Dushan-Wegner

05.07.2022

Messer und Mitgefühl

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten
Mit den Lockdowns schien auch die Messergewalt weniger zu werden. Doch die Ausgangsverbote sind vorbei – und die Gewalt ist wieder da. Doch man redet nicht mehr darüber. Warum?
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Man gewöhnt sich an alles, nur an Schmerzen, an die gewöhnt man sich nicht – und das ist tatsächlich lebensrettend. 

Schmerz weist auf ein Problem hin. Die Natur sagt uns: »Kümmere dich um das Problem, das den Schmerz verursacht – jetzt!«

Und manchmal ist es ein größeres Problem, wenn sich kein Schmerz einstellt, etwa wenn mit einem inneren Organ etwas nicht stimmt.

Und wir redeten darüber

Apropos Inneres Organ: Es ist gar nicht so lange her, dass Meldungen über den »zweckfremden Einsatz« von Schneidegeräten noch die deutsche Republik bewegten – ich meine: Messerstechereien.

Ein Messerstich in die Leber, oder andere lebenswichtige Organe, so etwas war das Thema des Tages.

Und wir kannten auch die Routine. Jemand hatte jemanden mit dem Messer gepiekst.

Schneller als das Opfer »Ufff!« sagen konnte, schwärmten die Wachbataillone politischer Korrektheit aus, um zu verhindern, dass jemand unangenehme Fragen zum Geschehen stellt.

Igendwann kam die Wahrheit dann doch heraus, und wir redeten darüber.

Dann wurde es ruhig um die schnell gezückten Messer.

Das hing wohl mit der Corona-Panik zusammen, und mit Ausgangsverboten. Wenn keiner draußen ist, dann kann auch keiner draußen abgestochen werden.

Jedoch, der Lockdown wurde wieder aufgehoben, und auch die Messer sind wieder da.

Ist Ihnen aber aufgefallen, was nicht wiederkam?

Die Aufregung über Messerstecher, die bleibt heute aus. Es passiert jedoch weiterhin!

Etwas ruppiger

Aus Berlin wird ganz aktuell getitelt: »Überfallen, ausgeraubt und in den Bauch gestochen« (berliner-zeitung.de, 3.7.2022).

Soso. Wie sind die Zustände dort sonst so? Berlin litt in derselben Nacht offenbar zum wiederholten Mal an fehlenden Rettungswagen. Nun, wer 1 Million Euro für die »autofreie Friedrichstraße« ausgibt (tagesspiegel.de, 26.4.2022) oder 6 Millionen Euro für das »Flussbad Berlin« im Spreekanal (n-tv.de, 1.7.2022), dem bleiben halt keine 200.000 Euro pro Rettungswagen übrig in seinem »Gender Budgeting« (berlin.de).

Mehr aus dem linken Traumland Berlin:  »Mann bei Messerangriff im Gesicht verletzt« (berliner-zeitung.de, 3.7.2022).

Ein »Unbekannter« hat einem Mitmenschen via Messer mehrere »Schnittverletzungen im Gesicht, am Rumpf und an den Armen zugefügt« (berliner-zeitung.de, 3.7.2022). Dass der Schwerverletzte überhaupt in ein Krankenhaus gebracht werden konnte, das gilt in Berlin heute wohl schon als Glück.

In Neukölln fand ein Streit samt Messerstecherei am Döner-Imbiss statt (berliner-zeitung.de, 3.7.2022). Der schwerverletzte Unterlegene wurde mit einem Rettungswagen für Schwerlastpatienten ins Krankenhaus gebracht – es standen schlicht keine regulären Rettungswagen zur Verfügung. (Es wäre interessant, herauszufinden, ob mehr Leute mit Messerverletzung oder mit Covid-19 in Berliner Krankenhäusern liegen.)

Manchmal wird mit dem Messer ja bloß gedroht: Vier junge Männer überfielen eine 87-Jährige und ihren 81-jährigen Ehemann, drohten mit dem Messer (berliner-zeitung.de, 2.7.2022).

So isset halt in Berlin, da geht es etwas ruppiger zu.

Und manchmal hat der eine Beteiligte ein Messer und der andere ebenfalls eine Waffe, nämlich eine Eisenstange, und dann prügeln sie sich halt, bis der Arzt kommt (berliner-zeitung.de, 2.7.2022).

Alle diese Meldungen stammen übrigens vom selben, vom vergangenen Wochenende. Alle sind sie aus Berlin.

Dazu muss man sich klarmachen, dass ein Drohen mit dem Messer oder kleinere Kratzer vermutlich oft gar nicht erst angezeigt werden, oder es nach einer Anzeige in die Zeitung schaffen, und dennoch zur Atmosphäre der Angst beitragen.

Doch, ich werde müde, über Berlin zu reden. Vor einigen Tagen fiel mir eine krasse Meldung aus Hamburg auf. Ich zitiere welt.de: »Eine 19-Jährige wartet im Hamburger Osten auf ihren Bus – als sie völlig unvermittelt von einem Mann mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt wird« (welt.de, 23.6.2022).

19 Jahre alt.

Die Niedergestochene in Hamburg war 19 Jahre alt. Haben Sie den Aufschrei in der Republik gehört? Das Mitgefühl? Die kollektive Empathie? Die Denkworte in TV und die besorgten Kommentare zur besten Sendezeit?

Ich auch nicht.

Hat sich Deutschland dran gewöhnt?

Es wäre zu viel 

Ich will mich nicht »dran gewöhnen«. Was würde es denn bedeuten, sich dran »zu gewöhnen«?

Nein, wenn wir Menschen Mensch bleiben wollen, dürfen wir uns nicht »dran gewöhnen«.

Doch, seien wir ehrlich: Wir üben uns durchaus darin, emotional wegzuschauen, selbst wenn wir die Meldung lesen.

Wir hören oder sehen die Worte einer Meldung zwar, doch unser Geist weigert sich inzwischen, die Worte in innere Bilder umzusetzen.

Es wäre zu viel.

Diese Weigerung könnte jedoch mit Gewöhnung verwechselt werden – oder sogar mit Abstumpfung.

Ja, wir selbst könnten uns für abgestumpft halten!

Es ist menschlich, das nicht mehr sehen und wissen zu wollen, und also ist es verständlich.

Jedoch, es bleibt wahr, dass die oder der Betroffene sich eben nie dran gewöhnen wird. Ihr oder sein Leben ist ab da ein anderes.

Daten und Wörter

Mich schockiert diese unsere neue Kälte. Nein, das war nicht immer so. Früher war mehr  Mitgefühl, echtes öffentliches Mitgefühl mit dem Mitmenschen.

Ich will es frei von der Leber weg sagen: Lasst uns nicht so kalt wie die Linken sein, so zynisch wie Politiker, niemals so herzlos, hirnlos, gewissenlos wie Journalisten.

Diese Meldungen sind mehr als nur Daten und Wörter. Diese Meldungen bedeuten Menschen.

Und: Wir reden von einer Republik, einer Gesellschaft. Jeder Messerstich schneidet auch in eben diese Gesellschaft.

Dramatisches Weichei

Mich schockieren Meldungen über Messerstiche noch immer. Nennen Sie mich pathetisch, aber ich kann nicht anders, als zu denken: Das hätte mein Kind sein können.

Vielleicht nennt man mich dafür ein dramatisches Weichei. Ich nenne es Menschsein.

Ich will, dass es besser wird.

Wenn wir aber wirklich wollen, dass es besser wird, dürfen wir nie zulassen, dass die Messergewalt in unseren Köpfen und Herzen das neue Normal wird.

Früher rief man: »Empört euch!«

Ich werde bescheidener. Ich sage heute nur: »Gewöhnt euch bitte nicht daran!«

Werdet nicht kalt wie die Linken, nicht innerlich tot wie  die  Journalisten, nicht abgehoben und weltfremd wie Politiker.

Und, passt auf euch auf.

Lasst euch nicht verletzen, nicht am Körper und nicht an der Seele – und doch, bleibt verletzlich.

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