten, denen Gleichschritt der liebste Gang ist, bei diesen Gestalten ist die Lust an der Leine keinesfalls gerechtfertigt! Selbst wenn sie sehen sollten, dass sie an der Leine in den Abgrund geführt werden, so werden diese Angeleinten die Freiheit noch immer mehr fürchten als den Abgrund.

»Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod!«, so rief Patrick Henry einst (siehe Wikipedia). Erschreckend viele Bürger würden heute rufen, was ich den Kampfruf der Angeleinten nenne: »Gebt mir den Tod, bevor ihr mir die Freiheit gebt!«

Der Hund mag sich an der Leine wohler fühlen, und das ist okay so.

Du aber magst zuckersüß und niedlich sein, ein Hund bist du dennoch nicht. Dir steht die Leine nicht gut, dir steht die Freiheit viel, viel besser!

Weiterschreiben, Wegner!

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