Mein erstes Auto war ein blauer Trabant 601. Wer weiß, der weiß. Und ich werde nie meine erste Fahrt damit quer durchs euphorisch vereinte Deutschland vergessen!
Der Trabbi war selbst für die LKW-Spur zu langsam. Das bedeutete, dass ich irgendwann hinter einem der wenigen noch langsameren LKWs herfuhr, während sich direkt hinter mir ein weiterer, drängelnder LKW auftürmte und uns links eine Wand wütender LKWs langsam überholte.
Ich war ein Fahranfänger. Meine Hände krallten sich ins Plastik des Lenkrads. Ich war durch nichts als etwas fragwürdige Pappe »geschützt«.
Und dann kam der Berg. Mein Trabbi wurde noch langsamer, die LKWs hinter und neben mir noch wütender.
Sagen wir nur so viel: Gut, dass ich damals noch Theologie studierte und den Beistand höherer Mächte herbeiflehen konnte.
Ja, ein Trabbi im West-Autobahnverkehr, das konnte einen fürwahr das Beten wie auch neues Gottvertrauen lehren.
Es hatte auch Nachteile
Doch die gemächliche Geschwindigkeit der Plaste-Limousine war nicht die einzige Herausforderung.
Da wäre etwa das Betanken mit einem Benzin-Öl-Gemisch, wofür man die »Motor«-Haube anheben musste.
Doch wann genau sollte man tanken?
Nun, mein Trabbi hatte keine Tankanzeige.
Ich hatte immerhin ein »Mäusekino«, sprich: eine Anzeige des geschätzten aktuellen Verbrauchs. Und natürlich den Tacho samt Kilometermesser. Also musste ich schätzen, wie viel Benzin wohl noch im Tank war.
Doch damit man nicht liegenblieb, hatte der Trabbi einen sehr wichtigen Umschalter: von regulärem Tank auf Reservetank. (Es war derselbe Tank, nur an die letzten fünf Liter kam man erst durchs Umschalten.)
Wenn der Motor aussetzte und das Pedal ins Leere trat, konnte man auf Reserve umschalten und dann die nächste Tankstelle ansteuern oder den Tank anders auffüllen.
Meist tankte ich ohnehin lieber öfter mal nach. Sollte der Motor aber mal zu ruckeln beginnen, schaltete ich eben um. Das System funktionierte also ganz okay, solange man ein Bewusstsein für sein Autolein und dessen spezielle Bedürfnisse hatte.
Außer natürlich, wenn man als Fahrer einen bestimmten potenziell folgenreichen Fehler begangen hatte.
Es konnte passieren, dass man den Schalter aus Versehen durchgehend auf Reserve geschaltet hatte. Wehe, der Schalter war falsch gestellt, man wähnte sich im Haupttank, fuhr aber tatsächlich längst mit den letzten Tropfen!
Ein- oder zweimal bekam ich es rechtzeitig mit und schaltete zurück auf den Haupttank.
Und einmal hatte ich offenbar tatsächlich »höheren Beistand«, denn als der Motor zu »spucken« begann, war eine Tankstelle in Sichtweite, und ich musste nur die letzten 10 Meter bis zur Zapfsäule schieben.
Zum Glück ist das Schieben eines federleichten Trabbis recht einfach. Das Seltsamste an der Situation war, dass sich niemand groß daran störte, wenn jemand seinen Trabbi zum Tanken schob. Vielleicht dachten die Wessis, dass die Ossis das immer so machen.
Und auch wenn es damals glimpflich für mich ausging, so kann ich mich doch bis heute an den Schreck erinnern, an den Moment, in dem ich erkannte, dass ich die ganze Zeit auf Reserve fuhr und nun wohl auch diese erschöpft war.
Wir, auf Reserve
Wenn ich in diesen Tagen mit Menschen spreche, wenn ich die Nachrichten lese, wenn ich mir vorstelle, was man in hundert Jahren über uns sagen wird, dann komme ich nicht umhin, an meine Tank-Panik im Trabbi zu denken.
Kann es sein, dass unsere Zeit abläuft, dass wir, ohne es zu wissen, bereits auf Reserve fahren?
Und ich frage es für uns, für viele verschiedene Bedeutungen des Wortes »uns«: als Gesellschaft, als Land, als »der Westen« mit seinen »Werten«: Wie sicher sind wir, dass wir nicht versehentlich bereits den Schalter auf »Reserve« umgestellt haben, und dass unser niedliches Pappauto mit den letzten Tropfen der Benzin-Öl-Mischung durch die schöne neue Welt tuckert? Hat der Motor nicht längst zu stottern und zu spucken begonnen?
Wenn uns plötzlich bewusst würde, dass wir längst »auf Reserve fahren«, dass unsere Zeit und Möglichkeiten eigentlich schon abgelaufen sind, dann würde ich heute zumindest die Aussicht genießen und mit lieben Menschen etwas Schönes unternehmen. Der Tag soll seine Stunden wert gewesen sein.
Vielleicht taucht ja plötzlich eine Tankstelle auf – vielleicht nicht.
Jeder Kilometer unserer Fahrt kommt nur einmal, jede Minute ist uns nur einmal geschenkt, und wenn wir tatsächlich längst auf Reserve fahren sollten, dann ist jede Minute umso wertvoller.