In jeder Schafherde finden sich zwei oder drei Tiere, die sich vor der Herde lächerlich machen, die die Herde nerven und die Herdenruhe stören. Man nennt sie die Querschafe, und bei ihrem Geblöke verdrehen die übrigen Schafe ihre Schafsaugen.
Die Querschafe stellen all die lästigen Fragen! Woraus ist des Schäfers Pullover gemacht? Wohin ist Mutter verschwunden, und was hat der Schäfer gestern zu Abend gegessen? Warum sind sich der Schäfer und der Hund stets so auffällig einig?
Jedes Querschaf aber hat zwei Leben: das erste Leben vor der Erkenntnis, das zweite Leben nach der Erkenntnis. Dazwischen, in beide hineinreichend, die Zwischenzeit, in welcher der Verstand begriffen hat, während das Herz nicht loslassen will. Nicht wenige von Ihnen, die Sie dies lesen, befinden sich genau jetzt in dieser Zwischenzeit. Der Verstand versteht, doch das Herz leugnet – noch.
Viele Jahre lebt das Querschaf in dem Irrglauben, dass die übrigen Schafe genauso fühlen wie es selbst. In seinem ersten Leben glaubt das Querschaf, dass, wenn es nur seine Argumente präziser darstellt und seine Fragen umfassender begründet, die übrigen Schafe doch zu einer ähnlichen Erkenntnis kommen sollten.
Dass man gemeinsam zu tieferer Erkenntnis gelangen müsste.
Dass diese Fragen sich aufzwingen.
Dass wir alle Suchende und Lernende seien … und zu diesem Zweck doch Überlebenwollende.
Bis das Querschaf unter Schmerzen lernt, dass es anders fühlt.
Zwischenspiel
Lassen Sie mich bitte, als Nachrichtenteil dieses Essays, all jenen widersprechen – auch einigen von Ihnen, meine lieben Leser! –, deren Meinung zu den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten solche Formulierungen enthält wie »aber«, »auf beiden Seiten« oder gar »verhältnismäßig«. Die Wahrheit ist schlicht: Den (meisten) Israelis wurde durch die jüngsten, unvorstellbar grausamen Morde bewusst, dass sie längst wieder ums Überleben kämpfen. Was muss in Deutschland passieren, damit dies auch den Deutschen bewusst wird?
Je länger man damit wartet, zu tun, was zum Überleben notwendig ist, desto aggressiver und weniger schön wird das Notwendige – und wenn man zu lange wartet, wird es auf andere Weise unschön.
Mehr ist dazu für jetzt nicht zu sagen – zurück zu den Schäflein!
Die schämen sich nicht
Zu den traurigsten und doch auch befreiendsten Momenten des Querschaf-Lebens gehört der Augenblick, in dem das Schaf einsieht, dass es zu einer Minderheit gehört.
Die meisten von uns Menschen freuen sich auf etwas, wollen etwas, arbeiten auf etwas hin. Alle aber, wirklich alle von uns, fürchten auch etwas. Uns Menschen eint, dass wir Angst haben – uns unterscheidet allerdings grundlegend, wie wir mit unserer Angst umgehen.
Einige Menschen begegnen ihrer Angst, indem sie darüber reden und gemeinsam mit ihren Mitmenschen nach Lösungen und zuvor zumindest emotionaler Orientierung und Ordnung suchen. (Das sind wir hier.)
Einige Menschen zelebrieren ihre Angst, jeden Tag, indem sie Nachrichten lesen und dann erschüttert sind, doch es bewegt sie zu keiner Handlung – fast als würden sie ihre Angst »genießen«.
Einige Menschen wandeln ihre Angst und Zerrissenheit in Aktion um, doch nicht um die Ursache der Angst zu beheben, sondern um als Gegenstück zur Zerstörung etwas Schönheit in die Welt zu bringen. Diese Menschen können Familien oder Unternehmen gründen, können Kunst schaffen oder fördern.
Ein gefährlich großer Teil der Menschen aber möchte sich seinen Ängsten gar nicht stellen, weder passiv noch aktiv, sondern leugnet sie – sie leben also die berühmte große linke Lebenslüge.
Um zu verhindern, dass jemand sie an ihre Ängste erinnert, werden die Angstleugner bisweilen aggressiv und bekämpfen jeden, der sich seiner Angst bewusst ist und diese auch zu benennen wagt.
Die geleugnete Angst ist aber nicht fort, genauso wenig wie ihre Ursachen! Die geleugnete Angst köchelt und wächst weiter unten. Der Leugner versucht unbewusst, seine Ängste zu verarbeiten, indem er Autoritäten folgt, die ihm die Angst zu nehmen versprechen.
Irgendwann dann
Gelegentlich nennen wir Schafe, die blind Autoritäten folgen, »Schlafschafe«, denn sie wirken wie in Trance oder eben schlafend. Doch diese Schafe schlafen nicht, sie trotten nur nervös hinterher. Sich den eigenen Ängsten zu stellen und aus dem Zug der Schafe auszuscheren, bereitet der Mehrheit der Schafe eine weit größere Angst als jene Angst, die sie leugnen.
Die Schafe, die ihre Angst leugnen, rufen sich selbst Mut zu, indem sie rufen: »Wir sind mehr!«
Und so trotten sie brav über die Weiden, tagaus, tagein – und irgendwann ins Schlachthaus.
Einige Schäflein versuchen zumindest, sich querzustellen, und nennen sich selbstbewusst »Querschafe«. (So selbstbewusst, dass wir es uns aufs T-Shirt schreiben!)
Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind alles »Schäflein«, ausnahmslos, und die Christenkinder sind es sowieso.
Doch einige von uns können einfach nicht anders, als sich ihren Ängsten zu stellen, der Stimme ihres eigenen Gewissens, der Frage nach Sinn und Bedeutung. Auch diese Art von Schafen wird irgendwann den letzten Weidegang hinter sich bringen, das ist das Schicksal der Schafe. Doch bis dahin werden die Querschafe sich immer wieder querstellen, das ist ihre Natur. Und ohne die Querschafe würden alle Schafe noch schneller und häufiger zur Schlachtbank geführt werden.
Klein und denkbar fein
Täuscht euch nicht, liebe Schäflein: Es geht heute um nicht weniger als um unser Überleben. Einige trotten ängstlich hinterher, und wenn das Messer an ihren Hälsen anliegt, werden sie noch immer »Wir sind mehr!« blöken.
Andere Schäflein aber stellen sich quer, weil sie gar nicht anders können, weil sie gar nicht anders können wollen, und diese Querschafe sind die kleine, aber denkbar feine Herde, zu der auch ich gehören möchte.