Dushan-Wegner

24.02.2023

Des Anpackers Deutschsein

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Und welche Frage stellst du dir heute?
Man hört Deutsche übers Auswandern grübeln, doch zu oft denken sie ausschließlich praktisch. Zu selten stellen sie »weiche« Fragen, die später überraschend schwer wiegen. Etwa: Welche Aspekte von mir würde ich in Deutschland zurücklassen?
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Ein Mensch, der beruflich Rezeptionist eines Urlaubshotels ist, erzählte mir kürzlich, dass er heutzutage mehrmals wöchentlich – nur halb im Spaß – von Deutschen gefragt wird, ob sich an jenen ausländischen Urlaubsort auswandern ließe, und was die Immobilien dort kosten.

Zunächst werden Fragen im Spaß gestellt, doch wir wissen ja: Aus Spaß wird Ernst – und Ernst schlägt sich dann bald mit der mittelamerikanischen Bürokratie herum.

Die Anpacker

Ich habe über die Jahre immer wieder mit Menschen gesprochen, die nicht nur übers Auswandern grübelten, sondern es auch »durchzogen«.

Ausnahmslos zählen die mir bekannten deutschen Auswanderer zu den Menschen, die meiner Einschätzung nach Deutschland am dringendsten bräuchte.

Ich meine nicht unbedingt primär jene mythischen »Hochgebildeten«, die den höchsten Bieter für das ihnen innewohnende Versprechen suchen. (Und wenn einer sich auch noch für Geld gewissen Diktaturen andient, dann ist sein moralisches Innenleben mir ohnehin zu vulgär, um weiter interessant zu sein.)

Ich meine die Handwerker und Anpacker, ich meine jene Menschen, die »Sachen auf die Reihe kriegen« und »zum Laufen bekommen«.

Nicht wenige unter den tatsächlichen Auswanderern gehören zu jenen, welche eine Gesellschaft tatsächlich in Betrieb halten.

Spätestens wenn es in Spanien oder Mittelamerika einfacher ist als in Deutschland, einen bezahlbaren und verfügbaren deutschen Handwerker zu finden, wird man merken, dass nicht nur die sogenannten »Spitzenkräfte« einem Land fehlen können – und dass die »Anpacker« auf eigene, extra schmerzhafte Weise fehlen.

X ohne X-land

Nicht wenige Auswanderer stellen bald fest, dass sie einige der zentralsten Fragen des Auswanderns nicht wirklich vorher bedacht hatten – und dass sie sie gar nicht bedenken konnten.

Das Ausgewandertsein, wie auch die Liebe, das Dazwischensein und das Sehen der Farbe Rot, ist ein Zustand, den nur der versteht, der ihn fühlt, und jedes andere Verstehen ist bestenfalls Beschreiben. (Zum Vergleich: Die Formel »H2O« beschreibt das Wasser, doch alles Studium der Chemie entspricht nicht dem Gefühl, im Wasser zu ertrinken oder zuvor mit Wasser seinen Durst zu stillen.)

Was bedeutet es und wie fühlt es sich an, ein Deutscher außerhalb Deutschlands zu sein? Wer bin ich als X außerhalb von X-land?

Der Rahmen

Wie und was also soll jener Rezeptionist den Deutschen antworten, welche ihn fragen, ob und wie teuer sich unter Palmen das Deutschsein fortsetzen ließe?

Was bedeutet diese Frage überhaupt? (Die Bedeutung der Frage, wie auch die der Kunst, sind die Lücken, welche durch die Frage und die Kunst jeweils markiert werden. Die Frage markiert die Lücke im Verständnis. Die Kunst markiert die Lücke in der Formalisierungsmöglichkeit; extra frei nach Wittgenstein: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man Kunst machen.)

Eine sehr zentrale und oft viel zu spät gefragte Frage: Lässt sich das persönliche und/oder das kollektive Deutschsein auch außerhalb Deutschlands fortsetzen? Welche Schritte muss man dafür unternehmen? Will man es überhaupt aktiv, und wenn nicht, wie sicher ist man, dass man mit der übrigbleibenden Persönlichkeit ganz zufrieden sein wird?

Zur Präzisierung

Bei aller Heterogenität sind die Schweizer und das geographische Gebiete namens »Schweiz« kaum ohneeinander vorstellbar.

Die Juden und Israel sind begrifflich derart untrennbar, dass es linken und muslimischen Judenhassern immer wieder als nützliche Rampe dient, auf Israel zu schimpfen und die Juden zu meinen.

Wie aber verhält es sich mit den Deutschen und Deutschland?

Sollte der Rezeptionist statt aktueller Preise für Immobilien besser die Bedeutung des Deutschseins debattieren, womöglich im Vergleich zu anderen Völkern? Es würde sehr schräge Debatten an der Rezeption ergeben – und dann zwischen dem Rezeptionisten und dem Hotelchef.

Die Frage erfordert ja ohnehin Präzisierung, eine genauere Markierung des emotionalen Rahmens.

Erlauben Sie mir, zur Präzisierung einen der bekanntesten deutschsprachigen Autoren zu zitieren, den in Prag unter Tschechen lebenden Juden Franz Kafka – also einen Menschen, für den jedes Land in mindestens einer Dimension Ausland war.

Kafkas kurzer Text »Die Bäume« ist nur einen Absatz lang, und das ist er:

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar. (Franz Kafka, Die Bäume; zitiert nach gutenberg.org)

Bis dann doch

In dieser Zeit der »digitalen Nomaden« und »globalen Mobilität« meint man, das es einfach sei, einen Menschen von einem Ort an den anderen zu verschieben. Tatsächlich ist das Gewicht, das uns an einem Ort und seiner Kultur hält, viel schwerer, als wir selbst zunächst meinen könnten.

Der Mensch kann sich durchaus mit dem Körper an einem Ort befinden und mit der Seele an einem anderen, und so ist er zerrissen zwischen zwei Orten. Der Wanderer ist ein Dazwischenwesen. Er versucht irgendwie zu überbrücken, die Kultur des einen Ortes am anderen Ort zu leben, wie ein Vegetarier, der Salat beim Metzger bestellt, und es passt alles nicht.

Bis es dann doch passt.

Genauer: Bis es dann doch »zu passen beginnt«, und der Mensch sich über sich selbst wundert, warum es wohl nur scheinbar war, dass es nie passen würde.

Lieber vom Wetter

Was soll jener Rezeptionist also antworten? Ach, man will die Gäste ja nicht in existenzielle Krisen stürzen. Also spricht man vom Wetter, von Immobilientrends und von der Bürokratie.

Eine präzise Antwort wäre die Rückfrage: »Wie sicher bist du dir, dass du eben du bleiben kannst, wenn du den Kontext deines bisherigen Ich verlässt?«

Ja, selbst wenn der Grübelnde nicht nur indirekte Fragen stellen sollte, wie die nach Immobilienpreisen und Papierkram, sondern direkt fragen sollte, ob er soll oder nicht, wäre die hilfreichste Antwort nicht »Ja« oder »Nein«, sondern wieder: Erkenne dich selbst!

Weiterschreiben, Wegner!

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