Am Samstag gingen wir spazieren, am Wasser entlang. Die Sonne schien, die Cafés luden ein. Das Kind, sonst ein rauer Bursche, wie Siebenjährige so sind, entdeckte eine neue Faszination: Marienkäfer! – Oh, schau mal, Papa: Der hat einen Punkt mehr als der andere! Oh, schau mal Mama, der hat die Flügel draußen stecken! Oh, Mist, jetzt ist er mir vom Finger weggeflogen. Ah, da ist ein neuer! Äh, Mama, Papa, warum liegt der auf dem Rücken und bewegt sich nicht mehr? (Er ruht sich nur aus. Lass ihn schlafen und komm weiter!)
Ich beneide unsere Kinder darum, dass ihnen noch so vieles neu ist. Was mir lange bekannt ist, kann den Kindern ein Anlass zu großem Staunen sein. (Unsere Kinder haben keine Handys, da bleibt ihnen beim Spazierengang nichts anders übrig, als die Welt zu beäugen.)
Gibt es denn für uns Erwachsene nichts Neues zu entdecken? Ist denn wirklich alles Wissenswerte erfasst und kartographiert? – Natürlich nicht! Wir schauen nur nicht oft genug hin. Es liegt vielleicht außerhalb unserer Griffweite, etwa weil es weit oben ist, in höheren Sphären, häufiger jedoch, weil es weit unten verborgen ist, in den Tiefen des Meeres – oder in den Tiefen der Seele.
Wohlauf!
Es gibt sie noch, die arg zu wenig ergründeten Phänomene! In den Tiefen der Meere schlummern Monster unausdenkbarer Schönheit wie Hässlichkeit. In den Tiefen unserer Seelen schlummern nicht minder scharfbezahnte Ungeheuer. Wer die Tiefen der Meere auszuloten begehrt, der benötigt zuhauf Geld und nicht weniger Mut; um die Tiefen der eigenen Seele auszuloten genügt der Mut – aber den braucht es dann doch.
Ich möchte über Wahn sprechen, den Wahn, der in uns allen dämmert. In Ihnen wie in mir. Ich möchte die Arten des Wahns betrachten, wie mein Sohn die Marienkäfer betrachtet, voller Neugier und Freude am Unbekannten. (Und hoffend, dass kein Wahn reglos auf dem Rücken liegen bleibt – das wäre Material für Horrorfilme.)
Wohlauf, Freunde: Mehr Mut, den Wahn zu erforschen!
Der Unterschied
Ich sehe über mir den Himmel, und ich weiß doch, dass da nicht wirklich ein Himmel ist, zumindest kein blauer Deckel mit weißen Flecken in Schäfchenform. Das Blau des Himmels ist das Licht, das sich in der Atmosphäre bricht. Weil ich weiß, dass das, was ich sehe, nicht da ist, ist es kein Wahn, zu reden, als ob es da wäre. Eine Bedingung des Wahns ist es, dass man seinen eigenen Irrtum nicht erkennt.
Die andere Bedingung des Wahns ist, dass der Wahn mein Leben beeinträchtigt. Selbst wenn ich glaubte, dass der Himmel buchstäblich ein blauer Deckel ist, dann wäre es doch kein Wahn, denn für meine Grundfähigkeiten als Steuerzahler macht es keinen praktischen Unterschied. Es glauben ja Millionen von Menschen an eine selbstbewusste Kraft im Himmel, welche dir freitags auf den Teller und nachts unter die Bettdecke schaut, damit du ja nichts Sündiges isst oder tust. Es ist kein »Wahn«, solange du dennoch an der roten Ampel hältst und am Wahltag immer brav wählst, was der Mann im Fernsehen dir zu wählen empfiehlt. Ein Irrtum ist erst dann ein Wahn, wenn er dein Leben beeinträchtigt. (Es ist ähnlich wie mit jener Weisheit: Was ist der Unterschied zwischen einem Idioten und einem Exzentriker? Der Kontostand.)
Der gute Herrgott hat noch mehr Arten des Wahns erschaffen als er uns Arten von Marienkäfern schenkte. Lassen Sie mich deshalb, bitte, drei Wahn-Arten herausgreifen, die mir aufschlussreich zu sein erscheinen!
Der Eigengeruchswahn
Ein Angestellter betritt den Konferenzraum. Seine Augen schweifen. Er plant, wo er sich hinsetzen wird. Nah am Fenster? Die Heizung bullert heiß! Er setzt sich dazwischen, auf halber Höhe. Er wechselt den Platz, dann wieder, und dann wieder. Er hat erst vor einer Stunde geduscht und neue Kleidung angezogen. Wird das neue Deodorant den Schweißgeruch aufhalten?
Der Boss eröffnet das Meeting. Nach dem ersten Satz bricht der Boss ab und bittet, das Fenster zu kippen. Der Angestellte denkt: Das ist bestimmt wegen mir! Ich stinke wieder!
Der Eigengeruchswahn wurde 1971 als »Olfactory reference syndrome« beschrieben. Wer an diesem Wahn leidet, deutet alle möglichen Ereignisse in der Welt als Hinweise auf sein angebliches Stinken. Ein Passant reibt sich die Nase? Das muss daran liegen, dass ich stinke. Jemand ist nicht so freundlich zu mir, wie ich erwartete? Er riecht, wie sehr ich stinke!
Eine Auffälligkeit des Eigengeruchswahns ist, dass er nicht in allen Kulturen gleich häufig auftritt, sondern – wie man erwarten würde – vermehrt in Kulturen mit großem Fokus auf Reinlichkeit.
Nehmen wir einmal an – nein, nehmen wir es besser immer an! – dass, soweit das Gehirn betroffen ist, Menschen rund um den Globus mit der gleichen Basis ins Leben starten. Nehmen wir also an, dass die biologische Grundvoraussetzungen für den Eigengeruchswahn überall auf der Welt statistisch gleich verteilt sind. Ich frage mich: Welche Formen des Wahns sind außer dem Eigengeruchswahn offenbar kulturell gefördert? Kann es sein, dass ich, wenn ich in eine andere Kultur geboren wäre, bereits diesem oder jenem Wahn anheimgefallen wäre?
Der Nichtigkeitswahn
Woher wissen Sie, dass Sie kein Zombie sind? Woher wissen Sie, dass Sie nicht ein Roboter sind, der nur ein Programm ausführt, und das, was Sie empfinden, eine lokale Illusion?
Sie werden mir antworten: »Aber, Wegner, Sie haben die Antwort doch selbst angedeutet! Wenn es eine Illusion wäre, müsste es doch jemanden geben, an dem die Illusion vollführt wird, und das bin eben ich. Also wäre das Ich kein seelenloser Zombie.«
Im Prinzip liegen Sie mit Ihrem Einwand richtig – im Prinzip. Menschen, die am »Cotard-Syndrom« leiden, würden Ihnen in Ihrer Argumentation nicht zustimmen. Dieser spannende Wahn wurde im 19. Jahrhundert vom französischen Neurologen Jules Cotard beschrieben. Er nannte ihn den »délire des négations«, den »Wahn der Nicht-Existenz«.
Wer das Cotard-Syndrom aufweist, der ist der festen Überzeugung, er sei bereits tot, ja, er existiere gar nicht. Paradoxerweise glaubt die Mehrheit dieser Patienten zugleich, sie seien unsterblich.
Das Cotard-Syndrom ähnelt dem Capgras-Syndrom. Bei jenem sind Menschen der Überzeugung, alle ihre Mitmenschen seien durch Doppelgänger ersetzt, also »nicht wirklich sie selbst«. Mediziner vermuten, dass bei beiden Syndromen zwei wichtige Hirn-Areale voneinander getrennt sind, die gemeiniglich eng zusammenarbeiten: Das Areal, das Gesichter erkennt, und das Areal, das Erkanntem emotionale Reaktionen zuordnet.
Ich finde das spannend, mindestens so spannend, wie mein Sohn den Marienkäfer mit den halb ausgefahrenen Flügeln fand: Ein Mensch, der für andere Menschen keine Gefühle empfindet, der schließt daraus, dass er selbst tot ist.
Ich betrachte den Wahn, und ich will prüfen, ob ich seine Spuren in mir selbst finde. Ich prüfe: Ließe sich die Logik umdrehen? Dass das eine die Folge des anderen darstellt, heißt noch nicht, dass das andere das eine nicht ebenfalls bedingen kann. Wir sind hier nicht auf dem Schulhof, dass wir fragen müssten, wer angefangen hat. Wenn das Nichtempfinden gegenüber dem Anderen zum Gefühl der eigenen Nichtexistenz führt – könnte nicht auch umgekehrt das Gefühl der eigenen Nichtexistenz zur Gefühlskälte gegenüber dem Anderen führen?
Ich prüfe mich. Wir prüfen uns. Die Spannungen zwischen den Kulturen werden heute, nach einer Zeit gewisser Hoffnung, wieder schärfer. Man fühlt sich erinnert an das Standbild bei Daniel, wo sich Ton und Erz zu mischen bemühen – und es ihnen doch nicht gelingen will. Wer mit dem Anderen kein Gefühl verbindet, lehrt uns das Cotard-Syndrom, der fühlt sich selbst bald wie tot, wie nicht-existent. Gilt das auch für Nationen? Wer mit der anderen Nation kein Gefühl empfindet, wird der auch bald dem Wahn verfallen, selbst Teil keiner Nation zu sein? Und, anders herum: Wer sich selbst als Teil von Nichts empfindet, wie kann er mit der anderen Nation und dem anderen Menschen, der sich durchaus als Teil einer solchen sieht, mit-empfinden? Ich prüfe, mit wem ich mit-empfinde.
Der Größenwahn
Der dickste der drei Marienkäfer, die ich heute betrachte, ist der Größenwahn – die Megalomanie.
Sagen wir es geradeheraus: Wenn man sich einen Wahn heraussuchen müsste, wäre es dieser. Größenwahn ist schick. Es liegt wenig Würdevolles darin, sich die Haut aufzureißen, weil man im Dermatozoenwahn darunter Insekten wahrzunehmen meint. Wer dem querulatorischen Wahn verfällt, der kann zwar sein Brot etwa als Aktivist verdienen, würdevoll ist das aber ebenso wenig – und angesehen schon gar nicht. Die Megalomanie, die hat Größe.
Größenwahn ist die Überschätzung der eigenen Möglichkeit und Bedeutung. Es ist wohlbelegt, dass alle Menschen sich regelmäßig überschätzen, der Größenwahn jedoch geht über die gewöhnliche Alltagshybris hinaus. Wer der Megalomanie verfallen ist, dessen Selbstüberschätzung geht so weit, dass er sich und andere gefährdet. Der megalomanische Unternehmer nimmt Kredite auf und überschätzt um ein Vielfaches seine Möglichkeiten, das geliehene Geld zurückzuzahlen. Der megalomanische Wohltäter sagt der gesamten Welt zu, sie von ihrer Not zu erlösen. Der megalomanische Prediger bildet sich ein, Kraft seiner dürren Worte, allen Völkern und Nationen seinen Pfad zum Heil aufzwingen zu können.
Wir sagten, dass die Megalomanie als einzig schicker Wahn gilt. Man könnte ergänzen, dass der Unterschied zwischen Genie und Größenwahn doch nur der Erfolg sei. – Ich teile diese Naivität nicht.
Ende unseres Spaziergangs
Ich halte jeden Wahn für gefährlich und keinen für wünschenswert.
Der Wahn der Kranken, der ihnen Leid verursacht, ist ohnehin als Last und Übel anerkannt, sonst würden wir sie ja nicht therapieren und begleiten.
Der Wahn der Gesunden ist nicht minder gefährlich – ist er nicht gefährlicher?
Ein Wahn ist ein gefährlicher Irrtum, an dem man trotz aller Evidenz festhält. Man muss nicht »krank« sein, um einem Wahn zu unterliegen.
Es prüfe sich ein jeder selbst: Wo halte ich an einem Irrtum fest, gegen alle Evidenz, obwohl er mir und womöglich meiner Umwelt schadet?
Die beste Absicht wird zum Wahn, wenn sie nicht allezeit von den übrigen menschlichen Instanzen wie Gewissen und Einsicht in die Möglichkeit des eigenen Irrtums eingehegt wird. Die Jakobiner der Französischen Revolution lieferten die Schablone für den europäischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Heute, wenn die neuen Jakobiner ihre ersten Fingerübungen anstimmen, erinnern wir uns daran, was Friedrich Schiller im Lied von der Glocke über diese Leute schrieb: »Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.«
Am Ende unseres Spaziergangs hat mein Sohn all die Marienkäfer, die er auf der Hand eingesammelt hatte, wieder fortfliegen lassen. Was will man mit Marienkäfern, wenn am Ende des Weges der Eisbecher lockt?
Möge es uns gelingen, all unseren Wahn fortfliegen zu lassen – und: ach, wäre es nur so einfach!