Dushan-Wegner

29.09.2020

Lieber Kind der Hölle als einsam

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Foto von Jr Korpa
Warum die AfD trotz Skandalen gewählt wird? Nehmen wir an, ein Räuber überfällt Sie. Ein Passant verteidigt Sie, doch er riecht etwas streng. Lassen Sie sich helfen, auch wenn der Helfer etwas stinkt – oder lassen Sie sich lieber vom Räuber totstechen?
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»Die australische Marine hat ein Flüchtlingsboot mit fast 200 Menschen aufgegriffen«, so liest man. Es handelt sich um Kunden illegaler Schleuserbanden: »Das Innenministerium bekräftigte, die Regierung sei zu strengen Grenzkontrollen und zum Kampf gegen Menschenschmuggler entschlossen.« – Ach ja: Die Meldung ist vom 28. Juni 2009 (dw.com), also etwas über elf Jahre alt. (Die Australier betrieben übrigens damals schon ein Auffanglager auf den Weihnachtsinseln, wohin die illegalen Einwanderer gebracht wurden.)

Noch etwas wurde am 28. Juni 2009 in den internationalen Nachrichten vermeldet: Der Präsident von Honduras, ein Herr Manuel Zelaya, wurde gestürzt. Die honduranische Armee umzingelte seinen Amtssitz, verhaftete ihn und brachte ihn nach Costa Rica.

Der Anlass für das Eingreifen der Armee war übrigens ein von Zelaya abgehaltenes Referendum, das zum Ziel hatte, durch eine Änderung der Verfassung ihm eine zweite Amtszeit zu ermöglichen. Zelaya regierte zu dem Zeitpunkt seit 2005, und die honduranische Armee sah es als staatsgefährdend an, mehr als eine Amtszeit zuzulassen. Zelaya wurde im Schlafanzug abgeführt (spiegel.de, 28.6.2009). – Wichtige Anmerkung für brave deutsche Bürger: Es ist nur in anderen Ländern wie Russland oder Honduras demokratiegefährdend, wenn Präsidenten endlos regieren können. Wenn in Deutschland seit 2005 dieselbe Person das Land regiert und demoralisiert, dann ist das ein Hochfest der Demokratie, und wer das anders sieht, der ist ein böser Rechter.

Apropos »böser Rechter«: Für etwas Diskussion sorgte damals die Kommentierung des honduranischen Putsches durch den dortigen Vertreter jener Partei, die im selben Jahr das beste Bundestagswahl-Ergebnis ihrer Geschichte einfahren sollte, um anschließend den Fußabtreter der Ewigregierenden zu spielen und bei der folgenden Wahl selbst quasi »im Schlafanzug« aus dem Parlament geführt zu werden. Der Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa wurde damals in deutschen Medien zitiert, der Putsch sei eine »Legende« und es stünde nun eine »Rückkehr zu Rechtsstaat und Verfassung« an (tagesspiegel.de, 14.8.2009) – dieser Repräsentant jener honorigen Stiftung aber hieß: Christian Lüth (ja, genau der).

Heute, elf verheerende Merkeljahre später, ist derselbe Herr Lüth wieder in den Schlagzeilen (wie zwischendurch immer wieder mal).

Fristlos entlassen

Als die FDP von Merkel verdaut und 2013 vom Wähler dann aus dem Bundestag gespült worden war, fand Christian Lüth, der zuletzt für einen FDP-Abgeordneten gearbeitet hatte, eine neue Anstellung bei der AfD – und wechselte nach 10 Jahren treuen Dienstes an der edlen liberalen Sache in die schwefligen Abgründe des schlechthin Bösen, wo er bis 2017 für die Partei arbeitete und bis April 2020 dann als Leiter der Fraktions-Presseabteilung den giftigen oppositionellen Schwefelgeruch ein- und ausatmete.

Im späten September 2020 war Herr Lüth der Anlass einer zweitägigen Euphorie der deutschen medialen Einheitsfront. Im April selben Jahres hatte eine Dame namens »Lisa Licentia« sich vermutlich als eine Art Agent Provocateur betätigt (für eine Einschätzung dieser Person siehe ihre Twitch-Videos) und Herrn Lüth dazu bewegt, als wollte er durch »starke Worte« die junge Dame beeindrucken, tatsächlich widerliche Dinge zu sagen:

Wir können die [Migranten] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. (wird Lüth zugeschrieben, zitiert nach zeit.de, 28.9.2020)

Niemand wird bestreiten, dass solche Aussagen jenseits alles Diskutablen liegen und einen Menschen nachhaltig für jede politiknahe Tätigkeit disqualifizieren. Noch am Abend des 28.9.2020 wurde Lüth, der zuvor nur freigestellt war, von der AfD-Fraktion einstimmig fristlos entlassen – gleich mehrere Fraktions-Mitglieder hatten einen entsprechenden Antrag gestellt.

Linken Beobachtern fällt auf, dass dieselbe Dame auch nach jenem Interview noch eher »rechts« zu nennende Videos drehte (siehe etwa @SWeiermann, 28.9.2020: »Sorry aber da passt irgendwas nicht so ganz.«). Selbst und gerade in stramm linken Kreisen hört man öfter zur angeblichen großen Aufdeckungs-Nummer, dass die Motivation der Hauptdarstellerin etwas gefährlich unscharf bleibt.

Da die »Dokumentation« ein wenig wirkt, als wollten deutsche »Was mit Medien, Hauptsache Haltung«-Jungjournalisten ein wenig US-Investigativ-Journalimus-alter-Schule spielen, hätte ich ja erwartet, dass die Audioaufnahmen im Original vorlägen und gesendet würden, doch sie sind nachgesprochen laut angeblichem »Gedächtnisprotokoll«.

Man hätte ja wie beim Strache-Video (siehe auch »Verschwörungstheorien und Kompromat«) einfach »nicht wissen« können, woher die »zugespielten« Aufnahmen stammen, die man hoch manipulativ im Sinne linken Narrativs zusammenschneidet (siehe auch Strache-Interview bei tichyseinblick.de, 26.8.2020). Aber gut, in Deutschland darf man nach §201 StGB nicht einfach so Leute abhören, und ein Konstrukt wie beim zusammengeschnittenen Ibiza-Video war den Topprofis mit Kontakten zur Ex-Stasi-Stiftung und szenetypisch schlichtem Satzbau vielleicht zu kompliziert – also stützt sich alles auf ein »Gedächtnisprotokoll«, das nachgesprochen und mit dramatischer Soundkulisse unterlegt wird. Das Nachsprechen bietet zudem die fürs Agenda-Setting wichtige Möglichkeit, nonverbale Anteile wie Intonation (»ist es ernst gemeint?«) gemäß des beabsichtigten Narrativs neu setzen zu können.

Interessanterweise ist »Gedächtnisprotokoll« auch der Branchen-Code für »wir haben womöglich eine Straftat nach §201 begangen und uns liegen die Audioaufnahmen vor, aber wir behaupten, es sei ein ›Gedächtnisprotokoll‹ und es gäbe ›Zeugen‹, die ›eidesstattliche Versicherungen‹ abgegeben haben, dann wissen Insider, was gemeint ist – und der illegal Abgehörte weiß es auch, wird also seine Worte kaum bestreiten. Wir sind ja sowieso Haltungsjournalisten, für uns gelten Gesetze nicht wie für den Pöbel.« – Im Internet haben sich mehrere Insider auf eine Weise geäußert, die man in eine solche Richtung deuten könnte.

Nicht nur implizite Botschaft

Die zweite Meldung an der ersten Meldung von der unsäglichen Aussage war die mediale Inszenierung dieses Fragments aus dem »Gedächtnisprotokoll« der Lisa Licentia.

Die Szene selbst wurde eingeleitet mit dem für Haltungsjournalisten typischen Framing, also dem Setzen eines propagandistischen Deutungsrahmens, der dem Zuschauer vorgibt, wie er das Gesehene zu deuten hat.

Ein »Journalist« befragt, mit wackliger Kamera im wohl Hotelschlafzimmer gedreht, die Protagonistin:

Was glaubst du, was wird dein Weg sein, dass du eigentlich das beweisen kannst, was du beweisen willst, wie diese Partei im Kern funktioniert. (»Journalist« in ProSieben-Dokumentation »Rechts. Deutsch. Radikal.«)

Neben dem merkwürdigen Duzen und der für Haltungsjournalisten inzwischen typischen sprachlichen Unbeholfenheit fällt das manipulative Framing auf: »wie diese Partei im Kern funktioniert«. Man lockt im Stasi-Stil eine Person in die Falle, hoffend dass sie etwas sagen wird, was dann propagandistisch auf die gesamte Oppositionspartei hochgerechnet werden kann.

Die nächste längere Szene dann ist jenes nachgesprochene »Gedächtnisprotokoll«.

Die Reaktionen der Journalisten und übrigen politischen Gegner auf die wirklich üblen Schnipsel wirken teils offen euphorisch. Am selben Abend noch wurde zum ersten Mal in diesem Jahr ein Vertreter der größten Oppositionspartei zu Plasberg eingeladen (siehe tichyseinblick.de, 29.9.2020) – zum für den Staatsfunk typischen Alle-gegen-die-AfD-Tribunal. Während im Bundestag eine Partei sitzt und schwätzt, die unter anderem Namen tatsächlich Menschen foltern und erschießen ließ, in deren »Kampfreserve« (als solche verstand sich die FDJ) die spätere Zerstörerin Angela M. bekanntlich als Funktionärin diente, nutzen Politiker und politiknahe Journalisten die Berichte über die vermutlich weinselige, auf jeden Fall imponierwillige angebliche Aussage des Sprechers der AfD-Bundestagsfraktion als Vorlage, alle AfD-Mitglieder mit den üblichen beleidigenden Vokabeln zu belegen. Die nicht nur implizite Botschaft des politisch-medialen Komplexes: »Oppositionspolitiker und ihre Wähler sind allesamt Kinder der Hölle.«

So weit weg

Auf eine gewisse Weise liegen mir die Tage meiner Schul- und Kinderzeit, aber auch die Monate um die Jahrtausendwende, gefühlt näher als etwa das Jahr 2009.

Damals, 2009, war unser erstes (und damals einziges) Kind knappe zweieinhalb Jahre alt. Wir hatten im Vorjahr unser Studium beendet. 2009 starb Michael Jackson. In den Medien las man von der Schweinegrippe, und die soll eine »Pandemie« gewesen sein, und ich hatte nicht wirklich etwas davon mitbekommen außer den Berichten. In Köln stürzte das Stadtarchiv ein – ein Desaster, das Kölner mit der als »kölsche Art« bekannten Lethargie hinnahmen.

2009 wirkt so weit weg. Wir dachten, der nachwirkende Bankenkollaps von 2008 sei tatsächlich eine einmalige Wirtschaftskrise. Schon damals gab es Meldungen über Migranten, die als Kunden von Schleppern in den Westen einfahren wollten – doch wir konnten kaum ahnen, was Merkel sechs Jahre später über Deutschland und Europa bringen würde.

In Honduras folgte auf den vom Militär abgesetzten Manuel Zelaya ein Sohn italienischer Einwanderer namens Roberto Micheletti. Auf Micheletti folgte der Landbesitzer Porfirio Lobo Sosa. Auf Sosa folgte schließlich Juan Orlando Hernández. – Deutschland ächzt weiterhin unter Merkel.

Politische Einsamkeit

Was soll einer in Deutschland wählen, der dem Unrecht und der Ungerechtigkeit widersprechen, die Merkel und ihre Helfer über das Land bringen?

Was soll einer in Deutschland wählen, der nicht die linke Meinung teilt, »Rechtsstaat« sei irgendwie »rechts« und was geltendes Recht sei, das solle durch Mob und moralisches Bauchgefühl auf dem intellektuellen Niveau von Grünen und Kleinkindern bestimmt werden?

Welche Partei soll denn ein Bürger wählen, dem daran liegt, dass Deutschland wie die allermeisten Staaten auf diesem Planeten seine Grenzen schützt und selbst bestimmt, wer ins Land darf?

Welche Partei soll einer wählen, der es nicht als satanisch böse betrachtet – ganz im Gegenteil! – von Politikern zu fordern, dass deren Tun dem Wohle des Volkes dient und Schaden von diesem abwendet?

Viele wählen die AfD aus Notwehr – und Notwehr-Maßnahmen sind manchmal eben nicht hübsch.

Mir ist die Partei AfD ähnlich egal wie mir die anderen Parteien egal sind. Ich bin kein Journalist, und entsprechend fern liegt es mir, für diese oder jene Partei das Wort zu führen.

Es sind die Wähler, an die ich denke, wenn ich nicht schlafen kann (und deren Anliegen mich morgens um vier Uhr aufstehen lässt, um diesen Text zu schreiben).

»Politische Heimatlosigkeit« ist viel mehr als nur ein weiteres politisches Schlagwort.

»Politische Heimatlosigkeit« bedeutet, dass niemand da ist, der dich und das, was dir wichtig ist, vor der Macht vertritt, dass niemand für dich streitet.

Der Bürger sieht sich einer Fake-Auswahl frei austauschbarer Parteien gegenüber, die Politik offen gegen das Land treiben (man denke nur an den »ganz großen Konsens« als es um den de facto anti-demokratischen »Migrationspakt« ging; siehe Essay vom 30.11.2018).

Wenn ein Räuber Sie überfällt, und ein Passant bietet sich als einziger an, Sie zu verteidigen, werden Sie die Hilfe des Passanten ablehnen, wenn und weil dieser etwas streng riecht?

Die AfD ist auf gewisse Weise ein Monopolist – sie ist die einzige Partei, die in Deutschland fordert, was in einem nicht-verrückten Staat selbstverständlich wäre: Dass die Regierung für und nicht gegen das Volk handelt. Die AfD kann es sich leisten, implizit zu sagen: »Klar sind einige unserer Leute manchmal unappetitlich, doch was wollt ihr tun? Die CDU wählen, auf dass das Blut auch an euren Händen klebt? Die SPD wählen und nicht mehr in den Spiegel schauen können? Die Partei der Vogelhäcksler wählen? Die Partei wählen, die unter anderem Namen euch oder eure Väter im Osten folterte und an der Grenze zu erschießen drohte?«

Ja, die AfD ist in gewisser Weise ein Monopolist, und, ja, gelegentlich benimmt sie sich auch so. Die unschönen Auswüchse der AfD, möglich gemacht durch ihre Monopolstellung. Die Schuld für sein Handeln trägt stets der Handelnde (wir sind ja keine »Linken«), doch es lässt sich nüchtern vermuten: Wäre die AfD nicht die einzige Partei, die in Deutschland das fordert, was in den meisten Staaten dieses Planeten selbstverständlich ist – und dort von praktisch allen Parteien gefordert wird (oft inklusive sogenannter »Sozialisten«!) – dann könnte sie sich nicht solche wilden Schlenker erlauben.

Ich bin weder für noch gegen die AfD – ich als unverbesserlicher Demokrat wünsche mir, dass es viele AfDs gibt, viele Alternativen für das Land, das die selbsterklärten »Guten« in Berlin mit angeekelter Miene zu melken wissen. Konkurrenz belebt das Geschäft!

Während man in den Büros der Etablierten ob der ekelhaften (und, wenn so passiert und beweisbar, womöglich strafrechtlich relevanten und ohnehin wohl rechtsextremen) Aussage die Korken am moralisch einwandfreien Bio-Schaumwein knallen lässt, köcheln ja all die Probleme weiter, welche die AfD in den Augen ihrer Wähler hat notwendig werden lassen – und manche Meldung ist selbst in der eiskalten Gutmensch-Republik noch bemerkenswert; so etwa: Rentner-Paar (76, 73) wird vom Staat nach 25 Jahren aus seiner Wohnung geworfen, um Platz für wichtigere Menschen zu schaffen (ntz.de, 22.9.2020: »Senioren aus Neckartailfingen müssen umziehen […] Das Landgericht hat das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen bestätigt: Die Unterbringung von Flüchtlingen überwiegt alle Härten.«).

Die eigentliche Frage ist doch nicht, ob AfD oder keine AfD, ob diese AfD oder eine andere.

Die eigentliche Frage ist, ob der Bürger, der vor der Macht vertreten sein möchte (statt nur hinzunehmen, was die Propaganda vorgibt), eine solche demokratische Vertretung findet.

Entgegen der Aussagen der Propaganda bedeutet »Demokratie« nicht »Macht der alten, etablierten Zirkel«. Demokratie bedeutet, dass Bürger sich eine Vertretung wählen, die wirklich ihre Interessen erkämpft und beschützt.

Die Abwesenheit von Demokratie ließe sich als »Einsamkeit vor der Macht« deuten. Manche sagen, die AfD werde aus Notwehr gewählt. Eine andere, fürwahr nicht widersprechende Deutung wäre: Die AfD wird aus politischer Einsamkeit gewählt.

Die alten Mächte, die etablierten Parteien und die Propagandisten in den Redaktionen unterschätzen noch immer, was Menschen alles in Kauf nehmen werden, nur um nicht einsam zu sein.

Weiterschreiben, Wegner!

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