Dushan-Wegner

31.10.2023

Warnung vorm Drachen

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten
Was würden Sie tun, wenn Sie erfahren hätten, dass ein gefährlicher Drache bald Ihr Dorf niederbrennen und die Dorfbewohner fressen wird – doch niemand auf Sie hört, bis es zu spät ist?
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Es war einmal ein Dorf, darin lebten hundert feine Dörfler, dazu ein Dorfbürgermeister und ein Dorftrottel.

Der Dorftrottel und der Bürgermeister waren nicht dieselbe Person, und sie unterschieden sich darin, dass der Trottel eine Brille brauchte und auch eine trug, der Bürgermeister zwar eine brauchte, doch aus Eitelkeit eben keine trug, wie übrigens, bis auf zwei Ausnahmen, auch alle übrigen Dörfler keine Brille trugen.

Das Dorf lag am Fuß eines Berges, und der Berg hieß der Drachenberg, und die Kinder lernten in der Schule, dass es sich nicht gehöre, zu fragen, warum der Drachenberg der Drachenberg hieß.

Es begab sich an einem Sonntagmorgen, während die übrigen Dörfler brav in der Kirche waren, dass der Dorftrottel am Fuß des Berges spazieren ging.

Er setzte einen Fuß vor den anderen, wie Trottel es zu tun pflegen. Er dachte über philosophische Fragen nach, besonders über die eine: Bin ich der Trottel, und sind die übrigen Leute eben keine – oder verhält es sich andersherum?

Während der Dorftrottel so grübelte, hörte er plötzlich ein Schnarchen aus der Erde.

Der Boden unter seinen Füßen zitterte.

Der Berg ließ ein paar Steine von der Seite herabrollen und öffnete den Eingang zu einer Höhle, woher das Schnarchen nun sehr deutlich erklang.

Da der Dorftrottel ein Trottel war, steckte er seinen Kopf in den Höhleneingang.

Da war etwas!

Er trat in die Höhle.

Er rückte seine Brille zurecht. Soweit er erkennen konnte, lag da ein großer Drache, und der Drache schnarchte.

»Was würde wohl passieren, wenn ich etwas nach dem Drachen werfe?«, fragte sich der Trottel.

Er bückte sich nach einem Stein, doch da sprach der Drache im Schlaf.

»Die Zeit ist gekommen«, brummte der schlafende Drache, »wenige Tage noch, und ich werde erwachen. Das Dorf werde ich in Flammen setzen. Die Dorfleute werde ich fressen.«

Und dann schnarchte der Drache wieder weiter.

Der Trottel aber stolperte, so leise er konnte, wieder rückwärts aus der Höhle.

Kaum war er draußen, erschütterte noch mal ein Schnarchen des Drachen den Berg, weitere Steine rollten herunter und stapelten sich vor dem Eingang der Höhle.

Der Trottel rannte ins Dorf, direkt zur Kirche, wo die anderen Dörfler gerade aus dem Gottesdienst kamen.

Der Trottel stellte sich den Menschen in den Weg, und er rief: »Ein Drache lebt im Berg! Ein Drache lebt im Berg, und er schläft, und bald wird er aufwachen, und dann wird er das Dorf niederbrennen, und er wird uns alle auffressen.«

»Hahaha«, lachten die Menschen, »was für Sachen der Dorftrottel doch wieder erzählt!«

Ein altes Muttchen brummelte: »Oh, ich habe den Drachen doch gesehen, damals! Ich hätte den Menschen später davon erzählen sollen, als hier ein neues Dorf gegründet wurde. Ich war zu ängstlich, wollte nicht auffallen. Wollte mich nicht unbeliebt machen. Und jetzt ist es zu spät. Es hört doch niemand auf ein altes Muttchen.«

Am Nachmittag gab der Bürgermeister ein Fest fürs Dorf. Der Trottel putzte seine Brille und begab sich erneut unter die Leute.

»Im Berg lebt ein Drache!«, rief er, und: »Bereitet euch vor, er wird uns auffressen!«

Die Menschen schmunzelten, aber diese seine Trottelei war nun nicht mehr neu.

Der Bürgermeister meinte, dass der Dorftrottel das Dorffest störte. Also schickte der Dorfpolizist den Dorftrottel nach Hause.

Doch der Dorftrottel gab nicht auf.

Am nächsten Tag trat der Trottel auf den Marktplatz und wiederholte seine Warnungen: »Im Berg schläft ein Drache, und er wacht bald auf. Wenn wir nicht rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, wird er das Dorf niederbrennen und uns alle fressen.«

Die ersten Leute begannen sich zu fragen, ob an der Erzählung des Dorftrottels nicht tatsächlich etwas dran sein könnte.

Der Bürgermeister wurde nervös, wollte dies aber nicht zeigen. Er überlegte, den Dorftrottel für eine Weile verhaften zu lassen, wegen Störung der öffentlichen Ordnung.

Doch das würde so aussehen, als hätte er Angst vor ihm.

Er dachte sich eine andere, sehr gewiefte Taktik aus: Am Abend in der Kneipe heuerte er zwei Kerle an und verpasste jedem von ihnen eine Brille, genau wie der Dorftrottel sie trug.

Am nächsten Tag dann, als der Dorftrottel wieder auf dem Marktplatz vor dem Drachen warnte, kamen die beiden Kerle dazu, ein jeder mit der Brille auf der Nase.

Der erste Kerl rief: »Ich bin ebenso ein Trottel, und ich habe es geprüft: Im Berg lebt kein Drache. Es ist alles sicher.«

Der zweite Kerl rief: »Nein, nein, ich habe es geprüft: Im Berg lebt ein Einhorn, und es wird uns alle mit Zuckerwatte beschenken.«

»Ach, diese Trottel reden alle Unsinn«, dachten die Dörfler bei sich, und wie vom Bürgermeister geplant, nahmen sie nun keinen der drei Trottel ernst, weder den echten Dorftrottel noch die angeheuerten Kerle. Also trafen sie auch keine Vorbereitungen.

Dann aber grollte es eines Tages so laut vom Berg her, dass man es sogar im Dorf hörte. Die Erde zitterte und ein Riss ging durch den Marktplatz.

Da erschien der Bürgermeister auf ebendiesem Marktplatz, nahm den beiden falschen Trotteln die Trottelbrillen ab und schickte sie fort, setzte sich selbst eine Brille auf und verkündete mit Autorität: »Bürger, wir waren naiv! Im Berg lebt ein Drache! Er wird bald aufwachen! Der Drache wird unser Dorf niederbrennen! Er wird uns alle fressen! Bereitet euch vor!«

Da aber schob sich ein Schatten über den Marktplatz und die Dorfleute verstummten.

Es war der Drache.

Lautes Geschrei.

Der Bürgermeister und alle Dörfler legten ihre Köpfe in den Nacken und schauten nach oben.

Der Drache lachte. Es war ein böses, röhrendes Lachen.

Dann sagte das Biest: »Ah, mein Freund, der Bürgermeister. Hast du mir die Menschen ruhig gehalten?«

Der Bürgermeister sagte nichts, setzte nur seine Brille ab, und suchte nach einem Ort, sie zu verstecken.

»Erst jetzt zum Schluss hast du dein Gewissen entdeckt«, sagte der Drache, »wolltest die Leute doch noch warnen.«

»Es war zu spät«, seufzte der Bürgermeister.

»Das stimmt«, sagte der Drache und fraß den Bürgermeister.

Die Dörfler waren starr vor Angst. Jemand weinte.

Der Drache zuckte mit den Schultern, fauchte, spie heiße Flammen und setzte die Häuser des Dorfes in Brand, zuerst die Kirche.

Dann fraß er die restlichen Dorfbewohner, einen nach dem anderen. Er begann mit dem alten Muttchen, welchem er zunächst zuzwinkerte, wie man eine Bekannte aus alten Zeiten grüßt.

Er fraß sie alle – bis auf den Dorftrottel.

Inmitten der Flammen stand der Trottel mit seiner Trottelbrille da, und er fragte den Drachen: »Warum lässt du mich am Leben?«

Die Flammen loderten, doch nahe bei dem Drachen fühlte sich der Trottel sicher.

»Du und ich«, sagte der Drache, »wir werden hier eine neue Stadt gründen! Habe ich eine Stadt gesagt? Ich meine einen Staat, eine Nation! Und du wirst mein erster Minister!«

»Ein Minister?«, japste der Trottel.

»Jawohl, mein Minister«, erklärte der Drache.

Stolz nahm der angehende Minister seine Brille ab.

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte der Drache, fraß den Dorftrottel auf und zertrat die Brille.

Ein kleines Mädchen aber hatte sich versteckt und das alles beobachtet. Als auch der Dorftrottel gefressen worden war, rannte das Mädchen weg.

Der Drache tat, als hätte er das nicht gesehen. Er schmunzelte und legte sich wieder schlafen. Dann schnarchte er so laut auf, dass der Eingang zu seiner Höhle sich polternd wieder verschloss.

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