26.03.2023

Karls Krieg

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten
»Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen, so sagt man. Wir Lebenden aber sehen im Krieg wieder und wieder das Scheitern des Menschen am Menschsein.« (eine Geschichte)
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Karl hatte keine Milch mehr, und das würde sehr bald Krieg bedeuten. Ratlos stand Karl in seiner Küche, die Schüssel mit den Cerealien in der einen Hand und nichts in der anderen Hand. Wie konnte ihm so etwas passieren?

Jeder Krieg hat einen bekannten Auslöser, einen Moment der Unumkehrbarkeit, doch die wahren Ursachen sind eher auf den Hinwegen zu suchen, die zu ebendiesem Auslöser führten, außerdem auf den weiteren Nebenarmen des großen Flusses Geschichte, auf welchen ja der Brennstoff der Kriegshölle geliefert wird.

Gavrilo Princip, der Mörder Franz Ferdinands, mag den Mord ausgeführt haben, der den Großen Krieg auslöste. Doch Princip allein ist ja kaum die Ursache für Giftgas und Grabenkrieg und verdient gewiss keine Miturheberschaft am Tractatus.

Karl würde nie vollständig klären, wie es dazu kam, dass ausgerechnet ihm die Milch ausgegangen war. Es spielt kaum eine Rolle. Für den Feldherrn wenig, für den Soldaten gar nicht. Es gilt ja, was der antike Grieche Sophisphos auf jene berühmte Formel brachte: »Der Krieg klopft an deine Tür. Du öffnest ihm nicht. Er tritt dennoch ein. Und dann ziehst du in diesen.«

Karl stellte seine trockenen Cerealien wieder ab. Müßig, jetzt nach den Gründen für seinen Mangel zu suchen.

Die Milch fehlte.

Schuhe an die Füße. Jacke auf den Rücken. Anwesenheit der Schlüssel prüfen. Sonstige Pflichten mussten warten.

Vorm Eingang des Supermarkts stand das Rollator-Bataillon.

Eine rüstige Rentnerin klopfte mit ihrem Schlüssel an die gläserne Eingangstür, damit die Angestellten nicht vergaßen, den Supermarkt zu öffnen.

Eine schüchterne Verkäuferin schloss auf. Der Krieg konnte beginnen.

Karl setzte an, die silberne Elitetruppe zu überholen.

Doch Karl wurde jäh zurückgerissen, und Schmerz durchfuhr seine kurzzeitig verdrehte Wirbelsäule.

Stoff riss. Es war seine Jackentasche. Karl blickte hinunter. Ein Gehstock war in seine Jackentasche eingehakt, und die war nun halb abgerissen.

Das andere Ende des Gehstocks hielt ein Rüstiger fest.

Ein kalter, grauer Blick traf ihn, und die Stimme zu Stock und Blick sagte: »Vordrängeln gilt nicht, junger Mann!«

Die Gattin des Gehstocks sagte: »Wir warten schon seit einer Stunde!«

Karl griff nach dem Stock und hielt ihn fest. Dann fragte er: »Aber warum?«

Gehstock und Gattin waren kurz ratlos, dann riefen sie unisono »Unverschämtheit!«, die Gattin packte das Holz, und sie zogen beide.

Karl zog zurück. Hin und her.

»Loslassen!«, riefen sie, »Frechheit! Loslassen!«

»Okay«, sagte Karl. Er ließ los. Die beiden stürzten rückwärts übereinander.

Karl schüttelte den Kopf. Diese Soldaten waren gefallen, bevor sich überhaupt das Schlachtfeld erreicht hatten – erbärmlich.

Die übrigen Wartenden waren in den Supermarkt gezogen.

Milch.

Er wollte Milch.

Er brauchte Milch.

Karl marschierte in den Supermarkt ein. Er hatte Zeit verloren.

»Schlage schnell, siege schnell — zögere und falle«, so lehrt die Weisheit des Krieges.

Karl hatte ja nicht gezögert. Man hatte ihn aufgehalten, ja, ihm sogar Schaden zugefügt. Entschuldigungen haben noch keine Schlacht gewonnen, aber schon so manchen Krieg verloren.

Hannibal überquerte einst die Alpen, und wie viele Entschuldigungen hätte er vorbringen können! An Karl war es zunächst, die Obst- und Gemüseabteilung zu durchqueren.

Der erste Schwall Einkaufskrieger war vor ihm ins Kriegsgebiet eingezogen.

Karl konnte aber nicht sofort aufholen, denn zwei Angestellte, ein Dicker und ein Schmächtiger, versperrten ihm den Weg, indem sie Paletten und Kisten mit Obst und Gemüse herankarrten.

Fünf Kisten Bananen, fünf Kisten Äpfel, eine Riesenkiste Kartoffeln und so weiter.

»Darf ich mal kurz?«, fragte Karl und wollte sich vorbeiquetschen.

»Sie werden doch wohl ein klein wenig warten können!«, herrschte ihn der dicke Verkäufer an, dann begann er in aller Seelenruhe eine Apfelkiste auszuräumen.

Da wäre durchaus genug Platz für ihn gewesen, zwischen Kisten und Regalen weiter gen Milch zu ziehen.

Der Schmächtige aber stellte sich Karl demonstrativ in den Weg, stemmte die Hände in die Hüften, machte die Ellenbogen breit, schaute zu Karl hoch, und wiederholte: »Sie werden doch wohl ein wenig warten können!«

Karl schaute herunter und fragte: »Aber warum?«

Der Schmächtige war entrüstet.

»Unverschämtheit!«, rief er, trat an den Dicken heran und zog ihn am Ärmel, damit dieser etwas gegen Karl tue.

Dadurch gab er aber die Passage frei. Ähnlich wie einst Feldherr Aischylos, der die Schlacht um Elpidopolis unterbrach, um sich bei seinem König Phobetor über unzureichende Vorräte der Soldaten zu beschweren, was ihn erst den Sieg und dann den Kopf kostete.

Es würde den Schmächtigen wohl nicht den Kopf kosten, aber verloren hatte er doch.

Karl passierte, da traf ihn ein harter Schlag am Hinterkopf, weitere Schläge trafen seinen Rücken.

Der Schmächtige hatte eine Kartoffel nach ihm geworfen, dann eine Tomate, dann einen Salatkopf.

Jetzt, als Karl schaute, machte der Kleine eine vulgäre Geste.

Der Dicke zuckte die Schultern und brummte vor sich hin: »Manche Leute können einfach nicht warten.«

Karl floh vor den Verkäufern, doch er zeigte Nerven und schrie in die Grausamkeit des Krieges hinein: »Ich will doch nur Milch kaufen!«

Eine etwas brüchige Stimme kam von der Seite: »Sie wollen Milch kaufen?«

Eine Dame hielt ihn am Ärmel seiner lädierten Jacke fest und erklärte: »Ich habe einen Coupon, damit bekommen Sie die Milch billiger.«

»Ich brauche nur eine einzige Packung, für jetzt«, sagte Karl, doch sie gab ihm ihre mitgebrachten Einkaufstüten und sagte, während sie in ihrer Handtasche kramte: »Halten Sie mal kurz, ich suche schnell nach dem Coupon für Milch.«

Picasso ist bekannt für das Zitat: »Ich suche nicht, ich finde.«

Diese Dame war ein Anti-Picasso, denn sie suchte und suchte, doch sie fand nicht.

»Kleinen Augenblick nur«, sagte sie.

»Ich will doch nur Milch kaufen«, jammerte Karl, doch sie blieb unerbittlich, hielt ihn weiter mit der einen Hand fest und wühlte mit der anderen in ihrer Handtasche: »Ich habe es gleich, einen Coupon für Milch. Billiger!«

»Nein, das hilft jetzt nicht«, sagte Karl. Krieg ist Krieg, und im Krieg sind bremsende Verbündete nicht von Feinden zu unterscheiden.

Er riss sich von der Coupon-Sucherin los, warf ihr ihre Bündel gebrauchter Einkaufstüten zu und marschierte weiter. Die Hilfsbereite aber rief ihm hinterher: »Unverschämtheit!«

Er sah eine Wurst-Vertreterin auf ihn zukommen, die auf einem Tablett eine neue Wurstsorte zum Verkosten anbot.

Karl hatte dazugelernt.

Karl bog rechtzeitig ab. Es war ein Umweg in Richtung der Milch. Es war dennoch klug, abzubiegen. Die Luftlinie ist selten der schnellste Weg fürs Heer, nicht einmal immer für die Kampfflieger.

Vorm Regal mit den Süßwaren prügelten sich zwei Kunden. Das hätte seinen Vormarsch blockieren können. Karl riss eine Packung Hustenbonbons auf und warf den Inhalt strategisch auf den Boden, woraufhin sich die Streithühner darauf stürzten und so den Weg freimachten.

Eine Influencerin bat ihn, ihr das filmende Mobiltelefon zu halten, während sie in der Kosmetikabteilung twerkte.

»Aber klar doch«, sagte Karl und warf das Mobiltelefon über drei Gänge hinweg dem Schmächtigen an den Kopf. Der jaulte auf.

»Unverschämtheit!«, und sie sprang auf, um ihr fliegendes Smartphone zu retten. Als sie zum Sprung ansetzte, schlug sie Karl mit ihrem Ellenbogen ins Gesicht.

Eine Mutter hatte sich offenbar verlaufen. Sie schob ihren Einkaufswagen in gefährlichem Tempo von Gang zu Gang. Im Wagen saß ein Kind und schrie. Je lauter das Kind schrie, desto schneller lief die Mutter. Beiden näherte sich Karl.

Zu spät, um auszuweichen.

Die Mutter schrie, um ihr Kind zu übertönen: »Wissen Sie, wo die Milch ist?«

»Aber natürlich«, sagte Karl. Er wusste es, doch er zeigte in die entgegengesetzte Richtung, wo es tiefgekühlten Fisch gab.

»Danke«, seufzte die Mutter.

Krieg ist Krieg.

Die Abteilung mit der Milch war in Sichtweite.

Jedoch seine Milchsorte, die eine Milchsorte, die er seit Jahren kaufte, war ausverkauft – bis auf eine einsame Packung.

Karl spürte Angst seine angeknackste Wirbelsäule emporkriechen.

Schneller gehen. Die Welt um ihn verstummte. Der Schmerz am Hinterkopf, wo die Kartoffel ihn getroffen hatte, war fort. Sein Blick wurde eng. Nur er und die eine Packung Milch.

Fokus.

Flow.

Entschlossenheit.

Aus Sichtweite wurde Griffweite.

Karl befahl seinem rechten Arm, sich nach vorne zu strecken.

Karl befahl seiner Hand, die Finger fürs Zugreifen vorzubereiten.

Zentimeter.

Millimeter.

Und da stieß der Griff eines hölzernen Gehstocks in sein Blickfeld, ergriff mit einer schnellen Drehung die Milchpackung und zog sie fort.

Karls Hand griff ins Leere.

Karl richtete sich auf, und sein Blick weitete sich wieder, während sein Herz weiter zum Einsatz trommelte.

Vor ihm standen Frau und Herr Gehstock. Und sie hielten seine Milchpackung.

»Das ist meine Milch«, gab Karl zur Kenntnis.

»Solange das Herz des Kriegers im Krieger schlägt, solange ist der Krieg nicht verloren«, so lehrte Stathmos der Standhafte vor langer Zeit, und das Herz Karls des Kriegers schlug lauter als die Kriegstrommeln damals vor Eirinaios.

Karl trat an den Gehstock und seine Gattin heran.

Die grienten ihn an und hielten die Milch wie Indianer einst den Skalp.

Karl griff ebenfalls nach der Milch, und er hielt sie so fest, dass die Packung zu bersten drohte.

Karl schaute ihnen in die Augen, erst dem einen und dann der anderen. Seine Stimme wurde kalt, kälter als der gefrorene Karpfen, vor dem gerade eine verzweifelte Mutter mit ihrem schreienden Kind verloren umherlief.

Er sagte: »Ich bin durch die Hölle gegangen für diese Milch. Ich spüre keine Furcht mehr. Und noch weniger Erbarmen.«

Man betrachtete ihn mehr erstaunt als ängstlich. Aber etwas nervös wurde man doch.

Aus dem Augenwinkel sah Karl den Sicherheitsmann, der bereits zu ihnen herüberschaute.

Karl ließ nicht los.

Die Influencerin hatte ihr Smartphone wieder und filmte ihn.

Doch Karl ließ nicht los – und so gewann er.

Auf dem Heimweg warf er seine Jacke fort. Er fragte sich, woher das Blut auf dem Stoff stammte. Und warum der linke Ärmel fehlte.

Karls rechter Schneidezahn wackelte. Womöglich konnte er sich an einige Details nicht erinnern. Das war der Nebel des Krieges.

Hauptsache, er konnte endlich frühstücken.

Er hatte diesen Krieg gewonnen, das war wahr. Seine Cerealien waren jetzt milchgetränkt und weich, und doch kaute er sie nur auf der Seite, die weniger schmerzte. Seine Wirbelsäule knackte, wenn er sich drehte, also drehte er sich lieber nicht.

Ja, er hatte einen Preis gezahlt. Aber warum? Er hatte einen Preis gezahlt, weil, wie man in Köln zu sagen pflegt, nichts umsonst ist.

Dieser Krieg war vorüber.

Jetzt galt es, sicherzustellen, dass sich dieser Krieg so nicht wiederholen würde. So wie einst der Vertrag von Versailles sicherstellte, dass, wie Woodrow Wilson es versprach, der Große Krieg der eine Krieg bleiben würde, nach dem es keinen weiteren Krieg geben würde.

Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen, so sagt man. Wir Lebenden aber sehen im Krieg wieder und wieder das Scheitern des Menschen am Menschsein.

Zumindest haben die Sieger anschließend wieder Milch.

Bis sie – aus diesen oder jenen Gründen keine Milch mehr haben.

Oder bis sie zwar Milch haben, doch das Bedürfnis entwickeln, mehr von ebendieser Milch zu bekommen oder die zukünftige Milchversorgung zu sichern.

Dann ist eben wieder Krieg.

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