Dushan-Wegner

12.09.2020

Deutschlands Leiter an der falschen Mauer

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Waranont (Joe)
Es ist das »andauernde Jahr 2015«. Die simple Wahrheit ist, dass »Wir schaffen das« eine Jahrhundertlüge war. Es wurde nie gesagt, was »das« genau sein soll. Afrikas Sozialarbeit in Deutschland leisten?!
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Früher stieg man, so mein Gefühl, öfter auf Leitern hoch! Handwerker steigen natürlich weiterhin auf Leitern, um dieses anzubringen und jenes in Ordnung zu bringen. Auch Hobby-Handwerker, die Heimwerker, steigen immer wieder auf Leitern, doch das aber nur, wenn sie ein Haus zu versorgen haben (in Wohnungen genügt ein Stuhl oder ein Hocker, und schon ist auch der kleine Mensch ganz groß).

Schon in der Bibel kannten sie Leitern, sogar welche die bis in den Himmel reichten (in Jakobs Traum, siehe 1. Mose 28:12).

Ich kann mich an den heilsamen Schrecken erinnern, den mir vor Jahrzehnten eine Parabel einjagte, in welcher eine Leiter eine ganz wesentliche Rollte spielte – die Parabel lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Ein Mann steigt mit viel Mühe die Leiter hoch, doch oben angekommen stellt er fest, dass seine Leiter an der falschen Mauer stand – so kann es mit der ganzen Lebensmühe sein, wenn man nicht nachdenkt und selbst bestimmt, welche Mauer es ist, die hochzusteigen man sich Tag für Tag und Jahrzehnt um Jahrzehnt müht.

Wirklich gute Literatur

Können Sie mir sagen, ohne im Internet zu suchen, wer dieses Jahr den Wettbewerb »Jugend forscht« gewonnen hat und mit welchem Thema? Oder letztes Jahr?

Nun, dieses Jahr fällt das Finale ohnehin aus, wie auch alle Landeswettbewerbe. Der Grund ist natürlich das China-Virus (siehe jugend-forscht.de). Doch es ist auch, so finde ich, ein Zeichen der Zeit.

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als die jährlichen Meldungen zu den Siegern des Jugend-forscht-Wettbewerbes in den Nachrichten berichtet wurden (und immer wieder bei Harald Schmidt zum Thema wurden, siehe YouTube). Ich kann mich noch erinnern, als man gespannt war, wer Literaturpreise gewinnen würde, weil man sich davon tatsächlich einen Hinweis auf literarische Qualität erhoffte. Ich kann mich erinnern an eine Zeit, als der Konsens öffentlicher Debatte die Fleißigen, Talentierten und Überragenden pries, auf dass wir uns an ihren Werken erfreuen, auf dass wir ihnen nacheifern, auf dass wir einen Grund haben, stolz zu sein auf das, was wir Menschen zu leisten vermögen.

Und was sind heute, im »andauernden Unrechtsjahr 2015«, die Nachrichten des Tages? Sind es weiterhin Forscherpreise, Entdeckungen und wirklich gute Literatur?

Aus Hamburg lesen wir: »Die Mitglieder einer kurdischen Jugendbewegung saßen ohne Fahrschein in einem Zug Richtung Hamburg. Bei der Kontrolle wurden sie so ausfällig, dass die Bundespolizei mit mehr als 200 Beamten anrückte.« (welt.de, 11.9.2020)

Aus dem extra-toleranten NRW lesen wir derweil, wie rechtsextreme türkische Ideen via Kommunalwahl in die Stadträte gelangen können (welt.de, 12.9.2020).

Wenig überraschend verkündet derweil Merkels Bettvorleger, dass man wohl der Erpressung von Moria nachgeben wird und sogenannte »Minderjährige« nach Deutschland bringen wird (junge Männer, die als »Minderjährige« gelten, zählen zu den für Wohlfahrtskonzerne profitabelsten Schlepperkunden; wir erinnern uns noch an die letzten »Minderjährigen«, siehe auch Essay vom 19.4.2020).

Nicht deine Aufmerksamkeit

Ja, es ließe sich sagen, dass wir belogen und betrogen werden, übervorteilt und überrumpelt – und doch wäre es nicht das erste und nicht das letzte Problem.

Das Amerikanische kennt die mutmachende Redensart: »You can achieve anything you set your mind to!«

Zu Deutsch etwa: »Du kannst alles erzielen, worauf du deinen Geist ausrichtest.«

Ein Umkehrschluss dieses wunderbar amerikanischen Mutmachspruches lautet: Du wirst nicht erreichen, worauf du nicht deine ganze Aufmerksamkeit richtest, was anzustreben dein Geist zu müde ist, was im Blick zu behalten du viel zu zerstreut bist.

Auf seinen krummen Beinchen

Einen Menschen zu töten gilt in modernen Gesellschaften gemeinhin als böse. (Archaische und sogenannte »tolerante« Gesellschaften sehen das unter gewissen Umständen anders, siehe etwa auch »Gutmenschen riskieren das Leben anderer Leute«.)

Eine andere Art, das Leben eines Menschen zu rauben, besteht darin, seine Aufmerksamkeit derart in Beschlag zu nehmen, dass er Jahre später merkt, vor lauter Ablenkung gar nicht das Leben gelebt zu haben, das er eigentlich leben wollte. Im Bild jener Metapher, die mich damals, als ich sie zuerst hörte, so erschrecken ließ: Vor lauter Ablenkung merken wir nicht, dass unsere Leiter an der falschen Mauer steht.

Deutschlands Holzleiter steht an der falschen Mauer. Wir sind abgelenkt von dem, was einem Volk wirklich wichtig sein sollte.

Ich weiß nicht, wann wir es wieder erleben, dass die Nachrichten von der Jugend von jungen Wissenschaftlern und echten Talenten handeln, nicht von prügelnden Banden und schulstreikenden Propagandaopfern. Ich weiß es nicht, doch den Traum von einer klügeren Gesellschaft ganz aufzugeben, das will mir einfach nicht gelingen.

Die schlichte Wahrheit: Wir haben keine Chance, die vielen »jungen Männer« dieser Welt zu sozialisieren. Selbst wenn wir es realistisch angehen sollten, selbst wenn wir manchen archaischen Denkweisen ein echtes eigenes Wertesystem mit Autorität und Rückgrat entgegenstellen würden (»Toleranz« ist kein Wert sondern die Abwesenheit eigener Werte, die als neuer, angeblich höherer »Meta-Wert« verklärt wird), wäre das zu Leistende eine Herkulesaufgabe – so aber ist das deutsche »Wir schaffen das« wie der Versuch eines alten, müden Dackels, sich der fauchenden Dampflok auf den krummen Dackelbeinchen in den Weg zu stellen, in der irren Hoffnung, sie zum Halt zu bringen, wenn im Dackelherzen nur genug heiße Moralgefühle lodern.

Die Jahrhundertlüge »Wir schaffen das!«, diese Kulmination des »andauernden Unrechtsjahres 2015« lähmte in ihrem Zynismus das Land so gründlich, dass man gar nicht erst zur Debatte dreier verwendeter Begriffe und vorlaufender Fragen kam: 1. »Was genau ist ›das‹, 2. wollen wir ›das‹ überhaupt ›schaffen‹, und 3. können wir das, nüchtern betrachtet, überhaupt ›schaffen‹?«

Jahrzehnte unseres Lebens

Wir kämpfen uns eine Mauer hoch, die wir uns, wenn wir darüber nachdenken, vielleicht gar nicht hochkämpfen wollen – und die wir uns gar nicht hochkämpfen können.

»Was sonst sollen wir tun?«, seufzt mancher Mutlose, »am Fuße der Leiter steht die Propaganda und schnalzt mit der Peitsche.« – Wer frech danach fragt, ob das überhaupt die richtige Mauer ist, ob man das nicht mal prüfen sollte, und wie hoch man denn noch klettern soll, dem brennt bald die Peitsche im Gesicht, und die Aufseher bellen: »Ruhe! Nazi! Weiterklettern!«

Es geht nicht mehr »nur« um unser Land. Wenn nicht ein Wunder geschieht, dann war’s das. Ich hoffe jeden Tag aufs Wunder – ich rate doch jedem, von den bekannten Naturgesetzen auszugehen.

Wir sind zu oft abgelenkt, als Land, als Gesellschaft, aber auch als Einzelne. (Konzerne wie Facebook, deren Milliarden-Umsatz daraus gewonnen wird, unsere Aufmerksamkeit zu »hacken«, helfen wahrlich wenig dabei, unsere Gedanken zu sammeln.)

Erst wird uns die Aufmerksamkeit geraubt – dann und dadurch Jahrzehnte unseres Lebens.

Es geht nicht mehr »nur« um unser Land. Es geht um unser Recht, selbst zu bestimmen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit und dann unsere Kraft richten.

Was bleibt? Was kann bleiben und was wird bleiben? Für jetzt weiß ich nur dies: Es wäre eine gute Idee, mal wieder selbst zu prüfen, ob diese brüchige Leiter, die wir täglich hinaufsteigen, noch an der richtigen Mauer steht.

Weiterschreiben, Wegner!

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