Dushan-Wegner

30.09.2022

Das Hanebüchene und seine Ursache 

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Matt Hoffman
Ein Politiker redet offenkundigen Unsinn im Bundestag. Kaum einer von den Kollegen beschwert sich. Der Politiker muss nicht zurücktreten. Warum? Der Einzelne mag klug und mutig sein, das Kollektiv aber wirkt dumm und hilflos.
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Ich hörte wieder, wie ein Politiker hanebüchenen Unsinn erzählte – blanke, offene Lügen. Ja, sie wurden im Bundestag ausgesprochen. Es war aus der neuen Ideen-Kategorie »nichts hat mit nichts zu tun, aber auch gar nichts«, und »jene Ursache darf nicht kritisiert werden, also muss gelten, dass die Folgen nichts mit der Ursache zu tun haben«.

Sicher, die Opposition hat die Unsinnigkeit des Unsinns herausgestrichen, hat ihren Widerspruch zu Protokoll gegeben. Jedoch, im neue deutschen Propagandastaat hat es sich eingebürgert, eine wirklich widersprechende Opposition zu dämonisieren – die neue deutsche Logik demokratischer Debatte: Widerspruch ist Hass, dem Narrativ widersprechende Fakten ebenso, Hass aber ist keine Meinung, und was keine Meinung ist, sondern Hass, muss und darf man auch nicht debattieren.

Eine Lüge auszusprechen, das kann ein Machtbeweis sein. Wenn etwa ein Minister eine Lüge ausspricht, weil und wenn er richtigerweise davon ausgeht, dass weder seine Kollegen noch die Journaille ihm dafür Ärger bereiten werden, so beweist er in der offensichtlichen Lüge seine Macht.

Jedoch, warum kommen Politiker heute mit gefährlichem Unsinn durch? Warum gilt heute wieder der, der auf die Unwahrheit hinweist, als der wahre Bösewicht?

Nicht minzig (oder witzig)

Wenn Sie alle übrigen Erklärungen ausprobiert haben – und sie alle nicht funktionierten – dann hätte ich eine weitere anzubieten. Bitte lassen Sie mich ausholen – und ein klitzeklein wenig »philosophisch« werden!

Freunde, wir waren voreilig, und jetzt ist es zu spät. Wir haben falsch gehandelt. Vielen von uns war das, was wir nicht taten, gar nicht als eigenständige Handlung bewusst.

Wir haben uns, warum auch immer, auf die Tube gesetzt, die Tube mit der Zahnpasta, und jetzt ist die Paste draußen, und sie geht nicht wieder rein. Ach, und hier findet schon das Sprachbild seine Grenzen, denn es riecht »im richtigen Leben« wenig minzig (und witzig ist es ohnehin nicht).

Meine These zu einem von mehreren Gründen, warum Politiker mit offenkundigen Lügen durchkommen, klingt so: Wir haben die alten Rituale voreilig aufgegeben, die uns klüger machten.

Als Beispiel: Wir tauschten die Morgen- und Abendgebete gegen den Griff zur elektronischen Suchtmaschine.

Niemand, der bei Sinnen ist, wird behaupten, dass ein solcher Wechsel ohne Folgen bleibt. Doch weil den Wenigsten bewusst ist, dass sie diese Handlung, diesen Tausch überhaupt begingen, rutschen wir blind in die Konsequenzen hinein.

Ja, wenn ich die Handlungen der Kirchenfunktionäre betrachte, gehe ich längst davon aus, dass auch sie am Morgen nach dem Smartphone statt nach dem Gebetbuch greifen.

Morgendliche Codierung

Zur Erklärung: Die alten Rituale, die bewährten Gebete enthielten codierte Weisheiten, die uns klüger machten.

Das katholische Gebet »Benedictus«, welches aus dem Lukasevangelium schöpft, spricht etwa auf diese Weise von Gott: »Er hat uns geschenkt, dass wir, aus Feindeshand befreit, ihm furchtlos dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinem Angesicht all unsre Tage.«

Man beachte die psychologische Wirkung einer solchen Passage.

Morgen für Morgen für Morgen programmiert sich der Betende selbst, seinem Gott und dessen Geboten tiefer zu vertrauen, als der Betende seine Feinde fürchtet.

Was aber sind Regeln Gottes? Wir haben sie ja mal gehört.  Nun, das alte Testament spricht davon, man solle nicht »falsch Zeugnis reden« wider seinen Nächsten (2. Mose 20:16). Und das Neue Testament sagt, unsere Rede soll »Ja, Ja«, und »Nein, Nein« sein (Matthäus 5:37).

Einst hatten wir Rituale, welche uns nicht nur fundamentale Werte aufprägten, sondern auch das Vertrauen in diese Werte.

Wenn ein Politiker im Bundestag oder ein Propagandist im Fernsehen uns offensichtliche Lügen erzählt, können sie heute darauf zählen, dass keine Revolte erfolgt, denn heute steht die Furcht vor der Obrigkeit weit höher als das Vertrauen in die alten Werte.

Wir Pfadfinder

Ich erinnere mich an meine Zeit als Pfadfinderleiter. Ich entdeckte damals, dass einzelne Pfadfinder sich als Teil der Gruppe schon mal sehr doof und sehr destruktiv anstellten, doch wenn man sie herausnahm, agierten sie plötzlich erstaunlich rational und konstruktiv. Ich kann es mir bis heute nur so erklären, dass jeder Mensch mehrere Persönlichkeiten in sich trägt, und als Teil eines Kollektivs ist er ein anderer, teils gefährlich dummer Mensch.

Unser Kollektiv ist dumm, auch weil wir die alten Rituale, die uns klug machten, eintauschten gegen neue Rituale, die uns dumm machen – und das Ergebnis ist jeden Tag maximal öffentlich zu begutachten.

Du wünschst dir, dass dein Volk wieder klüger wird? Dann wirst du einen Weg finden müssen, ihm klügerere Rituale zu geben.

Nichts hat heute mit Nichts zu tun, und Religion hat angeblich am wenigsten mit dem zu tun, was Menschen als direkte Konsequenz aus der Religion ziehen.

Merkt es nicht einmal

Dies sind Zeiten der dauernden Krise. Eine Beraterweisheit lehrt, dass das, was uns in die Krise brachte, uns nicht wieder hinausbringen wird. Dieser Spruch könnte für manches Ohr abgegriffen klingen, wenn nur deshalb, weil er so oft wiederholt wurde – und er wurde so oft wiederholt, weil schmerzhaft viel Wahrheit drinsteckt.

Lasst die Illusion los, dass es besser werden kann, wenn wir nicht unser Denken schärfen – unsere Moral und unsere Willenskraft gleich mit (und lasst überhaupt so einiges los).

Ein Kollektiv, das täglich hinnimmt, wie Politiker hanebüchene Lügen auf öffentlichster Bühne erzählen, ist wohl eben als Kollektiv dumm oder hilflos oder nochmal etwas anderes.

Wir brauchen besseres Denken. Wie erzielen wir besseres Denken? Es würde nicht schaden, unsere täglichen Rituale zu überprüfen.

Entweder ihr werdet täglich klüger – oder die-da-oben lassen euch täglich dümmer werden, und ihr merkt es nicht einmal.

Weiterschreiben, Wegner!

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