Dushan-Wegner

30.11.2023

Keine Pizza im Keller

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: »(Nicht) Platons Höhle«
Wie überzeugt man den Arzt, dass man wirklich einfach so die Treppe hinunterfiel und sich dabei das Gesicht verletzte? Und kann man heute überhaupt noch »einfach so« Pingpong spielen und Pizza essen?
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Nehmen wir an, du bist Krankenschwester. Oder Arzt. Oder jemandes Nachbar. Du wirst mit einem verletzten Kind konfrontiert. Oder einer Frau. Oder, ja, einem verletzten Mann!

Die Verletzung: Das Auge zugeschwollen.

Das Gesicht blutig.

Eine Schulter halb ausgerenkt.

Die Person sagt: »Ich bin die Kellertreppe runtergefallen.«

Was glaubst du? Was geht in deinem Kopf vor, wenn die verletzte Person vor dir sitzt?

Ein Arzt müsste in einem solchen Fall die Behörden verständigen. Zumindest in zivilisierten Ländern. Und auch da nur so weit, wie Zivilisation und Menschlichkeit noch nicht der politischen Korrektheit, also der Barbarei zum Opfer gefallen sind.

Wer sehen will oder sehen muss, der sieht sie, die mögliche Gewalt am Mitmenschen. Wo Rauch ist, ist Feuer. Und wo Verletzung ist, ist Verletzendes.

Vor Jahren einmal allerdings, da passierte mir etwas, das ließ mich eine hypothetische, praktische kulturtheoretische Frage stellen, noch während ich stürzte und mich zu halten versuchte.

Ich war von draußen ins Haus getreten. Ich wollte etwas in den Keller bringen. Meine Sohlen waren nass. Prompt rutschte ich aus und stieß meinen Kopf an der Wand neben der Kellertreppe. Ich fiel, Stufe für Stufe, die Treppe hinab.

Unten angekommen war mein Steiß noch ramponierter als meine Stirn und mein Gesicht, doch diese Verletzungen waren eben sichtbar. Ich humpelte gekrümmt, benebelt und mit Beule wieder hoch.

Die Beule und die Schramme an meinem Gesicht waren zum Glück nicht so schlimm, um damit ins Krankenhaus zu gehen. Doch der Theoretiker in mir fragte sich: Wie würde man es einem Arzt glaubwürdig erklären, dass man sein Gesicht demoliert hatte, indem man tatsächlich einfach so die sehr reale Kellertreppe runtergefallen war?

Pingpong und Pizza

Weil unter seinen Freunden gerade wieder Pingpong in Mode ist, auch »Tischtennis« genannt, schlug Leo gestern vor, den großen Esstisch leerzuräumen, ein paar Bücher als Netz aufzustellen … und dann Pingpong zu spielen.

Eine schöne Idee!

Wir spielten Pingpong, daheim. (Elli vernichtete uns – unschlagbar!)

Bei Lidl hatten sie außerdem schöne, große Pizzen im Angebot. Ich buk im Ofen eine für uns auf. Gegen den Hunger. Für die Stimmung.

Ein lustiger Abend, Partystimmung, Pizza und Pingpong.

Unschuldig und fröhlich, oder? Fand ich auch, als ich später mit einem Lächeln auf dem Gesicht einschlief. – Erst heute, am nächsten Morgen, wurde mir bewusst, wie vergiftet diese Begriffe sind.

Nun, einigen von uns dreht sich an dieser Stelle der Magen um. Wer weiß, der weiß – und wer nicht weiß, der ist wahrscheinlich besser dran.

Mehr habe ich zu diesen Begriffen auch nicht zu sagen, außer nur so viel: Wir handeln und schlussfolgern im täglichen Leben regelmäßig mit wenigen Indizien und Gewissheit, und wir handeln zuverlässig erfolgreich.

Ich wünsche mir so sehr, in einer Welt zu leben, in der einer, der die Treppe hinunterfiel, einfach nur die Treppe hinunterfiel – und Pizza mit Pingpong einfach nur das ist.

Bin ich schuldig?

Letztens, im Smalltalk, hörte ich zur Beschreibung einer bestimmten Gruppe von Menschen: »Die sind alle so unschuldig.«

Das war positiv und lobend gemeint, doch was bedeutet es?

Ist der Rest von uns schuldig und zugleich böse?

Bin ich schuldig, weil ich bei »Gesichtsverletzungen durch Treppensturz« gewisse Zweifel hege? Bin ich schuldig, wenn ich den Kunstgeschmack gewisser Leute ungewöhnlich finde?

Ist »schuldig« hier dasselbe wie »schmutzig«?

Ist nicht der »schuldig«, der nicht wahrhaben will, wozu Menschen in der Lage sind?

Ich möchte aus mir selbst heraustreten und uns zurufen: »Haha, ihr werdet alle auf den Arm genommen!«

Sie wissen schon

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, so ruft Goethes Faust auf seinem und Wagners »Osterspaziergang«. (Sie wissen schon, der mit »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche«.) Kurz zuvor stellte er fest: »O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!«

Bald darauf wird Faust wieder ins Studierzimmer zurückkehren, zwecks neuer Inspiration – durch den Teufel in Pudelform. Sie wissen schon, erst: »Im Anfang war das Wort!« und dann, verbessert: »Im Anfang war die Tat!«

Auch in mir wohnen zwei Seelen.

Die eine Seele will unschuldig sein, will nicht wissen, also auch bei anderen keinen Anlass zu ungewöhnlichen Taten sehen.

Die andere Seele ist nicht nur nicht unschuldig, sondern will der Welt, sprich: den lieben, unschuldigen Mitmenschen, sogar ihre Unschuld nehmen und sie zu Taten anstacheln – und mit Taten meinen wir ja bereits das eigene realistische und konstruktive Denken!

Und noch eine weitere, dritte, kleine Aufpasser-Seele mahnt mich: »Prüfe alles und glaube wenig, auch und gerade, was du dir selbst in Gedanken zurechtgelegt hast!«

Was also tun?

Es sind kuriose Zeiten, aber gerade nicht zum Lachen. Also muss ich auch nicht in den Keller gehen.

Ich sollte aber aufräumen. Pizzareste wegbringen. Und herumliegende Pingpong-Bälle aufsammeln.

Nicht, dass jemand über einen davon fällt und sich das Gesicht anschlägt. Wie erklärt man das dem Arzt?

Dann gehe ich mit dem Hund raus. Der ist wirklich unschuldig. Ganz und gar.

Weiterschreiben, Wegner!

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