Dushan-Wegner

24.04.2024

Die Welt apfelt

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Magst du einen Apfel?«
Die Welt bringt Äpfel hervor (via Apfelbaum) … und auch Menschen (via Mutter). Doch nicht jeder »Apfel« ist gleich. Spontan gefragt: Was für ein Apfel wirst du gewesen sein? (Alle Antworten zählen, nur »faul« wäre etwas, äh, faul.)
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Dies ist der dritte Essay dieser »Zwischenstandswoche«. Nach fünf Lebensjahrzehnten notiere ich sieben Lektionen, die ich bislang lernte. Zuerst sprach ich von Wirkung und Ursache. Dann über den Affen und Philosophen in einem jeden von uns.

Nach der Erforschung grundlegender Prinzipien und dem Einblick in unsere gespaltenen Naturen, wollen wir in diesem dritten Essay den Blick und die Perspektive weiter heben.

Viel zu kleine Hoffnungen

Im Essay »Süchtig nach Traurigkeit« erwähnte ich letztens jenes wunderschöne Gleichnis von der Welt, den Menschen und den Äpfeln: Weisheitslehrer Alan Watts beschrieb die Welt seinerzeit als »apfelnd«, auf Englisch: »appling« (siehe YouTube!).

Apfelbäume lassen Äpfel wachsen, und da sie ein Teil der Welt sind, ist dadurch die gesamte Welt »apfelnd«.

Auf ähnliche Weise aber bringt die Welt uns Menschen hervor. Man kann sagen: Die gesamte Welt »is peopling«, etwa: »menschelnd«, oder auch: »Menschen hervorbringend«. Klingt zunächst theoretisch, doch wenn man es einmal begreift, kann es sehr praktisch beruhigend wirken!

Jeder Mensch sieht die Welt naturgemäß aus seiner individuellen Perspektive – aus welcher auch sonst? Unser größtes Problem erscheint uns als das größte vorstellbare Problem überhaupt. (Aber auch: Unsere größte Hoffnung lässt es schier unvorstellbar erscheinen, dass eine ganz andere Angelegenheit noch viel größere Hoffnung bescheren würde – also klammern wir uns panisch an viel zu kleine Hoffnungen.)

Fremd, traurig, frustrierend

»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«, so sagte Wittgenstein, doch diese Feststellung greift weiter: Es sind die Grenzen deiner Wahrnehmung, die dein Konzept von »Welt« formen. (Ja, auch deine Vorstellungen sind durch deine Wahrnehmung begrenzt. )

Obwohl wir in der Schule (hoffentlich) einen ausführlichen Geschichtsunterricht durchmachen, bleibt die Vorstellung der Welt vor unserer Geburt meist abstrakt und fremd.

Wir fürchten zwar das Sterben (manche mehr, manche weniger), und es ist ja auch eine unangenehme Umstellung, einfach nicht mehr da zu sein. Je nach Familie und Bekanntenkreis macht es den einen oder anderen von uns traurig, nicht mehr mit ebendiesen Leuten quatschen zu können. Kaum hat man gelernt, mit diesen Wahnsinnigen klarzukommen, ist es Zeit zu gehen – wie frustrierend!

Doch die bloße Tatsache, dass die Welt in hundert und in tausend Jahren sich ganz ohne uns weiterdrehen wird, das allein macht uns noch nicht so traurig, wie Ereignisse der Gegenwart uns traurig machen können.

Und das ist nicht alles

So verständlich es also ist, dass wir »alles« mit »die Welt, wie ich sie erlebe« gleichsetzen, so unvollständig ist es. »Alles« ist viel, viel mehr, als du dir jetzt gerade unter »alles« vorstellst.

Das Alter des Universums wird auf etwa 13,8 Milliarden Jahre geschätzt. Die Erde ist nach aktuellen Schätzungen etwa 4,5 Milliarden Jahre alt. Homo Sapiens, also der moderne Mensch, existiert seit etwa 200.000 Jahren – das sind nur etwa 0,004% des Erdzeitalters. (Und erst seit etwa 5.000 bis 6.000 Jahren beherrschen Menschen das Lesen und das Schreiben – soweit wir wissen.)

Wenn wir die Lebensdauer eines individuellen Menschen auf 80 Jahre ansetzen, so nimmt jedes individuelle Leben nur 0,0004% des (bisherigen) Menschenzeitalters ein. (Und dann muss sich jeder individuelle Mensch fragen, wie viel Zeit seines Lebens er tatsächlich lebt.)

Millionen Leben – und du

Sollte dich diese Mathematik noch immer nicht ganz schwindlig im Kopf gemacht haben, dann betrachte einfach die Gegenwart: Die Zahl der in diesem Moment auf der Erde lebenden Menschen wird auf etwa 8 Milliarden geschätzt. Pro Jahr werden etwa 135 Millionen Menschen geboren. (Die Zahl der Sterbenden ist seit einiger Zeit etwas geringer, deshalb werden die Menschen erstens mehr und zweitens durchschnittlich älter.)

Nehmen wir an, dass die Zahl der Menschen, die du persönlich kennst, etwa Hundert beträgt. Diese Hundert Menschen stellen 0.00125% der Weltbevölkerung dar. Wenn diese 0.00125% von heute auf morgen verschwinden würden, würde die Welt aufhören, sich zu drehen?

Laut aktuellem Wissensstand hat Deutschland vier Millionenstädte: Berlin, Hamburg, München und Köln. China aber hat über hundert Millionenstädte, und wahrscheinlich kennen auch die meisten Chinesen nicht alle chinesischen Millionenstädte – geschweige denn wir »Westler«. (Shanghai, Peking und Shenzhen haben wir schon mal gehört, doch danach wird es verwaschen. Nur Platz 7 mit über 10 Millionen haben wir schon mal gehört, allerdings nicht der Größe wegen: Wuhan – siehe de.statista.com.)

Jede Millionenstadt bedeutet millionenfache Freude und millionenfaches Leid. Millionen von Menschen, die jeder für sich Hoffnungen hegen und Erfolge einfahren, die Glück suchen und dafür die Zähne zusammenbeißen. Du wirst diese Menschen wahrscheinlich nie kennenlernen.

Und doch hat die Welt diese Menschen hervorgebracht, jeden einzelnen. So wie die Welt eben auch, durch Apfelbäume, Äpfel hervorbringt. Und so wie die Welt, durch deine Mutter, dich hervorgebracht hat.

Wunderbar, und was es bedeutet

Heute bin ich hier. Mein Hiersein dauert in den Dimensionen des Universums kaum einen Wimpernschlag lang. Jetzt bin ich hier, von der Welt hervorgebracht wie ein Apfel, und bald werde ich nicht mehr hier sein, zurückkehren ins größere Ganze, wie die vom Baum gefallenen und gepflückten Äpfel.

Ich will aber nicht traurig sein über die wahren Dimensionen unserer Existenz. Demütig, ja, aber nicht traurig.

Ich will dankbar und fröhlich sein. Was für ein wunderbares Wunder ist es doch, dass die große Apfelplantage namens »Menschheit« ausgerechnet mich als Apfel hervorbrachte.

Irgendwann ist jedes Apfelleben vorbei. Und es gehört zur Apfelexistenz dazu, dass es manchem Apfel übel ergeht, dass er Beulen abbekommt oder sogar scheinbar vergeudet wird. Und doch will ich froh darüber sein, dass ich von der Apfelart bin, die sich Gedanken darüber machen kann, was es bedeutet, ein Apfel zu sein!

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