Dushan-Wegner

05.08.2022

Wenn der Staat am Morgen klingelt

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Luc Tribolet
Es ist 4 Uhr am Morgen. Es klingelt und klopft rabiat an deiner Tür. Was ist dein erster Gedanke? Eine Zeit lang war es: »Bestimmt ein Notfall beim Nachbarn! Oder ein Feuer!« – Bald ist es wieder: »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
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Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, und wer nachfragt, was exakt die Wörter »ist«, »demokratisch« oder »Rechtsstaat« bedeuten – oder gar das Wort »Deutschland« – der ist heute bereits potenziell verdächtig.

Normalerweise funktioniert Sprache so, dass eine Sache bestimmte Eigenschaften aufweist, und wir dann zuordnen, unter welchen Begriff wir sie einordnen.

Nehmen wir etwa an, wir haben ein vierbeiniges Objekt vor uns. Wenn dieses Objekt aus einem harten Material wie Holz gemacht ist und man Dinge darauf ablegen kann, dann sortieren wir das Objekt sprachlich und gedanklich unter den Begriff »Tisch«. Wenn das vierbeinige Objekt aber einen Pelz hat und bellt, dann sortieren wir es unter den Begriff »Hund«.

Die Eigenschaften bestimmen, unter welche begriffliche Kategorie es fällt.

Und nicht andersherum.

Wie würde es eigentlich aussehen, wenn es doch andersherum wäre?

Vielleicht bist du reif

Mir fällt spontan ein Witz aus Zeiten des Kalten Krieges ein: CIA, FBI und KGB sollen einen Hasen im Wald fangen. Die CIA geht in den Wald, befragt alle Tiere und sogar Pflanzen des Waldes, und stellt nach monatelanger Untersuchung fest, dass es keinen Hasen gibt. Das FBI stürmt den Wald, und nach drei erfolglosen Wochen brennen sie den Wald nieder, inklusive des Hasen, und erklären, dass es die Schuld des Hasen war, sich nicht gestellt zu haben. Der KGB aber geht hinein, kommt nach nur einer Stunde heraus, und er hat einen schwer verprügelten Bären dabei, der jammert: »Ich gestehe es, ich bin ein Hase!«

Wie kam ich eigentlich jetzt auf diesen Witz? Vielleicht hat es damit zu tun, dass gewisse Staaten, beziehungsweise deren Behörden und politiknahen Journalisten, schon mal die Funktionsweise von Begriffen umkehren, und »von Staats wegen« festlegen, was Worte bedeuten. (Ach, wir sind ja fast schon dankbar, wenn nicht ganz verboten wird, dass Begriffe eine Bedeutung haben, wie »Mann«, »Frau« und »Nebenwirkungen«.)

Das alt-neue Motto lautet: »Die Dinge sind, was wir sagen, dass sie sind – Punkt.«

Du störst dich daran, dass Begriffe plötzlich etwas anderes zu bedeuten scheinen? Wörter und Begriffe wie »Rechtsstaat« etwa? Oh, das macht dich verdächtig! Vielleicht bist du reif für eine Hausdurchsuchung.

Vom Staat bestraft

Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt die Grundprinzipien des Rechtsstaats so:

Alles staatliche Handeln ist an das Gesetz gebunden (Rechtssicherheit), vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich (Rechtsgleichheit), unabhängige Gerichte schützen die Bürger vor willkürlichen Eingriffen des Staates (Rechtsschutz). (via bpb.de)

Solltest du, lieber Bürger, nicht erkennen können, dass alles staatliche Handeln tatsächlich an das Gesetz gebunden ist, dann kann das nur an dir liegen, nicht am Staat und seiner Politik.

Immer wieder höre ich von Bürgern, dass sie gar nicht erst davon ausgehen, ein faires Urteil zu erhalten, weil sie das Gefühl haben, zur »falschen« Gruppe zu gehören. Wem die Urteile der gewöhnlichen Gerichte als falsch erscheinen, der kann ja nach Karlsruhe vors Verfassungsgericht ziehen. Spätestens aber seit diese Herrschaften im Kanzleramt zu Abend essen, ARD und ZDF preisen, und auch mal Corona-Maßnahmen abnicken, flößt auch diese letzte Möglichkeit nicht jedem Bürger gleich viel Zuversicht ein.

Nun gut.

Ein weiteres Grundprinzip des philosophischen Prinzips »Rechtsstaat« ist das »Recht auf ein faires Verfahren« (siehe Wikipedia).

In einem Rechtsstaat darf niemand vom Staat bestraft werden, ohne dass er sich in einem fairen Verfahren verteidigen durfte. Was aber, wenn Organe des Staates sich Maßnahmen ausdenken, die wie eine Bestrafung wirken, ohne dass es zuvor ein Verfahren gab – geschweige denn ein faires und rechtsstaatliches?

»Kein öffentliches Interesse«

In den letzten Jahren hörten wir mehr als einmal, dass »linke« Politiker eine Hausdurchsuchung veranlassen, etwa nachdem jemand etwas im Internet gesagt oder gezeigt hatte, woran sie sich störten.

Wir denken zum Beispiel an Hamburgs Innensenator Andy Grote. Jemand pampte ihn auf Twitter an, in den Worten »du bist so 1 Pimmel«. Grote stellte Strafantrag. Die Staatsanwaltschaft ließ die Wohnung des bösen Twitterers stürmen.

Der Betroffene schreibt darüber:

Heute morgen um 6.00 gab es eine Hausdurchsuchung. 6 Beamt*innen in der Wohnung. Gesucht wurde das Gerät, mit dem „du bist so 1 Pimmel“ unter einen Tweet von Andy Grote geschrieben wurde. Sie wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland. (@pauli_zoo, 8.9.2022)

Welche Gefahr war im Verzug? Welche weiteren Straftaten befürchtete man, deren Verhinderung einen solchen schweren Eingriff rechtfertigt hätten? Fürchtete man einen weiteren fiesen Tweet?

Man wollte wohl »Beweismittel« sichern, doch auch dies könnte wie eine Schutzbehauptung der Behörden klingen: Der Verfasser des schlimm verbrecherischen Tweets sagte, dass er bereits Wochen zuvor zur Polizei vorgeladen worden war und alles zugegeben hatte.

Wenn die Hausdurchsuchung also nicht eine wenig rechtsstaatliche »Bestrafung ohne Verfahren« war, was war sie dann?

(Die Vorgeschichte von »Pimmelgate« ist bei spiegel.de, 27.10.2021 ganz gut gelistet. taz.de, 9.9.2021 beschreibt die Umstände der Durchsuchung. Über diesen extra absurden Fall gefühlten Machtmissbrauchs wurde sogar im Ausland berichtet; siehe etwa washingtonpost.com, 9.9.2021.)

Diese Woche wurde schließlich das Strafverfahren gegen den fiesen Twitterer eingestellt. Es bestehe »kein öffentliches Interesse« (lto.de, 2.8.2022).

Man darf also sachlich festhalten: In Hamburg wurde schwerwiegend ins Leben eines Bürgers eingegriffen. Man nahm in Kauf, die Kinder fürs Leben zu traumatisieren. Die Wohnung wurde von 6 Beamten durchsucht. Wegen einer Lappalie, die offenbar so lächerlich war, dass sie ein Jahr später wegen Mangel an öffentlichem Interesse wieder eingestellt wurde.

Was, wenn das von Anfang an klar war – und man gerade deshalb stürmte? Es wäre Bestrafung am Rechtsstaat vorbei.

Das Huhn töten

Ist Herr Grote also mit seinem Strafantrag gescheitert?

Nun, angesichts der Tatsache, dass als Reaktion in Hamburg bis heute Aufkleber mit der Aufschrift »Andy du bist so 1 Pimmel« zu finden sind, könnte man diese konkrete Aktion als »nach hinten losgehend« bewerten.

Jedoch, für alle anderen verärgerten Bürger könnte allerdings die Mao zugeschriebene Regel greifen: »Bestrafe Einen, erziehe Hunderte!« (Tatsächlich zitierte Mao vermutlich eher die chinesische Redensart: »Das Huhn töten, um die Affen zu warnen.«)

Hoffnung auf Musikdateien

Was ist »rechtsstaatlich« an einer Hausdurchsuchung, die sich mehr wie eine »Bestrafung ohne Verfahren« als wie eine notwendige Sicherung von Beweismitteln anfühlt?

In den letzten Jahren fühlen sich Hausdurchsuchungen immer mehr wie eine »Bestrafung am Rechtsstaat vorbei« an.

Erinnern Sie sich noch an die Hausdurchsuchungen, als Bürger die Fotos des ertrunkenen Flüchtlingsjungen im Internet teilten? Nein, es gab natürlich keine. Die emotionale Kraft dieser Bilder »diente« vermutlich den Absichten der damaligen Regierung (aber auch gewisser internationaler Akteure).

Als aber ein Blogger das Video eines brutalen Mordes durch einen Flüchtling am Hamburger Jungfernstieg ins Netz stellte, wurde ihm prompt die Wohnung durchsucht (siehe Essay vom 29.4.2018). Es gab keinen rechtsstaatlich rationalen Grund dafür, denn er hatte nur ein im Internet kursierendes Video geteilt. Die Durchsuchung wirkte wie eine Bestrafung, eine Warnung an andere Blogger. Töte das Huhn, um die Affen zu erziehen.

Die Regierung veranstaltet immer wieder »Aktionstage gegen Hasspostings«, deren explizit erklärtes Ziel es wohl ist, die Bürger einzuschüchtern.

In den frühen Morgenstunden werden Menschen in ihren Wohnungen aufgesucht, weil sie angeblich böse Dinge im Internet sagten.

2018 erklärte der damalige Justizminister die Motivation:

Ich begrüße den heutigen ‚Aktionstag gegen Hasspostings‘. Das entschlossene Vorgehen der Ermittlungsbehörden sollte jedem zu denken geben, bevor er bei Facebook in die Tasten haut.« (bmjv.de, 13.6.2018, mittlerweile gelöscht; zitiert nach Essay vom 25.10.2018)

Die Botschaft ist: Es kann jeden treffen, der aus dem Korridor »erlaubter Meinung« ausschert – und längst nicht immer hat es mit allzu scharf persönlich formulierten Angriffen zu tun.

In Thüringen, wo schon mal die Kanzlerin bestimmen kann, wer Minister werden darf und wer nicht, da werden sogar die Wohnungen eines Richters durchsucht, zufälligerweise kurz nachdem er ein Urteil fällte, das der Regierung nicht passt, etwa indem er die Maskenpflicht aufhebt (siehe etwa bild.de, 2.6.2022).

Die Hausdurchsuchung als strafende Reaktion auf verbotene Meinung, womöglich sogar verbunden mit der Hoffnung auf »Beifang« wie illegal kopierte Musikdateien, wirkt auf mich erschreckend selbstverständlich im deutschen Rechtsstaat.

Anhand seiner Eigenschaften

Deutsche Politik und Presse bestehen darauf, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist. Auch Anwälte, die gut von bestehenden Zuständen leben, werden das laut verkünden.

Jedoch, wie sicher sind wir uns, dass das mit dem Rechtsstaat eine Beschreibung des Gegenstands anhand seiner Eigenschaften ist?

Schwarze Schafe gibt es immer. Die Frage ist, ob das System sie aussortiert oder gewähren lässt. Andy Grote, der nicht »1 Pimmel« ist, wurde keineswegs von seinen politischen Kollegen erfolgreich zum Rücktritt bewegt. Tatsächlich stilisierte er sich selbst als Opfer (mopo.de, 9.11.2021) und gibt inzwischen wieder Interviews, wo ihm von Journalisten brave Fragen mit Propaganda-Vokabeln wie »Verschwörungsideologien« gestellt werden (welt.de, 18.7.2022 (€)).

Ab wann wird »Deutschland ist ein Rechtsstaat« zur dogmatischen Setzung eines Begriffs für einen Gegenstand, dessen reale Eigenschaften nicht zur bisherigen und traditionellen Bedeutung des Wortes stehen?

Stellen Sie es sich vor: Es ist 4 Uhr am Morgen. Es klingelt und klopft rabiat an Ihrer Tür. Was ist Ihr erster Gedanke? Eine Zeit lang war es: »Bestimmt ein Notfall beim Nachbarn! Oder ein Feuer!« – Bald ist es wieder: »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Aufs Eine hoffend

Politiker könnten ja versuchen, den Glauben der Bürger an den Begriff »Rechtsstaat« durch tatsächlich »rechtsstaatliches« Handeln zu stärken.

Oder Politiker können weiter in Sonntagsreden wiederholen, dass Deutschland ein vollumfänglicher Rechtsstaat ist – und wenn ein Bürger allzu scharf zurückfragt, dann sollte er aufpassen, dass ihm nicht morgens die Wohnung gestürmt wird.

Ich hoffe aufs eine, und fürchte mich vor dem anderen.

So oder so: Passen Sie auf sich auf – und bereiten Sie sich darauf vor, was kommen wird.

Kein Politiker und keine politische Maßnahme, nicht einmal die Sorge vor einer Hausdurchsuchung wegen falscher Meinung sind es wert, auf Dauer die Ordnung Ihrer »relevanten Strukturen« zu vernachlässigen.

Weiterschreiben, Wegner!

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