03.03.2023

Am Nasenring

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten
Wir sehen manchmal, wie Menschen sich wie am Nasenring durch die Manege ziehen lassen, und wir denken uns: »Ha, das kann mir doch nicht passieren!« – Wie sicher sind wir uns, dass wir es überhaupt merken würden, wenn sie uns an der Nase herumführen?

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Früher lasen wir in der Zeitung die Kontaktanzeigen: „Sportlicher Frührentner sucht aufgeschlossene Leseratte für Museumsbesuche und mehr.“

Ich weiß nicht, ob es solche Kontaktanzeigen heute noch gibt. Ich habe schon länger nicht mehr im Totholz bis ganz nach hinten geblättert. Heute benutzen die Leute „Dating-Apps“.

Eigentlich, so dachte ich, sind das Plattformen, mit denen Menschen sich verabredeten, um der schönsten Nebensache der Welt nachzugehen – und nicht mehr. Bis ich ein niedliches Pärchen traf, das sich durch die bekannteste dieser Plattformen erst im biblischen Sinne erkannte, dann kennenlernte und schließlich zwecks Gründung einer Familie heiratete.

Moderne Zeiten, moderne Technologien – für uralte Triebe, für uralte und doch ewige Sehnsucht.

Gut, dass ich nicht!

Ich las dieser Tage aber auch eine besorgniserregende Meldung zu diesen Dating-Apps, und zwar aus Brasilien. Aktuell wird berichtet, dass immer öfter die Dating-Apps von brasilianischen Kriminellen genutzt werden, um Opfer anzulocken. In São Paulo etwa, der größten Stadt Brasiliens (und Gesamtamerikas), sollen 9 von 10, also 90 % aller Entführungen mit einer Dating-App eingeleitet worden sein (siehe bbc.com, 29.11.2022 auf Portugiesisch).

Wenn die Opfer nicht gekidnappt werden, können sie noch immer via Mobil-Bezahlapp gleich vor Ort digital ausgeraubt werden. Die Opfer werden in eine Falle gelockt und dann unter Androhung von Gewalt zur Bezahlung einer hohen Summe via Handy oder Online-Banking gezwungen, das kann im Gegenwert schnell in den fünfstelligen Euro-Bereich gehen (so restofworld.org, 1.3.2023).

Ich hörte das, und ich dachte zunächst: „Ha, die armen Schweine! Selbst Schuld! Gut, dass ich nicht diese Schwäche habe.“

Mein zweiter Gedanke war aber: „Moment, das ist keine Schwäche. Diese Leute sehnen sich nach Liebe, in allen ihren Formen, und das ist eben ihr Weg der Suche.“

Ob Schwäche oder nicht, es ist menschlich. Die Opfer der Dating-Apps werden aber wie Stiere am Nasenring zur Schlachtbank geführt.

Klar, diese Männer sind nicht wir. Aber wir sind womöglich denen in viel mehr Hinsichten ähnlich, als wir uns selbst zugeben möchten.

Wie sicher sind wir uns, dass wir nicht selbst am Nasenring unserer Gefühle erst durch die Manege und dann zum Schlachthaus geführt werden?

Menschen treffen Entscheidungen, gegen ihre rationalen Überzeugungen, weil ihr diffuses Gefühl sie dazu drängt, oft einfach nur das Gefühl, dazugehören zu wollen. Manche leben lieber eine Lüge, als auf das warme Gefühl zu verzichten, angenommen zu sein. Wir wollen angenommen sein, und so werden wir ausgenommen.

Manche setzen sich einem gefährlichen Risiko aus, weil es sich für sie gut anfühlt, von Autoritäten dafür gelobt zu werden. Oder sie riskieren die Sicherheit ihrer Kinder oder sogar ihres Landes, weil sie den Leuten im Fernsehen gefallen wollen, denn auch das fühlt sich gut an.

Vielleicht noch zum Besseren

Wir unterscheiden uns nicht so sehr, wie wir meinen, von jenen brasilianischen Männern, die mit einer Dating-App in den Ruin gelockt wurden.

Ein Unterschied ist, dass die an uns vollführten Manipulationen komplett legal und von der Politik sehr gewollt sind.

Der zweite und wohl noch gewichtigere Unterschied ist der, dass wir, wenn wir manipuliert wurden, uns zu oft nicht eingestehen wollen, dass wir manipuliert wurden und nun ausgenommen werden.

Wir als brave Bürger und brave Angestellte oder brave Unternehmer, und brave Steuerzahler sowieso, wir könnten vor uns selbst leugnen wollen, dass man unsere eigentlich guten, wertvollen Gefühle gegen uns ausgenutzt hat.

Jene Männer, die mit einer Dating-App ins Verderben gelockt wurden, sie könnten uns immerhin insofern voraus sein, dass es ihnen inzwischen bewusst ist, und dass sie also nicht leugnen, dass passiert ist, was passiert ist.

Am Ende gewinnt immer die Realität. Es könnte eine gute Idee sein, auch in eigener Sache sich die Realität so früh wie möglich einzugestehen.

Denn: Nur wer die Realität rechtzeitig als solche sieht, kann sie zumindest für sich vielleicht noch zum Besseren wenden.

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