Seit ich diese Essays verfasse, beschreibe ich etwas, was ich den großen Graben nenne, der große Graben, der uns teilt. Der erste Text, der das im Titel enthielt, glaube ich, war 2017: »Eine Brücke über den großen Graben«. Ich »vermesse«, ich beschreibe in Worten, was die zwei großen Gruppen unterscheidet, die wir in der Gesellschaft ausmachen können.
Damals, 2017, beschrieb ich die Empathie. Ich beschrieb, dass die Linke unempathisch auftritt, obwohl sie sich selbst zuschreibt, empathisch zu sein. Sie tritt ideologisch und insofern kalt auf.
Sie verachtet den Schwächsten, den Rentner. »Opfer« ist für die ein Schimpfwort. Dafür hat sie erstaunlicherweise Empathie mit Konzernen und größeren, übernationalen Akteuren.
Rechte dagegen fühlen mit dem sogenannten einfachen Mann, mit dem Arbeiter, mit dem biblischen Nächsten. Und sie sind bereit, dafür Häme hinzunehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Rechter seine Eltern verpfeift, nur weil sie Linke sind. Linke verpfeifen dagegen schon mal ihre Eltern oder Angehörigen.
Der aktuelle Graben
Dieser Tage hat Hans-Georg Maaßen diesen großen Graben beschrieben. Er hat eine neue Deutung gefunden.
Zur Erinnerung: Maaßen ist der, der gegangen wurde, weil er, so wie ich das verstanden habe, Merkels Chemnitz-Lüge (»Hetzjagd«) nicht stützen wollte. Er zitiert sich auf Twitter – oder auf X, wie das jetzt heißt – selbst. Und er schreibt: »Der Graben in Deutschland verläuft nicht mehr zwischen Links und Rechts, sondern zwischen Totalitarismus und Freiheit. Wir stehen auf der Seite der Freiheit, und wir sind die Feinde des neosozialistischen Totalitarismus.« (@HGMaassen, 1.11.2023)
Das klingt gut.
Das ist wahrscheinlich richtig.
Auf jeden Fall ist es nicht falsch. Nur die Frage ist, was antwortet der übliche Bürger, wenn man ihn fragt, was Totalitarismus ist? Ich verstehe es als totale Kontrolle, als totale politische Kontrolle über alle Lebensbereiche. Also mehr als die Diktatur, die »nur« das Verhalten kontrollieren will.
Weil der Totalitarismus es nicht zulassen kann, dass es auch andere Denkmöglichkeiten gibt, muss er echte Opposition verbieten. Erinnert uns das an Bemühungen in Deutschland? Nun ja. Was ist diese Freiheit, von der Maaßen spricht? Laut Wikipedia wird Freiheit in einem weiten Sinne als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Optionen zu wählen und Entscheidungen zu treffen.
Die Freiheit, die ich meine
Mir fehlt da etwas. Meine Definition von Freiheit enthält auch noch die Möglichkeit, zwischen Optionen auszuwählen, die mich zufriedenstellen. Was ist eine Freiheit wert, die mir nur Möglichkeiten gibt, die mich alle nicht happy machen? Das hatten wir im Kommunismus, das gibt es in der Diktatur auch.
In der Diktatur kannst du dir auch ein Stück weit etwas aussuchen. Aber was ist, wenn die Möglichkeiten, die du gern zur Auswahl hättest, schlicht alle verboten sind? Freiheit ist auch, wie die Liebe oder das Glück, eine Sache der Perspektive, eine Sache der persönlichen Werte, der Emotionen, der persönlichen Lebensgeschichte bis an den Punkt der Entscheidung. Ein Mönch in seiner Zelle kann sich frei fühlen, während ein Rockstar-Millionär sich gefangen fühlen kann. Für den einen findet das freie Leben im Kloster zwischen Mönchszelle, Kapelle, Speisesaal und Bibliothek statt. Er fühlt sich frei, weil seine Werte ihn keine andere Möglichkeit über das hinaus vermissen lassen.
Er ist mit diesen Werten, diesen Möglichkeiten zufrieden. Der Rockstar dagegen macht jeden Tag Party, hat Millionen und die Auswahl aus mehr als einem Auto – und fühlt sich dennoch unter Umständen gefangen, weil er eigentlich ein ganz anderes Leben will. Freiheit ist eine Sache der Perspektive.
Beide, Totalitarismus wie auch Freiheit, sind ein Stück weit relativ. Die jeweiligen Grenzen müssen auf breiter gesellschaftlicher Basis ausgehandelt werden. Totalitarismus entsteht in dem Moment, wo eine kleine Gruppe dem gesamten Volk etwas aufzwingen will, was das Volk eigentlich gar nicht will, aber sich vielleicht aus diesen oder jenen Gründen nicht abzulehnen traut.
Totalitäre Fürsorge?
Was ist die Grenze zwischen Totalitarismus und Fürsorge? Nehmen wir die Anschnallpflicht. Als sie eingeführt wurde, haben Leute, die ich heute in meinem politischen Lager sehe, stark dagegen rebelliert. Das war ein unzulässiger Einschnitt in die Freiheit.
Heute haben wir andere Einschnitte. Heute haben wir die Pflicht, dass man einen Mann eine Frau nennen muss, wenn er sich als Frau identifiziert. Ich habe bis heute nicht genau verstanden, was identifiziert heißt, aber gut.
Ist das nicht ein totalitärer Eingriff ins Denken, in Sprachregelungen? Wir haben Verbote, den Islam zu kritisieren oder ihn scharf zu kritisieren, und Strafen, wenn man es tut. Wir haben Verbote, Politiker allzu scharf zu kritisieren. Totalitär oder notwendig zur Rettung der Demokratie?
Wir haben ein Verbot, in der Innenstadt 200 km/h zu fahren. Totalitär? Natürlich nicht, es ist notwendig, aber es ist eine zu verhandelnde Grenze. Theoretisch kann ja jeder sagen, er wolle nicht die Freiheit beschneiden, sondern sie im Gegenteil durch kluge Regeln schützen.
Das haben wir ja in Berlin und Brüssel, wo angeblich immer wieder die Meinungsfreiheit geschützt werden soll, indem man sie beschneidet. Es klingt orwellsch, ist es auch, aber ein wahrer oder praktischer Kern ist ja durchaus dabei. Es ist auf keinen Fall falsch, was Maaßen sagt.
Nicht alle gleich
Es ist richtig und wichtig, doch es ist erst der Anfang einer Debatte oder es ist der Anstoß zu einer Weiterdebatte. Ich fürchte, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem es für diese Debatte womöglich zu spät ist. Ich fürchte, unsere heutigen Gräben, unsere Kämpfe sind viel grundlegender.
Der wirklich große Graben in der Gesellschaft zieht sich heute fundamental zwischen den Menschen, die sich in ihrem Denken der Realität stellen – vielleicht, weil sie nicht anders können, weil sie so erzogen oder so geboren sind –, und denen, die die Realität leugnen, weil es emotional einfacher ist. Sie nehmen für sich und für die Gesellschaft lieber die Folgen ihres Leugnens in Kauf, als sich emotional dem zu stellen, was der Fall ist. Und ich sehe einen zweiten großen Graben innerhalb der Elite.
Es sind dort nicht alle gleich. Einige scheinen – poetisch, metaphorisch beschrieben – einem Todeskult anzugehören, der die Menschheit reduzieren möchte und daraus kein allzu großes Geheimnis macht. Ein Todeskult kann und wird immer auch sehr moralisch daherkommen.
Er kann mit Konzernen kooperieren. Er kann sich auf mehr als einen Gesellschaftszweig beziehen, über mehr als ein Thema erstrecken. Er kann Ideologien fördern, die anfänglich sehr lebendig klingen, aber mittelfristig oder über Generationen hinweg zum Tod, zum Aussterben führen.
Der Todeskult wird sich der menschlichen Dummheit, der Leichtgläubigkeit, der Oberflächlichkeit und manchmal auch der Denkfaulheit bedienen. Das, meine ich, ist der wahre Graben.
Freiheit vs. Todeskult
Auf der einen Seite die, welche die Wahrheit aussprechen, auch wenn es ihnen im Moment weh tut. Und auf der anderen Seite die, welche lieber Lügen glauben und gehorchen und am Gehorchen und am Lügenglauben eher sterben werden, als sich jetzt die Wahrheit als solche einzugestehen. Wir haben die, die das Leben feiern, und die, die dem folgen, was Sigmund Freud den Todestrieb nennt.
Der große Graben verläuft tatsächlich nicht mehr zwischen Links und Rechts, womöglich nicht mal zwischen Mann und Frau oder zwischen Arm und Reich. Der große Graben verläuft zwischen Wahrheit und Lüge. Zwischen Anerkennen und Leugnen der Realität. Zwischen Leben und Nichtleben.
Ich meine: Jeder kann und muss selbst entscheiden, auf welcher Seite dieses Grabens er stehen will.