Dushan-Wegner

25.05.2022

Sigmund Freud, das Portemonnaie und dein Gewissen

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Freud und Gewissenthumbnail2
Das Gewissen quält uns, manchmal fühlt es sich sogar wie ein Hindernis an – und manchmal widerspricht es sich selbst. Kann man das Gewissen einfach »loslassen«?
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Ich wage eine These, und zwar: Unser Gewissen sagt uns überhaupt nicht, was gut ist und was böse. – Das Gewissen ist auch kein innerer Richter, selbst wenn es sich gelegentlich als solcher aufspielt.

In Konsequenz muss das bedeuten: Es kommt immer wieder vor, dass wir unser Gewissen »loslassen« müssen – loslassen und neu justieren.

Lasst es mich bitte erklären!

Wie hilfreich?

Ein Beispiel: Du findest ein Portemonnaie, und es ist Geld darin.

Was tust du?

Was rät dir dein Gewissen?

(Bist du in solchen Situationen auch so verwirrt, dass dein Gewissen dir überhaupt keinen endgültigen Rat gibt? Dass es eigentlich nur Probleme macht?)

Hängt deine Entscheidung davon ab, um wieviel Geld es geht? Hängt es davon ab, ob die Papiere mit drin sind? Vertraust du dem Fundbüro und was für eine Rolle spielt deine Einschätzung des Fundbüros für deine Entscheidung?

Dein Gewissen meldet sich, ja, aber wie hilfreich ist es wirklich?

»Eine kritische Instanz«

Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, teilt die Persönlichkeit des Menschen in die drei Kategorien »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. (Manche Leute sprechen »Es« in diesem Kontext übrigens lang aus, also »Ehs«, ähnlich wie in »Esel«. Freuds Tochter sprach es so, und man geht davon aus, dass auch ihr Papa es so tat. Ich spreche »Es« kurz aus, wie in »Estrich« oder »Eskalation«.)

Das »Es« könnte man auch die »tierischen« Aspekte unserer Psyche nennen. Das »Ich« ist eben das, was ich bewusst als mich selbst wahrnehme. Die Schaltzentrale quasi. Das »Über-Ich« aber ist der gedachte Ort, an welchem all die kontrollierenden Ebenen unserer Psyche sitzen, etwa die sozialen Normen und natürlich das Gewissen.

Die Autorität von Eltern und Gesellschaft wird, so sagt Sigmund Freud, zum Gewissen des Kindes. Der Erwachsene darf (und sollte!) dann sein Über-Ich im Kontakt mit der Realität ein Leben lang immer weiter verfeinern.

Das Gewissen ist »eine kritische Instanz im Ich«, die sich »dem Ich kritisch gegenübergestellt« (so Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), VII: »Die Identifizierung«).

Man muss nicht Psychoanalytiker sein, um das ein Stück weit plausibel zu finden.

Das Richtige

Wir sehen es ja selbst: Was der eine Mensch ganz in Ordnung findet, das findet der andere total schlimm. Der Inhalt unseres Gewissens ist nicht vollständig angeboren, sonst wäre es nicht auf so viele Arten unterschiedlich.

Unser Kontext formt unser Gewissen. Religiöse Menschen halten die Stimme ihres eigenen Gewissens vielleicht für die Stimme Gottes selbst, doch dieser »Gott« klingt reichlich unterschiedlich.

Die meisten Menschen verfügen über zwei Hände und zwei Füße, zwei Augen und zwei Ohren. Darin sind wir fast alle ähnlich. Ein Mensch, bei dem das anders ist, wird versuchen, das fehlende Organ zu ergänzen oder auszugleichen.

Die Struktur unseres Gewissens aber ist denkbar unterschiedlich – doch praktisch jeder fühlt, dass genau sein Gewissen das »richtige« sei.

Wir Menschen sind uns nicht einmal in ganz grundlegenden Gewissensfragen alle einig. Denken wir nur daran, wie unterschiedlich die Gewissenslage etwa zum Umgang mit Kindern sein kann!

Ja, der Mensch ist sich nicht einmal mit sich selbst einig. Wie oft fühlen wir uns zerrissen, weil unser Gewissen zugleich das eine wie auch das andere sagt.

Es ist geradezu paradox: Auf der einen Seite ist das Gewissen bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Auf der anderen Seite ist es zwingend erforderlich, ein Gewissen entwickelt zu haben, um überhaupt an der Gesellschaft teilnehmen zu können.

Sigmund Freud sagt: »Mit dem Eintritt in soziale Beziehungen wird die Angst vor dem Über-Ich, das Gewissen, zur Notwendigkeit, der Wegfall dieses Moments die Quelle von schweren Konflikten und Gefahren usw.« (Freud: »Hemmung, Symptom, und Angst« (1926), Abschnitt IX)

Falsche Ebene?

Eine meiner Denkregeln lautet: Wenn eine Aussage und ihr Gegenteil beide irgendwie richtig klingen, haben wir wahrscheinlich das Problem nicht präzise genug definiert – oft suchen und fragen wir in solchen Fällen schlicht auf der falschen Ebene.

Wenn verschiedene Menschen nun widersprechende Gewissens-Erkenntnisse haben können, ja, wenn ich sogar als ein und dieselbe Person, über die Zeit hinweg oder auch mal im selben Augenblick, mir in Gewissensfragen widersprechen kann, dann ist das Gewissen doch kein zuverlässiger Richter, keine absolute Wahrheit.

Was aber dann?

Obacht!

Ich sage: Das Gewissen ist wie das Alarmlämpchen an einer Maschine, an einem Auto vielleicht. Das Lämpchen warnt: »Hier stimmt etwas nicht, hier willst du nochmal drüberschauen!«

Das Alarmlämpchen im Auto warnt, dass etwas im Motor ungewöhnlich ist, nicht richtig – das Alarmlämpchen repariert den Schaden aber nicht, gibt meist auch keine Anleitung zur Entscheidung in Zweifelsfällen.

Wenn das Gewissen anschlägt, dann sagt das Über-Ich dem Ich: »Obacht, hier passiert Gefährliches für dein Selbstbild, deine Moral! Du musst nun selbst prüfen, wer du wirklich sein willst!«

Aufs Neue

Wenn ich also ein Portemonnaie finde, was werde ich tun? Zuerst werde ich feststellen, dass mein Gewissen anschlägt – und das ist eine gute Sache.

Mein Gewissen lässt eine Warnlampe aufleuchten, und es sagt mir: »Hier und jetzt entscheidet sich, was für ein Mensch du bist, also entscheide du dich, was für ein Mensch du sein willst.«

»Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu«, so schreibt Ödön von Horváth, doch es ist Ironie. Das funktioniert so nicht.

Mein Leben ist die Summe meiner bewussten Momente, und meine wirkliche Moral ist an der Realität meiner Handlungen ablesbar. Es gibt kein Leben im Konjunktiv, und keine Moral im Sonst-bin-ich-nicht-so.

Mein Gewissen fragt: Willst du ein Mensch sein, der Geld an sich nimmt, das ihm nicht gehört? Wenn du das Geld eines Fremden zum Wohl deiner Familie an dich nimmst, würdest du es demjenigen, der es verlor, auch direkt aus der Tasche rauben? Vertraust du dem Fundbüro wirklich nicht oder rationalisierst du nur deine Gier? Willst du ein Mensch sein, der sich an die offizielle Ordnung hält, selbst wenn er der einzige ist, der es auch dann tut, wenn es ihm schadet? Wägst du ab oder bist du stur?

Ich nehme den Alarm wahr, und ich will dankbar sein für die Fragen, die mein Gewissen mir stellt.

Dann aber will ich, ja, mein Gewissen für den Moment loslassen, und ich will tiefer in mir suchen: Wer will ich sein? Wer bin ich bereits? Welche Werte will ich leben, welche Strukturen sind mir wirklich relevant?

Ich sage zu meinem Gewissen: »Danke, dass du mich gewarnt hast. Ich werde darüber grübeln. Sobald ich genug nachgedacht habe und meine relevanten Strukturen in dieser Hinsicht besser verstehe, liebes Gewissen, stell deine Alarmfunktion bitte auf die neuen Werte ein. Für jetzt aber, liebes Gewissen, lasse ich dich los, selbst wenn du weiter Alarm machst. Du bist ein Warnsignal an einer Maschine, du bist nicht der Fachmann, der die Maschine neu einstellt. Der Fachmann in eigener Sache muss ich selbst sein.«

Ja, ich will genau auf dieses »Alarmlämpchen namens Gewissen« achten. Und wenn mein Gewissen sich meldet, will ich aufs Neue erforschen, was mir wirklich wichtig ist, wer ich wirklich bin.

Weiterschreiben, Wegner!

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