Dushan-Wegner

18.09.2022

Intravital und Perimortal

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Luis Aceves
Wissenschaftler untersuchten Mumien aus Südamerika, und fanden Spuren brutaler Gewalt. Ich fürchte, der Mensch war schon immer und überall zur Bosheit fähig. Das Gute war und bleibt etwas Besonderes – und gerade deshalb dürfen wir es nicht übersehen!
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Die Splitter des Schädelknochens fanden sich im Schädel selbst, zusammen mit getrockneten Stücken des Gehirns. Der Schädel weist eine Reihe von Brüchen auf, um welche zwar das Blut trocknete, aber das Gewebe nicht weiter reagierte.

Das könnte darauf hindeuten, dass die betreffenden Verletzungen »intravital« beziehungsweise »perimortal« passierten.

»Intravital oder perimortal« bedeutet, soweit ich das als medizinischer Laie verstehe: »Noch während er lebte, aber wohl zeitlich nah am Tod.«

Die Rede ist hier übrigens von einer der südamerikanischen Mumien (»der sitzende Mann«), welche eine Forschergruppe aktuell neu untersuchte.

Die Schläge auf den Kopf waren womöglich noch nicht das Ende seiner Qualen. Das Ende kam womöglich erst, als man ihn in den Rücken stach und ihn ausbluten ließ. Auch das Ereignis war wohl »intravital/perimortal«.

Sogar szenisch

Wenn Sie das, was ich hier bislang beschrieb, bereits zu heftig fanden, dann seien Sie froh, dass ich bis hierhin keine Links gesetzt habe – das werde ich erst nach folgendem besonderen Hinweis tun!

Eine ernste Warnung: Die folgenden Links enthalten teils detaillierte Bilder echter Mumien, sprich: toter Menschen. Klicken Sie nicht drauf, wenn Sie von eher nervösem Gemüt sind. Sie wurden gewarnt.

Ich las die Meldungen bei bild.de, 16.9.2022 (heftige Fotos) oder bei sueddeutsche.de, 11.9.2022 (dpa-Meldung).

Die Süddeutsche (welche die DPA-Meldung abdruckt), beginnt den Text dramatisch (ähnlich wie ich weiter oben), ja sogar szenisch:

Ein zielsicherer Dolchstich in die Bauchschlagader und eine gewaltsam verdrehte Halswirbelsäule … (sueddeutsche.de, 11.9.2022 (dpa-Meldung))

bild.de, 16.9.2020 zeigt schockierende Bilder, und man listet bemerkenswert sachlich die drei Todes-Ursachen (»So sind die Mumien getötet worden«, »Fall 1«, »Fall 2«, »Fall 3«).

Ich habe für Sie das Original-Forschungspapier gesucht und weite Teile daraus gelesen. Das Papier heißt »Trauma of bone and soft tissues in South American mummies—New cases provide further insight into violence and lethal outcome«, wurde am 9.9.2022 veröffentlicht und die aktuelle URL des Textes ist: frontiersin.org/articles/10.3389/fmed.2022.962793/full

Verheilte Schäden

Nach der Lektüre der Quelle – welche selbst alle hierzu kursierenden Bilder enthält! – ist mir etwas schwindlig.

Ich lernte unter anderem jene Wortkombination »intravital/ perimortal«, mit welcher Mediziner codiert sagen: »Yep, das passierte in etwa, als er starb, und es könnte gut sein, dass er genau daran starb, ich meine: guck es dir mal an! Schädel kaputt! Dolch im Rücken!«

Ich habe unter anderem erfahren, dass es nicht das erste Mal war, dass diesem Menschen zerstörerische Gewalt im Kopfbereich angetan wurde. Im Bereich des linken wie auch des rechten Augen sind verheilte Schäden am Schädelknochen erkennbar (ebenda, Figure 11). Überhaupt war dieser Mensch in Angelegenheiten des Kopfes nicht zu beneiden, von Anfang an nicht. Der Schädel ist unnatürlich verformt (ebenda, Figure 9) und lässt auf die bei indigenen Völker Lateinamerikas beobachtete absichtliche Deformation des Schädels schließen (siehe Wikipedia).

Religiös-rituell

»Schläge auf den Kopf und dann Dolch im Rücken«, das hört sich an wie Freitag-Nachmittag in Berlin-Neukölln. Bei den hier besprochenen Mumien könnte man aufgrund der sonstigen Grab-Beigaben darauf schließen, dass es sich um Opfer religiöser Rituale handelte.

Andererseits: Wenn heute ein im Clan-Krieg gestorbenes Clan-Mitglied beerdigt wird, dann geben seine eigenen Clan-Mitglieder ihm wahrscheinlich auch Gegenstände von symbolischer Bedeutung mit ins Grab, und spätere Archäologen könnten daraus schließen, dass es sich ebenfalls um eine religiös-rituelle Tötung handelte.

Die Wissenschaftler sind sich noch keineswegs sicher, was genau die Motivation für den Mord an dem jungen Mann war, doch es fällt uns schwer, einen Grund zu finden, der uns heute nicht als böse und perfide erscheint. Doch es gibt durchaus Anlass, von Gründen auszugehen, die aus heutiger Perspektive reichlich »unmenschlich« wirken.

Träumer und Komplexe

Der Essay »Nichts ist wichtiger als das Leben« vom 13.4.2018 enthielt diesen (mutigen?) Absatz: Man verklärt gern die fernen Völker und alten Zeiten. Und man schimpft auf die Eroberer Amerikas, die ja auch bestimmt keine Heiligen waren. Man vergisst Kinderopfer der Inka, den Kannibalismus der Azteken und die Menschenopfer der Maya. Die Geringschätzung des individuellen Lebens durch jene Kulturen sprengt unsere moralische Vorstellungskraft.

Im Essay »Die Schuld der Gutmenschen« vom 19.12.2017 beschrieb ich die besonders unter linksgrünen »Gutmenschen« grassierende, de facto rassistische Illusion vom »edlen Wilden«.

Aus vermutlich psychologischen Gründen schreiben manche Mitbürger den Fremden anderer Kulturen und Zeiten eine »edle« und »moralische« Qualität zu, die wohl eher von gewissen Komplexen solcher Träumer als von der Faktenlage motiviert ist.

Wolf dem Wolf

Wenn ich solche Berichte lese, möchte ich mehr als nur ein prickelndes Schaudern beim Anblick alter Mumien erleben, will mehr lernen als spannende Wortkombinationen wie »intravital/ perimortal«.

Ich frage mich, wie man es einst am Schluss von Märchen lehrte, auch bei diesen »wahren Gruselgeschichten«, was die Moral aus diesen sei.

Diese neuen Berichte erinnern uns daran, dass die Menschen heute zwar gelegentlich sehr böse Dinge tun könnten, vom tödlichen Schubser am Bahnsteig bis hin zu Menschenversuchen in großem Maßstab – doch früher waren die Menschen nicht per se »besser«.

Ein alter Scherzspruch: »Im Kapitalismus ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, im Kommunismus ist es andersherum.«

Vollständiger wäre es wohl, zu sagen: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wo auch immer er lebt.

Daraus, dass bislang jeden Tag die Sonne aufging, lässt sich nicht mit Sicherheit ableiten, dass sie auch morgen aufgehen wird – doch es rechtfertigt, davon sinnvoll auszugehen. Dass der Mensch schon immer dem Menschen ein Wolf war, wölfischer und grausamer als jeder Isegrim.

Die bösen Taten der Menschen waren nie und sind bis heute nicht die einzigen Taten!

Auch damals, als sie dem armen Mann, der später zur Mumie wurde, den Schädel einschlugen und die Bauchschlagader ausließen, auch zu jener grausamen in jenem grausamen Volk gab es gewiss gute Menschen, die gute Dinge taten, die menschlich und liebevoll zueinander waren.

Auch heute gibt es nicht nur Clangewalt in der Welt, nicht nur sich bereichernde Eliten und einige fragwürdige Experimente. Auch heute gibt es Menschen, die gut zueinander sind, die uns mit ihrer Liebenswürdigkeit erfreuen. Ich selbst versuche, mit diesen Texten, die Menge an Brauchbarem in dieser Welt zu erhöhen. Was sonst soll man tun?

Noch viel Gutes

So es an uns liegt, wollen wir uns auch weiterhin von den Heuchlern und Bösewichten fernhalten, die sich »die Guten« und »die Moralischen« nennen, doch in Wahrheit ihren Opfern den Schädel einschlagen und einen Dolch in den Rücken rammen, ob im metaphorischen Sinn oder ganz praktisch.

Die Kunst, am Wahnsinn der Zeit nicht selbst wahnsinnig zu werden, besteht wohl auch darin, trotz aller Instanzen des Bösen, an aller Grausamkeit und Heuchelei vorbei dennoch das wirklich Gute zu sehen.

Ja, es gab immer Böses und Grausamkeit. Es gibt auch heute Böses und es wird Grausamkeit wohl auch in Zukunft geben. Indem wir aber sagen, dass das Böse eben böse ist, implizieren wir im Umkehrschluss auch, dass es auch ein Gutes gibt.

Es gibt auch heute noch echtes Gutes, und es wird auch in der Zukunft immer echtes Gutes geben, und das wollen wir finden, um uns daran  zu erfreuen.

Weiterschreiben, Wegner!

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