Dushan-Wegner

08.04.2024

Sollen wir verzeihen? Können wir?

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: »Noch nicht ganz da«
Es heißt, die Corona-Panik solle »aufgearbeitet« werden – indem man den Tätern »verzeiht«. Man »muss« vergeben, sagen die. Nein, wir »müssen« nicht verzeihen. Nur uns selbst, wenn wir uns zu Opfern machen ließen – und dann beim nächsten Mal klüger sein!
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Zu den zynischsten Schlagzeilen unserer Zeit gehören die Aufrufe von Politikern und Funktionären, man möge »die Coronazeit aufarbeiten«. Schnell wird klar, dass sie nicht ehrliche Aufarbeitung mit Benennung ehrlicher Fakten und aller Arten von Schuldigen wollen – oh nein.

Vielmehr wird plötzlich allenthalben von »Corona-Amnestie« (n-tv.de, 8.4.2024) geschwafelt und vom »Heilungsprozess« (tagesschau.de, 6.4.2024).

Eine »Enquete-Kommission« soll aufarbeiten, »welche Schlüsse aus der Corona-Krise gezogen werden müssen«, heißt es beim deutschen Staatsfunk (tagesschau.de, 7.4.2024). Schließlich steht jetzt auch offiziell fest, was damals nur »Schwurbler« sagten: dass den Kindern in der Corona-Panik ohne wissenschaftliche Grundlage oder irgendeine medizinische Notwendigkeit, allein aus politischem Machtrausch heraus, psychische Gewalt angetan wurde.

Zu den größten Unverschämtheiten gehört aber weiterhin der Buchtitel des ersten Corona-Gesundheitsministers Jens Spahn: »Wir werden einander viel verzeihen müssen« (jens-spahn.de, 12.10.2022).

Doppelt unverschämt

Spahn schrieb damals, man werde »einander« verzeihen »müssen«. In seiner Funktion als Regierungspolitiker und sogar Gesundheitsminister würden viele von uns Jens Spahn doch eigentlich in die Kategorie der (natürlich ganz legalen) »Corona-Täter« einsortieren. Wer aber soll es sein, dem ein Täter »verzeihen« muss?

Ähnliche Fragen lauten: Muss der Vergewaltiger der Vergewaltigten verzeihen? Der Mörder dem Ermordeten? Sollen die Kinder wirklich die Politiker, die ihnen im Machtrausch ganze Jahre ihrer Kindheit stahlen, um Verzeihung bitten?

Man fühlt sich an Zvi Rex erinnert, den Henryk Broder (via spiegel.de, 2.6.2002) zitiert: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.«

Es ist eine doppelte Unverschämtheit: Corona-Täter fordern ganz selbstverständlich, dass ihnen »verziehen« wird. Und als wäre diese Dreistigkeit noch nicht genug, tun sie so, als hätten auch ihre Opfer ihnen zu verzeihendes Leid angetan.

Was ist Verzeihen?

Verzeihen ist, ähnlich wie die Liebe, eine Kombination aus einem Zustand von Seelen und den dazugehörigen, notwendigen Worten und Handlungen, anhand derer auch die Glaubwürdigkeit der Seelenzustände überprüfbar bzw. sichtbar wird.

»Ich verzeihe dir« bedeutet, dass ich meinen Frieden mit deinen Handlungen gefunden habe, dass in mir nicht mehr unaufhörlich die Wut über deine Schuld brodelt.

Was aber soll es bedeuten, wenn jemand sagt, wir »müssten« verzeihen? Warum »muss« ich meinen Frieden damit finden, dass Politiker im Machtrausch und trotz sehr lauter Mahnungen den Menschen dieses Leid zufügen ließen?

Potenziell valide

Wenn ein Mensch einem anderen Menschen verzeiht, dann wird er in der Praxis immer auch die Motive des anderen Menschen nachvollziehen und als potenziell valide ansehen. Doch das aggressive Bekämpfen kritischer Meinungen, das offensichtlich mutwillige Ignorieren widersprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse, die unverhohlene Lust am Herumtrampeln auf Vernunft und Würde der Menschen – ich kann die Emotionen und Motivationen dafür mit fortschreitender Zeit immer weniger nachvollziehen, nicht mehr. Nein, es war nicht »moralisch valide«. Wie soll ich verzeihen, was ich täglich weniger nachvollziehen kann?

Die öffentlichen Gesten des Verzeihens (die Bitte um Verzeihung, das Händeschütteln als Zeichen der Versöhnung et cetera) sollen nicht nur innere Vorgänge greifbar und überprüfbar machen; sie sollen auch das Ergebnis des inneren Vorgangs festhalten. Mit begonnenem oder sogar abgeschlossenem Verzeihensvorgang beginnt eine (neue) Beziehung von Täter und Opfer, von Verzeihendem und Verziehenem.

Ich wünsche aber keine Beziehung mit den Corona-Tätern! Ich wünsche denen ein langes, glückliches Leben – so weit von mir entfernt wie irgend möglich … aber »Verzeihen« würde ich dieses mein Gefühl nicht nennen.

Beim nächsten Mal

Ja, ich möchte meinen Frieden mit der Corona-Ära finden. Aber nicht Frieden mit den Tätern, sondern Frieden mit mir selbst. Frieden mit uns, dass, wie und insoweit wir uns – oder sogar auch unsere Kinder! – zu Opfern werden ließen.

Ich will verstehen, was uns zu Opfern werden ließ, was uns einwilligen ließ. Unsere Schwächen und Ängste waren valide, und wir dürfen uns vergeben und verzeihen – zugleich aber wollen wir lernen, nicht ein weiteres Mal auf diese Weise zum Opfer zu werden.

Ich will unsere Motive verstehen und für die nächste Panik unser Verständnis unserer selbst – und damit unsere Handlungen – verbessern.

Nein, wir werden nicht einander »viel verzeihen« und schon gar nicht »müssen«. Doch ich will uns und mir verzeihen, will Frieden mit unserem eigenen Verhalten finden.

Setzt Grenzen zu denen! Vergebt nicht denen und vergesst nicht die, die kalt und in vollem Wissen handelten. Verzeiht aber euch selbst, wo ihr euch zu Opfern machen ließt, obwohl es nicht zwingend notwendig war. Und beim nächsten Mal – in welcher Kleidung dies auch daherkommen mag – seid und handelt klüger.

Weiterschreiben, Wegner!

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