05.03.2021

Die letzten Menschen und das Chaos

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Clay Banks
Es ist schockierend, aber keinesfalls überraschend, dass die beiden Unfähigsten zur Coronatest-Taskforce berufen wurden. »Chaos!«, so klingt es heute an jeder Ecke. (Wo bleiben aber die tanzenden Sterne?)
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»Wehe!«, ruft Nietzsches Zarathustra, »es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.«

Herr Nietzsche hat einen Namen für diesen verächtlichsten Menschen, einen Namen und eine Einordnung: Es ist der letzte Mensch.

»Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen«, so ruft Zarathustra.

Was zeichnet nun diesen letzten Menschen aus? – Wir lernen: Der letzte Mensch hat die »Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben«.

Woran erkennen wir denn diesen »letzten Menschen«, der »Alles klein macht« und doch selbst dem »Erdfloh« gleicht?

Es steht zu Beginn dieser wütenden Passage. Es klingt nur beim ersten Hören rätselhaft, doch es ist auflösbar, und also ist es ein gutes Rätsel (sonst wäre es nicht wirklich ein Rätsel, sondern bestenfalls ein Mysterium).

Gnade vom Nietzsche

»Wir haben das Glück erfunden – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«

Das Blinzeln ist noch das Ehrlichste am letzten Menschen. Wenn einer lügt (und sei es sich selbst in die Tasche), danach aber nervös blinzelt, hat er dann genauso übel gelogen, wie einer, der es unbewegt und unerkannt tut? Dass er dem letzten Menschen ein Blinzeln zugesteht, das ist noch Gnade vom Nietzsche.

Betrachten wir aber den Anlass jenes Blinzelns!

»Wir haben das Glück erfunden«, sagt der letzte Mensch – und das ist ein Fehler. Das Glück lässt sich nicht erfinden, genauso wenig wie sich die Gesundheit oder die Gravitation erfinden lassen.

Wer Glück zu erfinden sucht, der schafft zuverlässig Unglück (und wenn er dabei politisch erfolgreich ist und Macht erringt, werden die Toten immer bald in Millionen gezählt).

Das Glück, wie die Gesundheit oder die Gravitation, es ist eine (An-) Ordnung der Welt – und entweder wir »ordnen« uns gemäß dieser Ordnung an, oder wir werden eben unglücklich, un-gesund (ja, ja, »krank« wäre deutscher, aber lassen Sie mir den Stabreimversuch) oder fallen ungemein schmerzhaft über eine Unebenheit stolpernd aufs Gesicht (welches dann unter ungünstigen Umständen medizinisch unordentlich wird, geradezu unästhetisch, was auch den Uneitlen unglücklich machen könnte, und dann wohl manche ärztliche Untersuchung unumgänglich macht).

Nein, das Glück lässt sich nicht erfinden – und selbst dieses falsche Denken ist nicht das eigentliche Problem – das sitzt noch tiefer.

»Nix da….die meinen das ernst«

Ich erlebe die Nachrichten dieser Tage, und mein Nacken ist schon ganz gezerrt vom Kopfschütteln. Die Ungute hat ausgerechnet ihre beiden Unfähigsten mit einer Taskforce zur Testlogistik beauftragt (n-tv.de, 4.3.2021).

Wie übel sind die Zeiten? Einer, der im politischen Leben recht selten wirklich erfolgreich war, also konsequenterweise gute Karriere in der SPD machte und auch sonst die Demokratie lächerlich werden lässt, ein Gewisser Herr Ralf Stegner, darf heute richtig und berechtigt höhnen: »Du hältst das für einen Beitrag der Heute Show oder von Extra 3? Nix da….die meinen das ernst. Testkonzept ….läuft….am 1.4.2022 ist alles klar….spätestens…« (Ralf_Stegner, 4.3.2021)

»Was für ein Chaos!«, so denke nicht nur ich heute, doch dann fällt mir erneut der Herr Nietzsche ein, und ich frage mich: Hat jener nicht auch vom Chaos gesprochen? Das eine Nietzsche-Zitat, das auch der kennt, der noch keine Zeile von Nietzsche gelesen hat und auch sonst auf manche Art bescheiden lebt, spricht jenes Zitat nicht gerade vom Chaos als etwas Gutem, ja, geradezu nach der letzten möglichen Rettung für den letzten Menschen?

In ein unaufgeräumtes Zimmer

»Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, so Nietzsches Zarathustra, und dann spricht er gleich seine Hoffnung für die Hörer/Leser aus: »Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.«

Wir nehmen hier einen tiefen Schluck vom ordentlich aufgebrühten Kaffee, rücken Brille und Sitzkissen zurecht, und wir fragen uns kurz: Ist es denn nun gut oder ist es schlecht, dieses Chaos?

Wir sehen ja die Corona-Befehle der Regierung. Ist das nicht chaotisch? Bild-Chef Reichelt sprach von »Verwirr-Regeln«; BILD via YouTube, 4.3.2021

Haben wir etwa etwas missverstanden am Chaos? Oder ist es so gemeint wie die Schöpfung der Bibel oder die Moral der Gutmenschen – es ist schön, darüber zu reden, doch so wirklich glaubt (oder tut) es keiner.

Nun, ich für meinen Teil glaube an die Wahrheit des Satzes vom Chaos (soweit man überhaupt verstehen kann, was denn ein »tanzender Stern« sein soll), doch ich will deutlich darauf hinweisen, dass Nietzsche nicht in der schludrigen Sprache unserer Zeit schrieb.

Nietzsche wurde aufgrund seiner besonders altsprachlichen Begabung zum klassischen Philologen berufen, das heißt: Er unterrichtete Latein und Altgriechisch. (Erst gestern wurde ich darüber ein wenig traurig, dass meine Kinder zwar Swift, JavaScript und ein paar weitere »wichtige« Sprachen erlernen, doch wohl weder den Ablativ noch den Gallischen Krieg pauken werden – und auch nicht verstehen, warum ich dummes Verhalten gerne mal sarkastisch mit »μακάριοι οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι« kommentiere.)

Anfang / Ende

Das χάος der Griechen ist nichts weniger als der Urzustand der Welt, aus welchem erst die Schöpfung möglich ist, verwandt mit dem »תֹהוּ וָבֹהוּ« der Hebräer.

Das Chaos, von welchem Nietzsche spricht, ist nicht die blöde Unordnung, die wir heute mit »chaotisch« meinen.

Das Chaos, von welchem Nietzsche spricht, es muss schöpferisch sein. Nietzsches Chaos ist Beginn der Schöpfung und ihre Voraussetzung.

Das Chaos ist nicht Unordnung.

Unordnung ist gleich wie nichts. Chaos ist die größte Möglichkeit, Unordnung ist Unmöglichkeit.

Ich frage Sie: Wenn Sie ein unordentliches Zimmer betreten, übelriechend, mit Müll in mehreren Schichten auf dem Boden verteilt, freuen Sie sich dann darüber, was alles in diesem Zimmer möglich ist, was Sie dort neu erschaffen können? – Nein, natürlich nicht!

Chaos ist ein Zustand der schier unendlichen Möglichkeit – Unordnung dagegen ist Verkeiltsein und Blockade. Chaos ist Anfang, Unordnung ist Anfang des Endes (und wenn weder Heilungskräfte noch Ärzte die Unordnung des Körpers beheben können, dann ist man tot, zerfällt und wird erst, wenn man zu sein aufhörte, zum Teil jenes Chaos, aus welchem Neues wachsen kann).

»Gift ab und zu«

Nein, was in Deutschland heute geschieht, das ist nicht Chaos, nicht im Sinne der alten Griechen. Es ist einfache Unordnung. (Unordnung heißt im Altgriechischen eher etwa »ἀκαταστασία«, was sich in der Bibel zum Beispiel in 1. Korinther 14:33a findet, wo es heißt: »Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.«.)

»Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume«, so sagen Nietzsches letzte Menschen, »und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.« – Welches Gift ist gemeint? Alkohol? Propaganda? Noch härtere Stoffe? – Es muss doch Besseres geben!

Ein echtes Glück wollen, ein einfaches Glück. Ein Glück, das wir finden. Und die Möglichkeit, die etwas ganz anderes als Unordnung ist. Ein Chaos, das noch χάος ist.

»Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Unruhen, so entsetzt euch nicht«, so lesen wir in Lukas 21:9 nach Luther, und ja, die »Unruhen« hier sind jene »ἀκαταστασία«: Unordnungen.

Es ist unordentlich (nicht nur) in Deutschland, doch fürchtet euch nicht, solange ihr in euch eine Möglichkeit findet, das »kleinste Chaos«, aus welchem gegen alle Verkeiltheit eben doch ein Neues wachsen kann.

»Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke«, spricht Nietzsches Zarathustra.

Das was heute passiert, es ist nicht Chaos, es ist Unordnung.

Das Chaos kommt danach.

Ich bin wirklich gespannt, wie das sein wird, wenn die wahrhaft chaotischen unter uns diese versprochenen tanzenden Sterne gebären!

Weiterschreiben, Dushan!

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