15.10.2022

Midas und die Weltzensur

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von K Fraser
Was König Midas berührte, wurde zu Gold – bis er dran zu verhungern drohte. Einige deutsche »Gute« meinen heute ähnlich, dass ihr Gefühl bestimmt, was »gut« ist und was »böse« – und sie wollen es der Welt als Gesetz schenken: die deutsche Weltzensur.
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Als der König Midas ein Säugling war, und als dieser Säugling schlief, trugen Ameisen ihm Weizenkörner in den Mund. Das war ein Zeichen, eine Weissagung, dass Midas sehr reich werden würde.

Später ergab es sich, dass Midas einen Wunsch beim Gott Dionysos frei hatte. Midas wünschte sich bekanntlich, dass alles, was er anfasste, zu Gold würde, denn dann würde er tatsächlich sehr reich werden.

Es funktionierte!

Alles, was Midas berührte, wurde zu Gold.

Wie wunderbar!

Wie aufregend!

Wie buchstäblich glänzend!

Manche der »Guten« halten sich heute ähnlich für »moderne Midasse«, nur eben das Gute betreffend: Was sie sagen, denken und empfinden, wird zu »gut« im ethischen Sinne, allein dadurch, dass sie es waren, die es sagten, dachten oder empfanden.

Neue Midasse

Ich habe jüngst aus dem Dunstkreis der »Guten« eine Forderung gehört, deren geschichtslose Grandiosität selbst für die Verhältnisse des Jahres 2022 mir den Atem verschlug.

Die »Guten« in Deutschland leiden ja schon länger am Gedanken, dass ihre Vorstellung von »Gut« erstens auch dann durchgesetzt werden muss, wenn sie zu Leid und Ungerechtigkeit führt, und zweitens ihre Ethik auch global durchgesetzt werden muss.

Jene Forderung nun bestand darin, dass das deutsche Recht auf verbotene Meinungsäußerungen überall auf der Welt durchgesetzt werden soll.

Bestimmte Dinge darf man in Deutschland ja nicht sagen, die man anderswo eben doch sagen kann. Deutschland ist in dieser Hinsicht rigider als etwa die USA (und nach zwei deutschen Diktaturen, deren Personal danach jeweils oft genug einfach weitermachte, wohl auch erfahrener) – doch manchen unserer »Guten« wird jeder Meinungskorridor zu weit sein, solange mehr als nur ihre eine Meinung durchpasst (und selbst die darf nicht von den »Falschen« gesagt werden).

Anderswo gilt ja die Geisteshaltung, dass erlaubt ist, was nicht verboten ist. Geht es nach den deutschen Guten, ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, und selbst davon vieles nur denen, die als die »Guten« gelten.

Weil in Deutschland weniger gesagt werden darf als anderswo, erleben Deutsche auf Twitter oder Facebook immer wieder, dass Meinungen »in diesem Land« ausgeblendet werden.

Einigen Leuten geht die Zensur in Inhalten für das deutsche Internet aber nicht weit genug. Deren Bedenken: Mit technischen Tricks ist es möglich, dem Server vorzuspielen, dass man sich in einem anderen Land befindet, und dann bekommt man die verbotenen Inhalte eben doch zu sehen. Es ist ein Argument, wie man es aus dem Iran oder China erwarten würde – so sind die deutschen »Guten« eben.

Also soll, so jener gefährliche Gedanke, politischer Druck bis hin zu internationalen Gesetzen und Abkommen ausgeübt werden, deutsches Recht global durchzusetzen.

Eine Äußerung, die in Deutschland verboten ist, soll auch in keinem anderen Land der Welt digital geäußert werden dürfen beziehungsweise über die bekannten Plattformen abrufbar sein.

Was bewegt einige der Guten dazu, sich komplizierte technische Werkzeuge zu installieren, um zu suchen, ob in den Tiefen des Internets jemand etwas Doofes über ihn oder seine Lieblingspolitiker sagt? Was ist das für ein Lebenssinn, nach falschen und verbotenen Meinungen zu fahnden? Ich weiß es nicht genau. Es ist nicht mein Kompetenzgebiet.

Ich will mich mit dem Gedanken beschäftigen, mit dieser Forderung selbst, welche ich aus dem Dunstkreis einer bestimmten Partei hörte. Die Leute aber meinten das ernst, fürchte ich.

Man bedenke all die Konsequenzen, die sich aus der Idee selbst ergeben würden!

Was erlauben?

Wenn es Deutschland tatsächlich gelingen sollte, weltweit ein Vetorecht für in Deutschland verbotene Meinung zu erzwingen, dann könnte das nur über Verträge und Abkommen passieren, die auch allen anderen Staaten dasselbe Recht zugestehen.

Als Beispiel: Es ist ja kaum zu übersehen, dass einige der deutschen »Guten« etwa im Kopftuchstreit im Iran gefühlt auf der Seite des Regimes stehen. Was erlauben sich die frechen Iranerinnen einfach so, so fühlen manche Guten »unausgesprochen«, aus der dortigen Islamauslegung auszuscheren? Aus der Perspektive der deutschen »Guten« sind die unter Lebensgefahr protestierenden Frauen von Iran vermutlich ja ohnehin »islamophob« zu nennen. Wir kennen ja die vielen Kopftuchbilder »toleranter« westlicher Politikerinnen im Iran. Wir kennen die Kopftuch-Verharmlosung des deutschen Staatsfunks. Mit solchen internationalen Abkommen aber hätte etwa der Iran die Handhabe, jede deutsche Unterstützung der mutigen Frauen des Iran in Deutschland und anderswo verbieten zu lassen. (Haben Sie den letzten Tagen eigentlich etwas Neues aus dem Iran in dieser Angelegenheit gehört? Ich auch nicht! Hmm. Nicht, dass es diese Abkommen schon längst gibt.)

Das theoretische Ergebnis eines globalen Zensur-Abkommens wäre ein »kleinster gemeinsamer Nenner«.

Natürlich ist der Gedanken absurd und auch nur der Versuch einer Umsetzung würde in Richtung einer dystopischen Diktatur weisen. Doch es ist von den »Guten« und damit »gut gemeint«, und das rechtfertigt ja heute so manches

Ein Schelm

Wenn die »Guten« es verbieten wollen, irgendwo auf der Welt etwas zu sagen, das in Deutschland verboten ist, dann nehmen sie realiter dafür in Kauf, dass man sich in Deutschland nicht etwa zur Unterstützung der Grundrechte von Schwulen oder der Unabhängigkeit Taiwans äußern darf, denn beides ist ja irgendwo auf der Welt illegal.

Was soll dann als Nächstes kommen? Sollen Konzerne festlegen, welche Meinungen zu ihren Produkten weltweit erlaubt sind – und welche hart sanktioniert werden?

Sollte etwa ein Pharmakonzern mit einer langen Reihe unappetitlicher Skandale weltweit alle kritischen Fragen und Meinungen zu Wirksamkeit und Nebenfolgen seiner Produkte verbieten können?

Hach, da bin ich doch von den vielen hypothetisch-dystopischen Fällen fast schon in die aktuelle Realität gerutscht. Es ist ja beinahe, als ob die Dystopie der Weltzensur nach deutsch-chinesischem Vorbild bereits ihre Ausläufer in der Gegenwart platzierte. Um Heinz Erhardt zu zitieren: Was bin ich heute doch wieder für ein Schelm!

Nein, jene Forderung nach der globalen Umsetzung deutscher Zensur-Vorgaben ist nicht realistisch. Schon deshalb nicht, weil Deutschlands moralische Autorität nur in den Köpfen der »Guten« und »Moralisten« existiert. (Man betrachte einfach, wie kaum jemand ernsthaft dem deutschen Energie-Suizidversuch folgte – und jetzt heilfroh drum ist.)

Doch dass gewisse Kräfte von der Weltzensur träumen, das ist durchaus bemerkenswert, und lässt manch anderen Rückschluss zu.

»Be careful«

Der Wunsch des Midas wird ihm laut den Sagen auch tatsächlich gewährt – und das wäre beinahe sein Todesurteil geworden!

Da wirklich alles, was Midas berührt, zu Gold wird, werden auch Speisen und Getränke zum ungenießbaren Metall.

Midas wäre beinahe verhungert, wenn Dionysos sich nicht erbarmt und ihm aufgezeigt hätte, wie er sich doch noch von dieser verführerischen wie tödlichen Gabe befreien kann.

Die Amerikaner kennen die Redensart: »Be careful, what you wish for!«, und auch unser mythischer Volksmund mahnt: »Sei vorsichtig, was du dir wünschst!«

In Essays wie »Die Schuld der Gutmenschen« (19.12.2017) habe ich den Unterschied zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik herausgearbeitet. Kurz gesagt: Der Verantwortungsethiker (neudeutsch: »Rechter«) ist einer, der eine Handlung nach ihren absehbaren Konsequenzen bewertet. Ein Gesinnungsethiker (neudeutsch: »Guter«) ist einer, der eine Handlung nach ihrer gefühlten Gesinnung bewertet, selbst und gerade dann, wenn die Konsequenzen schrecklich sind.

Die »Guten« können sich nur deshalb so konsequent »gut« fühlen, weil sie das »gute Bauchgefühl« beim Aussprechen der Forderung mit der ethischen Qualität ebendieser gleichsetzen.

Die »Guten« haben sich davon überzeugt, dass ihre »gute Absicht« alle Folgen rechtfertigt. »Die Geschichte wird mich freisprechen«, denkt sich vermutlich der modern Gute mit Fidel Castro.

Die Guten werden, so fürchte ich, an ihrem »Guten« noch ersticken, metaphorisch gesprochen. Die Gesellschaft aber muss sich freikämpfen, so sie nicht mitersticken will – und ein Verständnis von »Gut« entwickeln, das über das »Gefühl des Tages« hinaus Verantwortung übernimmt.

Von klein auf

Einst kamen nachts die Ameisen, und trugen dem Midas die Weizenkörner bis in den Mund. Den Guten von heute wurde ähnlich von klein auf eingeflößt, dass sie gut und moralisch sind, wenn sie sich nur so fühlen – und jetzt glauben sie es selbst, und die Welt soll an ihrem Wesen genesen (oder sich zumindest unterwerfen).

Es sind schlechte Ideen, und sie sind schlecht, weil sie zu bösen Konsequenzen führen (und weil sie oft Kind von Denkfaulheit sind, aber das wäre wieder ein anderes Thema).

Nein, wir wollen die schlechten Ideen der Ach-so-Guten nicht verbieten. Doch wir erlauben uns diese schlechten Ideen auszulachen – im vollen Bewusstsein der Gefährlichkeit der Guten und ihrer ach-so-guten Gedanken.

Ja, lasst uns weiter darauf achten, nicht zum Opfer des Bösen der Guten zu werden!

Vor allem aber: Lasst uns nicht werden wie die Guten – lasst uns anständige Leute bleiben.

Weiterschreiben, Dushan!

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