06.04.2024

Süchtig nach dieser Traurigkeit

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild: »Alles im Griff«
In Dortmund töten »Kinder« einen Obdachlosen. In Montpellier wird eine 14-Jährige ins Koma geprügelt. In Rostock prügeln »Jugendliche« einen 17-Jährigen fast tot. – Macht euch das alles nicht nur wütend, sondern auch zutiefst traurig?
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Bei Traurigkeit tun traurige Lieder gut – unser gebrochenes Herz fühlt sich verstanden. Wenn ich wütend bin, höre ich Ghostemane – und meine Wut lässt nach.

Wenn sich die Realität nicht real genug anfühlt, schaue ich eine Modenschau von Rick Owens, etwa die legendäre »Gethsemane FW 21 Mens« aus Corona-Zeiten. (Seine Modenschauen sind zugleich sehr »real« insofern sie in der realen Welt stattfinden, aber zugleich mit seinen wandelnden und doch käuflichen Skulpturen einen Gegenentwurf zum Alltag ebendieser formulieren.)

Und danach SS24 Womens Lido, mit einem elektronischen und intimen Remix von Diana Ross, welche da singt: »In love I still believe. It’s all I ever need«, und: »It never has to end, I still believe in love«.

Jene Künstler und Werke bieten uns den zum konsumierbaren Produkt verpackten Abstieg des Künstlers in jene emotionalen Regionen ihrer selbst, wohin ganz allein zu gehen uns »Normalen« ziemlich viel Angst bereitet. Und, ganz wichtig: Indem der Künstler ein Produkt vorlegen konnte – ob trauriges Lied, gruseliges Gedicht oder eine dämonische Schulterform –, belegt er nebenbei, dass er aus dem Abgrund wieder aufgestiegen ist, dass also – auch uns! – der Wiederaufstieg möglich ist.

Jedes (wahre und also wichtige) Kunstwerk antwortet Herrn Nietzsche, indem es sagt: »Seht her! Ich bin in den Abgrund gestiegen, ich habe in ihn hineingeschaut und er in mich, und ich bin dennoch wieder zu euch zurückgestiegen. Und hier ist mein Souvenir aus dem Abgrund: Im Original für 20 Millionen Währungseinheiten und als bedruckte Stofftasche für 20.«

Apocalypse – now?

Ähnlich also, wie man Wütendes hört, um seine Wut zu stillen, und Trauriges, um die Traurigkeit durch deren eigene Schönheit zu überwinden, so lese ich bisweilen die Einträge in Online-Foren zu »Collapse« oder »Conspiracy«.

Jüngst wurde da diskutiert, ob nun endlich die in der Bibel vorausgesagte Apokalypse beginnt. Ich empfand es dabei als charmant, dass einige der mir bekannten und herzensnahen biblische Motive wie das Malzeichen des Tieres als Wegmarke und Hinweis präsentiert wurden.

In der Debatte (auf reddit.com) wurde dann kritisch darauf verwiesen, dass es Weltuntergangsgefühle und diese bedienende Prophezeiungen seit Anbeginn der Menschheit gab. Dass es also unwahrscheinlich ist, dass diesmal endlich und wirklich die Welt untergeht. (Ich finde diese ach so »rationalen« Einwürfe aber intellektuell eher sparsam, also: langweilig. Es ist etwa so sinnvoll, wie einen unglücklich Verliebten damit trösten zu wollen, dass sein bedauerlicher Zustand doch bloß verursacht werde von ungünstig gemischten Hormonen und dazu Druckschwankungen seiner inneren Hydraulik.)

Verlockende Traurigkeit

Unter den Einwänden in der Debatte, ob der Weltuntergang nun wirklich bevorsteht, fanden sich ja durchaus auch interessante Gegenargumente, etwa die Frage, ob (selbst wenn christliche Prophezeiungen tatsächlich aufs Heute verweisen sollten) etwa Hindus das aktuell ähnlich sehen würden.

Ein ganz bestimmter Kommentar aber, mehr eine schnelle Notiz als eine argumentierende Ausführung, bewegte mich derart, dass ich ihn noch Stunden und nun auch Tage später nicht vergaß.

Dieser Kommentar lautete: »You can get addicted to a certain kind of sadness.«

Auf Deutsch: »Du kannst süchtig werden nach einer bestimmten Art von Traurigkeit.«

Ich fühlte mich hinterfragt und ertappt, doch auf eine gute, potenziell heilende Weise.

Bin ich »süchtig« nach »einer bestimmten Art von Traurigkeit«? Droht mir diese Sucht, wenn ich mich (weiter?) einer solchen Traurigkeit hingebe?

Ich wandte mich von jenem Forum ab. Zurück vom zukünftigen Weltuntergang, zurück in das, was einer, an den ich denke, wenn ich an Feigheit denke, die »sogenannte Gegenwart« nennt.

Mag das nicht mehr

In Dortmund haben »Kinder« einen Obdachlosen getötet (bild.de, 4.4.2024). Die »Kinder« stammen aus Bulgarien, sind minderjährig und strafunmündig, also wurden sie wieder freigelassen.

In Montpellier (Frankreich) wurde eine 14-Jährige ins Koma geprügelt (jungefreiheit.de, 4.4.2024). Zuvor war sie als »Ungläubige« (»Kuffar«) und »Hure« beschimpft worden, weil ihr äußeres Erscheinungsbild nicht den Moralvorstellungen ihrer Kommilitonen folgte – sie war »zu westlich gekleidet«.

In Rostock prügelten »Jugendliche« mit »südländischem Erscheinungsbild« und einem »Baseballschläger« einen »17-Jährigen fast zu Tode« (bild.de, 6.4.2024).

Und so weiter. Tag für Tag, Woche für Woche. – Genug! Es ist genug. Ich mag das nicht mehr lesen.

Oder, um den Kunstsänger Ghostemane zu zitieren: »Fed up. Fed up. Fed up. I’m fed up.« – Im Deutschen würden wir sagen: Ich habe die Schnauze voll davon.

Gefahren des Abstiegs

Der Künstler, der in den Abgrund steigt, sollte es mit den täglichen Abstiegen rechtzeitig wieder gut sein lassen. Sonst schaut der Abgrund eben doch so tief in ihn zurück, dass der Künstler sich darin einrichtet, und die Folgen kennen wir. (bild.de, 5.4.2024 erinnert übrigens daran, dass Kurt Cobain gestern vor 30 Jahren starb, und ich kann das überraschte Staunen der Schlagzeile vollumfänglich bestätigen: »Unglaublich, dass das schon 30 Jahre her ist«.)

Doch auch wenn Künstler besonders empfindlich sind für die Abgründe der menschlichen Realität (sonst wären sie ja keine Künstler) – auch wir »Normalen« sind ja keine »Steine« (einige werden bloß von der Tagesschau in Kopf und Herz verstockt). Auch wir können Schaden an der Seele nehmen, wenn wir nach Berlin blicken, zu oft in den Abgrund spähen und das Ohr zu lange an das dämonische Gebrabbel halten.

So wichtig die tägliche Nachrichtenlektüre auch angeblich ist, um sich »orientiert« zu fühlen, so wichtig ist es, die Nachrichteninfusion regelmäßig ausreichend lange zu unterbrechen und den Blick zu heben (im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne).

Lächerlich kurz

Der Weisheitslehrer Alan Watts beschrieb einmal die Welt als »apfelnd«, im Englischen: »appling« (siehe YouTube!). Apfelbäume lassen Äpfel wachsen, und auf diese Weise ist die gesamte Welt »apfelnd«. Auf ähnliche Weise ist die Welt aber auch »peopling« – »menschelnd«, oder »menschenhervorbringend«.

Die Welt bringt uns Menschen hervor, und eine Zeit lang laufen wir hier herum, und wir machen uns einen Kopf um all die Probleme, suchen nach Vorteilen, nach Spaß, nach dem schnellen Dollar, Euro, Yuan.

Bevor wir »Äpfel« jeweils auf diese Welt kamen, indem sich ein Stück Materie abtrennte und beseelt wurde, existierten wir über viele Jahrmillionen nicht. Nachdem jenes Stück Materie sich wieder mit diesem vereint haben wird, werden wir die restlichen Jahrmillionen wieder nicht existieren. Den allergrößten Teil der Existenz dieses Universums sind wir nicht hier, sprich: Wir sind »weg«. Wie ein anderer weiser Mann mir einmal sagte: Das Leben ist ein kurzer »Urlaub vom ›Weg‹«.

Dein Leben ist eine geradezu lächerlich kurze Unterbrechung deines Nichtseins. Vor dir und hinter dir liegt jeweils der Abgrund namens ›Nichts‹. Dazwischen aber liegen diese Tage mit ihren immer gleich vielen Stunden, Minuten und Sekunden. Wie viel davon willst du auf beängstigende Nachrichtenlektüre verschwenden? – Hebe deinen Blick! Genug ist genug.

Gras & Brötchen

Wenn ein Mensch sich zu sehr aufregt, wenn einer selbst das Ernsthafte ernster nimmt als notwendig, dann sagen die Jugendlichen heutzutage: Go touch grass! Geh mal Gras berühren!

Das soll bedeuten: Nimm mal wieder Kontakt mit der physikalischen und sonstigen Realität auf! Es wird dir seelisch und auch sonst gut tun.

Wir könnten vergessen, dass wir biologische Wesen in einer physikalischen Welt sind. Auch Philosophen, die dir sagen, dass die Welt nur »Wille und Vorstellung« ist, dass die »Matrix« dir alles »simuliert«, essen anschließend ein sehr reales Brötchen.

Deine Seele ist eine Funktion deines Körpers, dein Glück ist eine Konstellation deines Geistes und der Welt um dich her.

Geh etwas Gras anfassen (außer du wohnst auf einer Vulkaninsel, wo kein Gras wächst, aber das ist ein anderes Thema). Hebe den Blick zum Horizont, in die Weite.

Der trotzige Wille zum Wiederaufstieg

Mach mal wieder Sport. Suche Schönheit, und mit Schönheit meinen wir hier Gesundheit. Kleide dich in »couture«, also feinster Mode, und mit »couture« beziehen wir uns auf den eingangs erwähnten Modeschöpfer Rick Owens in jenem berühmten Zitat: »Sport treiben ist moderne Couture. Kein Outfit wird dich so gut aussehen oder dich so gut fühlen lassen wie ein fitter Körper. Kauf weniger Kleidung und geh stattdessen ins Fitnessstudio.«

Wenn einer traurig ist, dann geben traurige Lieder ihm zumindest die Gewissheit, damit nicht allein zu sein, darin nicht der Erste zu sein, und dazu die Hoffnung, dass nach dem Abstieg auch ein Aufstieg zwar nicht garantiert, aber eben doch möglich ist (sonst wäre das jeweilige Lied ja nicht fertig geworden).

Hoffnung schlägt Traurigkeit

Ich spüre in diesen Tagen sowohl eine Art verzweifelter Ratlosigkeit als auch – nicht weniger! – einen trotzigen Willen zur Hoffnung.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht – oder wie es weitergehen kann –, doch solange ich bin, beschließe ich, aggressiv jene Hoffnung zu leben, die aus dem handelnden Streben nach der besten Möglichkeit besteht, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich diese »beste Möglichkeit« auch erscheinen mag.

Es gibt eine bestimmte Art von Traurigkeit, nach der kannst du süchtig werden. Ich spüre, wie sich eine Traurigkeit, die möglicherweise eine solche süchtigmachende ist, regelmäßig beim Sinnieren über die aktuellen Ereignisse einstellt. Ich will diese Traurigkeit abbrechen, unterbrechen und ablegen, bevor sie sich zu gut anfühlt, zu schön, bevor sie mich hinabzieht wie Seejungfrauen bis heute die Seeleute.

Dieser Essay ist eine Echtzeit-Dokumentation meines eigenen Ringens, meines Ab- und Aufstiegs. Ich hoffe, euch damit genützt zu haben. Jetzt aber, Freunde, geht nach draußen und fasst etwas Gras an! (Oder vielleicht Lava, wenn um euch her kein Gras wächst.)

(Die Lava bitte aber möglichst erst anfassen, wenn sie lange genug abgekühlt ist. Wenn sie noch heiß ist, während ihr sie anfasst, habt ihr das mit dem Abgrund viel zu ernst genommen! Und ja, dies ist ein selbstironischer Scherz am Ende eines arg dramatischen Essays. Ihr wisst ja, wie die Tschechen sagen: Etwas Leben in dieses Sterben!)

Weiterschreiben, Dushan!

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