Dushan-Wegner

17.01.2022

In Ruhe mein Toast essen

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Jan Valečka
Wer heute einfach nur sein Leben leben will, so wie es bis zur Jahrtausendwende möglich war, wer auf Grundrechten und demokratischen Werten besteht, der gilt bald als neuer »Staatsfeind«. Gefährlich absurde Zeiten.
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Leopoldo Pisanello, so darf mit ausreichend Sicherheit gesagt werden, bevorzugt zum Frühstück zwei Scheiben getoastetes weißes Brot, darauf Butter und Marmelade, dazu einen Kaffee mit Milch, aber ohne Zucker.

Pisanello ist Vater und Ehemann, er arbeitet im Büro, und er geht schon mal ins Kino. Er hat Meinungen zur Welt, die niemanden interessieren. Er sieht die Schönen und Berühmten im Fernsehen, und er weiß, dass sie eine andere Welt bewohnen als er. Und dann wird alles ganz anders.

Eines Morgens holt eine Limousine ihn ab, während Dutzende Reporter ihn interviewen wollen. Er ist plötzlich berühmt, und hat keinen Schimmer, wieso das so ist. Man befragt ihn zu den banalsten Details seines Lebens. Welche Unterwäsche er trägt, ob er sich mit dem Strich oder gegen den Strich rasiert. Und ob er dunkles oder helles Toastbrot zum Frühstück bevorzugt.

Filmkenner haben es erkannt: Die Rede ist hier von der Rolle des genialischen Roberto Benigni in Woody Allens Film »To Rome with Love«.

Allen sagt über den von ihm geschriebenen Charakter: »Leopoldo hat überhaupt kein Talent, er ist eine normale, gewöhnliche Person.« (sonyclassics.com/toromewithlove/; meine Übertragung aus dem Englischen)

Ja, Pisanello ist fürwahr gewöhnlich – bis er dann, ganz ohne sein Zutun und damit ohne seine Schuld, ungewöhnlich wird.

Wer ist Staatsfeind?

Auf Twitter trendet seit bald drei Tagen der Hashtag »#IchbinStaatsfeind«.

Die Selbstbezichtigung ist sarkastisch und ironisch gemeint. Es ist eine Reaktion auf eine Äußerung des Verfassungsschutz-Chefs Haldenwang (CDU, unter Merkel eingesetzt, löste Maaßen ab, nachdem dieser sich öffentlich geweigert hatte, Merkels Chemnitz-Lüge mitzutragen; siehe Essay vom 17.9.2018).

Man hört gelegentlich den Vorwurf, dass der Bundes-Verfassungsschutz unter Haldenwang recht offen gegen die AfD zu agieren scheint. Man erklärte die AfD PR-wirksam zum »Prüffall« (Essay vom 15.1.2019), und interne Gutachten wurden von irgendwem an linientreue Journalisten durchgestochen (Essay vom 18.1.2019). Bald schien jeder Zweifel an der Regierung mit dem Gift-Begriff »rechtsextrem« in Verbindung gebracht zu werden (Essay vom 2.4.2020).

Der Verfassungsschutz betätigt sich unter Haldenwang als eine Art »Amateur-Philosophiestadel«. Spätestens 2021 schien der Verfassungsschutz nach mancher Ansicht recht offen in der politischen Debatte mitzuspielen. Man entdeckt eine »neue Extremistenart« (heise.de/tp, 28.4.2021), nämlich die »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« (faz.net, 28.4.2021 und verfassungsschutz.de, 29.4.2021).

Dies ist eine Zeit, in welcher es politischer Usus ist, störende Meinung als »demokratiefeindlich« und Abweichler als »Demokratiefeind« zu titulieren. (Logik: »Wir sind Demokraten, also ist jeder, der uns widerspricht, ein Demokratiefeind – oder eben ein Staatsfeind.«)

»Ich bin Staatsfeind« ist die Reaktion auf neueste Äußerungen von Haldenwang, welcher von einer neuen Szene von Staatsfeinden innerhalb der Demonstranten gegen die Corona-Politik sieht. »Sie lehnen unser demokratisches Staatswesen grundlegend ab«, behauptet er (siehe tichyseinblick.de, 16.1.2022).

Es ist die Logik eines Propagandastaates: Wer Grundrechte, funktionierende Demokratie und volle Rechtsstaatlichkeit einfordert, der lehnt »unser demokratisches Staatswesen grundlegend ab«? Nun ja.

Als »Staatsfeind« fühlt sich heute, wer auf mögliche logische Lücken – oder blanke Lügen? – der Corona-Gesetze hinweist (siehe dazu auch den Essay vom 15.1.2022):

#IchbinStaatsfeind , weil ich dem Staat das Recht abspreche, Freiheitsrechte bei Ungehorsam zu entziehen und als Privilegien für Wohlverhalten zu gewähren. (@olivergorus, 15.1.2022)

Als »Staatsfeind« fühlt sich ja heute auch, wem der Psychoterror gegen Nichtgeimpfte echtes Bauchweh beschert:

#ichbinstaatsfeind weil ich gegen psychische Gewalt gegen Nichtgeimpfte bin. (@Nidi74940865, 15.1.2022)

Als besonders gefährlicher »Staatsfeind« fühlt sich heute aber jeder, der offensichtliche Widersprüche in der Politik aufzeigt; etwa so:

#IchbinStaatsfeind weil ich komisch finde, dass man ohne Pass ins Land kommt aber nicht ohne Impfpass zu Karstadt. (@BlondJedi, 16.6.2022)

Wir kennen jenen Witz vom Geisterfahrer, der die anderen Fahrer alle für die wahren Geisterfahrer hält. Er hört, dass im Autoradio vor einem Autofahrer gewarnt wird, und er ruft aus: »Einer? Tausende!« – In der Geschichte gab es tatsächlich immer wieder Situationen, in denen es die Mehrheit des Volkes war, die später als die »moralischen Geisterfahrer« galten.

Seit Jahrzehnten unauffällig

Das gefährlich Absurde an der aktuellen Lage ist ja: Wer heute noch die Werte hochhält, die bis in die ersten Merkel-Jahre hinein galten, wer einfach nur sein Leben leben und ansonsten in Ruhe gelassen werden will, für wen Freiheit und die übrigen Grundrechte nicht nur etwas sind, das deutsche Politiker im Ausland einfordern, wer trotz totalitären Seitenwindes nicht den gesunden Menschenverstand aufgibt, der findet sich heute plötzlich als »Staatsfeind« wieder.

Ich kenne Bürger, deren Werte seit Jahren stabil sind und die ihr Leben seit Jahrzehnten unauffällig lebten – doch plötzlich sind sie das schwarze Schaf in ihrem Umfeld, weil sie aktuelle Entscheidungen nicht mittragen.

Man könnte sagen: Ein Bürger, der einfach nur »normal bleibt«, der könnte sich heute in der Rolle wiederfinden, plötzlich gegen seinen Willen und ohne sein aktives Zutun auf unangenehme Art »berühmt« zu sein.

Lieber wieder unberühmt

Der gewöhnliche Leopoldo Pisanello aus dem Film wird gewohnt grandios von Roberto Benigni gespielt, und Benigni sagt über Pisanello: »Leopoldo war glücklich und zufrieden, bevor er berühmt wurde. Er hatte Harmonie im Leben. Als aber seine Harmonie umgeworfen wird, gerät auch er völlig durcheinander, und er will verstehen, was mit ihm geschieht.« (sonyclassics.com/toromewithlove/; meine Übertragung aus dem Englischen)

Ein unschöner Unterschied zwischen Leopoldo Pisanello aus dem Film und der heutigen Situation manches Beharrlichen ist ja, dass Pisanello nach erster Irritation durchaus Freude an seiner Situation findet – und später ist er sogar etwas enttäuscht, als es vorbei ist.

Ich kenne heute täglich mehr »Pisanellos«, die sich nach Jahrzehnten eines unauffälligen, braven, steuerzahlenden und rundherum vernünftigen Lebens in einer Situation gänzlich unerwünschter »Berühmtheit« wiederfinden – und ein jeder von ihnen/Ihnen wäre lieber wieder unberühmt.

Nichts daran geändert

»With age comes wisdom«, sagt einer der jüngeren Charaktere im erwähnten Film; zu Deutsch: »Mit dem Alter kommt die Weisheit«.

Ein Senior-Charakter (John, ein Architekt, der womöglich ohnehin nur im Kopf von Jack »existiert«) antwortet darauf: »With age comes exhaustion«; zu Deutsch: »Mit dem Alter kommt die Erschöpfung.«

Ich erlebe heute beides: Ich bin gezwungen, in eigener Sache abzuwägen, was denn eine weise Entscheidung wäre (Gedankenübung: »Was würde ein weiser Mann an Ihrer Stelle tun? Sehen Sie, Sie haben das Zeug zur Weisheit!«). Und: Ich bin zwar noch nicht »erschöpft« genug, um einzuknicken – doch ich verstehe jeden und ich verurteile keinen, der eben doch zu erschöpft ist.

Mancher ist heute zumindest in seinem Umkreis »berühmt«, der wirklich nicht berühmt sein wollte. Andere Leute sind bereits berühmt, doch sie drücken sich um eine klare Aussage, damit ihre Berühmtheit nicht einen anderen, falschen Grund erhält.

Ich verstehe die Erschöpften – und ich will bekräftigen, dass heute ein jeder in eigener Angelegenheit weise werden muss.

Ich fing damals mein öffentliches Schreiben an, um zu dokumentieren, dass ich eigentlich nur »in Ruhe mein Toast essen« möchte. Ich kann Ihnen versichern, dass dem auch weiterhin so ist.

Weiterschreiben, Wegner!

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