Ich vermisse die Zeit, als ich am Kölner Hauptbahnhof eine Zeitschrift kaufte und mich dann ganz in ein Thema vertiefte.
Wofür ich mich auch interessierte, immer gab es eine Zeitschrift dafür. Windsurfen oder Modellbau, US-Politik oder das damals super neue Internet. Ich kaufte mir eine Zeitschrift – oder zwei oder drei – und dann las ich sie von Anfang bis Ende – manche Passagen mehrfach.
Heute hole ich beliebige Information in Sekunden auf einen der vielen Bildschirme um mich. Jedoch, so schnell wie die Information auftaucht, so schnell wird sie wieder verdrängt.
Ich bin abgelenkt. Ich lasse mich ablenken. Ich lenke mich selbst ab. Ich will stets ehrlich sein: Ich weiß gar nicht mehr, wie sich ein Leben ohne Ablenkung anfühlt.
Wissen Sie noch, als wir in Bibliotheken saßen, wenn es dort so schön ruhig war? Wir probierten Bücher aus, wie man Kleidung anprobiert. Das Aufwühlen des Geistes durch Worte und Ideen ist überraschend beruhigend.
Dann kamen Internet, und Notebooks. Mit der Elektronik krochen die ersten Möglichkeiten ein, sogar in der heiligen Bibliothek abgelenkt zu werden. Dann kamen die Handys und die Handyverbote. Elektronisches Klingeln, das Zischen (»psst, ruhig sein, wir sind hier in der Bibliothek«). Leute, denen das Gerät auf dem Tisch vibrierte, die drangingen (»Moment, ich bin in der Bibliothek«) und sehr gemächlich hinausstürmten.
Ist es heute noch so in Bibliotheken? Ich weiß es nicht, ich war schon länger nicht mehr in einer.
Ja, ich vermisse die Zeit, als ich mich ganz in ein Thema hineinarbeiten konnte, nicht nur zwei oder 3 Stunden lang, sondern über Tage hinweg, manchmal wie beim Modellbau, einen ganzen Sommer.
Liegt es an »der Elektronik«, dass ich mich schwertue mit der Konzentration?
Nun, sie hilft nicht. An diesem Punkt des Textes habe ich wie automatisch mal auf bild.de vorbeigeschaut. Ich lese: »Mord-Rätsel in Ingolstadt: Eltern finden Tochter (23) tot auf Mercedes-Rückbank«. (Der Link: bild.de, 17.8.2022 – und indem ich es verlinke, lenke ich Sie ab.)
Wie hilft es diesem Text? Warum habe ich mich selbst damit abgelenkt? Womöglich ist es »FOMO« – »Fear of missing out« – zu Deutsch: »Die Angst, etwas zu verpassen«.
Bin ich jetzt besser informiert, wenn ich weiß, dass in Ingolstadt etwas Schreckliches geschah? Bin ich klüger, glücklicher? Hat mein Leben mehr Sinn und Bestimmung erhalten? Nein, nichts von alledem. Warum habe ich aber geklickt und gelesen? Weil niedere Instinkte es so wollten.
Aber, ach, Elektronik und der Appell an primitive Ängste sind ja längst nicht das Einzige, das meinen Gedankenstrom auffächern und zerteilen will, bis jede Verästelung meines Geistes für sich dünn und zerbrechlich ist.
Früher, als ich mir Zeitschriften beim Kölner Hauptbahnhof kaufte, war ich nicht bloß »jung« – ich trug schlicht weniger Verantwortung als heute. Und mit »weniger« meine ich: »(so gut wie) keine«.
Heute hämmert in jeder Sekunde in meinem Hinterkopf die Verantwortung für meine relevanten Strukturen mit. Für »das Übliche«, wie Kinder und Haushalt. Weil ich leichtsinnig genug war, mich zum »Essayisten« erklärt zu haben – hatte ich denn eine Wahl? – spüre ich auch noch die vertrackte Verantwortung für die innere Stabilität aller in jenem Kreis, der sich aus meinen Lesern und mir bildet.
Oder so: Verantwortung lenkt mich davon ab, meiner Verantwortung nachzukommen.
Ich will die Pflichten ja gar nicht loswerden. Und ich will auf keinen Fall die elektronischen Möglichkeiten missen! Es war ja nicht besser damals, dass man zum Nachschlagen einer Information zunächst in die Stadt fahren musste, in die Bibliothek gehen sollte, die richtige Abteilung suchen durfte, um dort zu hoffen, dass das notwendige Buch nicht entliehen war.
Jedoch, es macht mir Sorge, wie schwer es mir an manchen Tagen fällt, mich auf eine Angelegenheit und nur auf eine Angelegenheit zu konzentrieren.
Ich blicke mich um, ich rede mit anderen Menschen, und ich stelle fest, dass es denen teils noch viel schwerer fällt als mir. Viel schwerer.
Wie aber soll eine Gesellschaft funktionieren, wenn immer weniger Menschen einen Gedanken auch nur über die Länge einer Zeitschriften-Lektüre verfolgen können?
Ereignisse und Meldungen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die Ablenkung bedient sich psychologischer Mechanismen, die eigentlich unser Leben schützen sollen, indem sie unser Bewusstsein auf potenzielle Gefahren richten. Tatsächlich aber kann unkontrollierte Ablenkung mein Leben in die Sinnlosigkeit gleiten lassen – oder sogar in reale Gefahr. Mit anderen, knapperen Worten: Ablenkung tötet (nicht nur beim Autofahren).
Und wenn ich alles Wissen der Welt im Kopf hätte, wenn ich keine Nachricht verpasste und alle Fakten wüsste, es wird mir doch alles nichts nutzen, wenn ich mir nicht die Zeit nehme, darüber nachzudenken, was es bedeutet und wie es zusammenhängt.
Ich stand gestern im Supermarkt am Regal mit den Zeitschriften. Die Magazine, an die ich mich von früher erinnern konnte, hatten sie nicht mehr. Ich hätte ja gerne aus Nostalgie ein Modellbaumagazin gekauft. Sie hatten keines davon da. Sie hatten nur Klatsch und Tratsch, und die üblichen Politik-Postillen, die heute abdrucken, was letzte Woche im Internet stand.
Die Welt um uns herum gleitet in Zustände, für die uns noch die Erklärungen fehlen. Der Einzelne fragt sich, ob er überhaupt noch etwas an der Welt ändern kann – oder ob er zunächst sich und seine Lieben in Sicherheit bringen sollte.
Ich möchte die mir lieben Menschen in Sicherheit bringen – und ihnen doch den Mut geben, selbst in die Welt aufzubrechen. Und wenn sie sich helfen lässt, will ich auch gerne »der Welt« helfen – schon meiner Kinder wegen. Es macht mich nicht froh, meine Kinder in eine Welt loszuschicken, in der sie so schreckliche Nachrichten lesen müssen, wie heute diese Nachricht aus Ingolstadt.
Doch, damit und bevor ich all das unternehme, will und muss ich neu Herr meines Denkens werden. Kreise ordnen und den Innenhof sichern.
Die Kunst des Lebens bleibt, heute mehr denn je, am Wahnsinn unserer Zeit nicht selbst wahnsinnig zu werden.