15.04.2024

Eine Statue für Viktor Fehlschlag

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: »Welche Würde?/!«
Kuschelt euch unter eure Bettdecke, macht den Kakao warm und packt die Kekse aus. Onkel Dushan erzählt euch eine Gutenachtgeschichte, vom Schweinebauern Viktor Fehlschlag, wie er Bürgermeister wurde und was dann passierte.
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Es war einmal eine schöne und deutsche Stadt, und sie trug den schönen Namen »Verpatzlingen«.

In Verpatzlingen lebten eintausend Schweine und einhundert Menschen. Von den einhundert Verpatzlingern trug einer den Namen »Viktor Fehlschlag«, und Viktor Fehlschlag war ein Schweinebauer.

Viktor Fehlschlag war aber nicht nur irgendein beliebiger Schweinebauer. Viktor Fehlschlag war der beliebteste unter den Schweinebauern in ganz Verpatzlingen.

Tatsächlich war Viktor Fehlschlag nicht einmal der erfolgreichste unter den Schweinebauern. Seine Schweine waren nicht die dicksten, seine Säue nicht die gebärfreudigsten und sein Schweinehof war gewiss nicht der sauberste Schweinehof in Verpatzlingen.

Nein, mit all dem konnte Viktor Fehlschlag nicht reüssieren. Herr Fehlschlag besaß dafür ein anderes nützliches Talent: Viktor Fehlschlag verstand sich darauf, in jeder Gesprächsrunde, in jeder Ansammlung von Menschen bald zu deren Sprecher ernannt zu werden.

Viktor kümmert sich

Einmal im Monat trafen sich die Schweinebauern von Verpatzlingen in der Dorfkneipe »Zum goldenen Eber«. Dort besprachen sie sich, fassten Beschlüsse und stellten Forderungen auf. Man sprach über dorfinterne Verordnungen bezüglich der Schweinehaltung. Man beredete die zuletzt bedrohlich zahlreich ins Dorf eindringenden Wildschweine – und man war verärgert, dass der Bürgermeister dies gänzlich ignorierte.

Bei diesen monatlichen Treffen der Schweinebauern von Verpatzlingen aber ergab es sich stets ganz natürlich, dass Männer am Ende des Abends Viktor Fehlschlag zum Sprecher in der besprochenen Angelegenheit erhoben.

Ja, über die Jahre wurde es eine selbstverständliche Gewohnheit, Viktor Fehlschlag zum Sprecher für dieses und jenes zu erklären – und bald nicht nur in den Kreisen der Schweinebauern.

Das Dach der Dorfkirche war undicht geworden. Viktor Fehlschlag ernannte sich zum Vorsitzenden des Kirchendachkomitees, und niemand widersprach.

Viktor Fehlschlag kümmerte sich um den Platz, auf dem im Winter Wasser ausgegossen wurde, sodass die Kinder dort Schlittschuh laufen konnten, und er stellte ihn viel früher und billiger fertig, als irgendwer erwartet hätte.

Und als eines Tages plötzlich und unerwartet der Bürgermeister verstarb – tragisch niedergetrampelt von drei wütenden Wildschweinen –, wurde Viktor Fehlschlag ganz selbstverständlich zum neuen Bürgermeister von Verpatzlingen bestimmt.

Erstaunlich dumme Ideen

Die Amtszeit des neuen Bürgermeisters Viktor Fehlschlag verlief, wie man zu sagen pflegt, eher »durchwachsen«. Genau genommen war es eine Katastrophe. Eine Abfolge von Katastrophen.

Früher hatte Fehlschlag als Sprecher ja noch die Probleme anderer Leute gelöst, kleinere Aufgaben umgesetzt. Darin hatte er angemessen Erfolg aufweisen können. Doch als Bürgermeister entwickelte er plötzlich eigene und damit erstaunlich dumme Ideen.

Um Geld zu sparen, entließ er etwa die Feuerwehr. Er übertrug deren Aufgaben der Lehrerschaft der örtlichen Schule. Als dann einmal in den Sommerferien ein Feuer ausbrach und drei Schweineställe niederbrannten, weil kein einziger Lehrer als Feuerwehrmann zur Verfügung stand, verbot Viktor Fehlschlag den Betrieb offenen Feuers.

Man wies darauf hin, dass das Feuerverbot die Zubereitung von Fleisch unmöglich machen würde. Was sollten die Menschen also mit dem vielen Schweinefleisch anstellen? Sollten sie das Fleisch nur verkaufen, aber nicht selbst davon kosten, außer sie wollten es roh essen?

Fehlschlag sah ein, dass das zu Frust führen würde, und er verbot die Aufzucht, die Schlachtung und auch die Zubereitung von Schweinen.

Damit ruinierte Viktor Fehlschlag die Wirtschaft des Dorfes Verpatzlingen, doch ihn selbst kümmerte es wenig – als Bürgermeister verdiente er weit mehr Geld als zu seinen Schweinebauerzeiten.

Miserabel – aber durabel

So ungeschickt Bürgermeister Fehlschlag in politischen Angelegenheiten zuwege ging, so geschickt war er auch weiterhin in der Sicherung seiner persönlichen Macht.

Als die Schweinehöfe von Verpatzlingen geschlossen wurden, ergab es sich, dass ein mit dem neuen Bürgermeister befreundeter Metzger namens Hans Ehrlich rechtzeitig davon erfuhr und die Schweine billig aufkaufen konnte – und dieser Hans Ehrlich war Fehlschlag daraufhin zu Dank verpflichtet.

Als Fehlschlag die Feuerwehr schloss, stellte er gleichzeitig ein Dutzend Polizisten an, die ihm alle treu ergeben waren.

Und so gelang es dem Bürgermeister Viktor Fehlschlag, sich trotz aktiven Versagens erstaunlich lange im Amt zu halten.

Zur größeren Ehre Viktors

Fehlschlag lud Verpatzlingens Bürger monatlich zu Feiern ein, auf denen seine Bürgermeisterschaft gefeiert werden sollte.

Für Fehlschlag waren die monatlichen Ehrungen ein Ersatz für die Treffen der Schweinebauern, nur dass er bei diesen Feiern nicht nur als Sprecher der Gruppe heraus-, sondern bereits als Bürgermeister hineinging.

Auf öffentlichen Aushängen, wo man früher die aktuellen Preise für Schweinefutter und drohende Schweinekrankheiten las, wurden derweil die Leistungen des Bürgermeisters Viktor Fehlschlag angepriesen – zur Schweinewirtschaft oder zur Wirtschaft in Verpatzlingen überhaupt gab es ja ohnehin nicht mehr viel zu melden.

Und dann nahte sich die zwölfte Monatsfeier, welche ja die Jahresfeier der Bürgermeisterschaft des Viktor Fehlschlag war.

Seinem Freund Hans Ehrlich gegenüber, jenem reichen Großmetzger aus der Nachbarstadt, der all die Schweine aufgekauft hatte, deutete Fehlschlag an, dass er sich zu seiner Einjahresfeier eine Statue vorstellen könnte.

Eine Statue für den Fehlschlag

Eine Statue von Viktor Fehlschlag, erhaben und würdig.

»Ich kümmere mich um eine würdige Statue«, sagte Hans Ehrlich. Ehrlich legte dem Bürgermeister eine ehrliche Hand auf die Schulter – wie hätte Viktor da etwas anderes als eine ehrliche Absicht vermuten können?

In den Wochen vor seiner Einjahresfeier war Viktor Fehlschlag derart heftig von nervöser Vorfreude erfasst, dass er kaum schlafen konnte, viel weniger also sonst, kaum elf Stunden pro Nacht, nur jede zweite die notwendigen zwölf.

Ein bekannter Künstler traf sich mehrere Male mit Viktor Fehlschlag, vermaß dessen Kopf und fertigte Skizzen des darzustellenden Objekts an.

Der Künstler versprach: »Dies wird meine realistischste Arbeit und damit die beste!«

Fehlschlag fragte, ob er die Statue vorab sehen könnte. Oder zumindest die Modelle. Es wurde ihm verwehrt.

Ein Bräutigam, so wurde ihm versichert, dürfe am Hochzeitstag vor der Trauzeremonie ja auch nicht die Braut im Traukleid sehen. Das ergab zwar nicht wirklich einen Sinn, doch Fehlschlag war nicht mutig genug, diese Begründung zu hinterfragen. Es schwang ja auch denkbar deutlich mit: »Hans Ehrlich hat die Statue bezahlt, nicht du.«

Lob, Dank und wahre Würdigung

Der große Tag kam.

Die Honoratioren des Dorfes und Vertreter der Nachbardörfer wurden zum Marktplatz geladen.

Die Statue sollte enthüllt werden.

Noch war sie unter einem grünen Tuch verborgen. Auf den ersten Blick schien die Statue nicht ganz so hoch ausgefallen zu sein, wie man erwarten würde. Auch schien sie etwas rundlicher. Doch es war gewiss nur eine optische Täuschung, dem grünen Tuch geschuldet.

Ansprachen wurden gehalten. Lob wurde verkündet. Der Pfarrer dankte öffentlich Gott (und heimlich dankte er Viktor Fehlschlags steuerfinanzierter Spendabilität).

Hans Ehrlich trat ans Pult. Er begrüßte das Publikum, sprach von des Bürgermeisters großen Leistungen und sagte, er hoffe, die neue Statue würden den wahren Charakter und die wirklichen Verdienste des Viktor Fehlschlag würdigen.

Ein Junge aus der Dorfschule – der Klassenbeste des jüngsten Jahrgangs – wurde gebeten, das Tuch von der Statue zu ziehen.

Die Dorfkapelle fing zu spielen an.

Der Junge blickte zu Hans Ehrlich.

Dieser nickte.

Der Junge zog an dem Tuch und ließ es von der Statue gleiten.

Die Menge schnappte nach Luft.

Viktor Fehlschlag starrte die Statue an.

Der Junge sprach in ruhigen und doch weit hörbaren Worten: »Der Herr Bürgermeister, das ist ja ein —!«

Weiterschreiben, Dushan!

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