Dushan-Wegner

04.10.2021

Wenn es nicht nichts war

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Foto von Ignacio Amenábar
Als Junge willst du ein Held werden. Später verstehst du den Bösewicht. Zuletzt hoffst du, mehr als ein Statist in den Statistiken gewesen zu sein.
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Die Kinder sind in der Schule, Elli ist in wichtiger Angelegenheit unterwegs, der Hund des Nachbarn schlummert lieb neben mir auf der Tagesdecke.

Die Fenster sind offen und der Wind weht durchs Haus, über mein Gesicht, und wieder in die Freiheit auf der anderen Seite.

Wir sind unter uns, lieber Leser, und ich darf Ihnen etwas gestehen, was meine Kinder nicht hören sollten: Dieser Essayist hat, als er selbst ein Kind war, bei Gelegenheit die Schule geschwänzt.

Ja, ich habe blaugemacht.

Und wenn ich blaugemacht habe, bin ich durch die Straßen Kölns spaziert, immer mit demselben Ziel: Die Stadtbibliothek am Neumarkt.

In der Bibliothek las ich, was ich lesen wollte, nicht was der Lehrplan vorgab.

In der Bibliothek durfte ich mehrere Bücher nebeneinander aufschlagen und ich durfte abwechselnd lesen. Ein Comic, dann ein Sachbuch, dann etwas mit Geschichte, dann ein Buch über ferne Inseln oder über Psychologie? Alles möglich, alles ein Abenteuer!

In der Bibliothek waren die Stühle so viel weicher als die harten Stühle der Schule. Die Stühle waren weich gepolstert, da standen sogar Sessel! Wie will man ordentlich denken, wenn man buchstäblich bretthart sitzen muss?

In der Bibliothek musste ich mir nicht anhören, was diese oder jene Geschichte angeblich »wirklich« bedeutet.

Ich habe mich damals gern selbst gefragt, was die Bücher und ihre Inhalte »bedeuten«. (Im Studium ein Jahrzehnt später philosophierte ich dann darüber, was »Bedeutung bedeutet«. Diese Frage ist womöglich das intellektuelle Äquivalent zu Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.)

Wer noch Schurke?

Als Junge willst du ein Held werden. Später versteht du den Bösewicht.

Zuletzt hoffst du, mehr als nur Statist in den Statistiken gewesen zu sein.

In manchem Film dieser Jahrzehnte ist der Bösewicht ja verstehbarer als der Held. Jedoch, der Konsument des Actionfilms wird getäuscht, und die Logiker nennen diese Art von Täuschung ein Falsches Dilemma.

Das Storytelling und die vorgegebenen Angebote zur »Identifikation« implizieren, dass der betrachtende Mensch sich »nur« entscheiden muss, ob er gut sein will oder böse. Das ist denkbar falsch!

Mindestens statistisch wäre zu erwarten, dass du weder Batmann noch der Joker bist. Statistisch wahrscheinlich bin ich (wie du auch) vermutlich Kleinbürger Nr. 08/15.

Wer will denn noch Held sein. Wer noch Schurke? Wir sind heute ja schon froh, nicht zum Kollateralschaden der Schurkenstücke und Heldentaten der Weltenbeweger zu werden.

Ein Potpourri

Zwischendurch war ich mit dem Hund draußen. Wir haben im Feld gespielt. Er versteht auch weiterhin nicht, dass er beim Apportieren das Geworfene nicht nur holen und in die Schnauze nehmen, sondern auch zurückbringen soll. Er ist dennoch für den Moment glücklich müde, und er schlummert wieder, nun auf den Kacheln an der Treppe. Von seiner Warte aus überblickt er alles, was im Haus der Fall ist. (Im Moment sind vor allem die gewohnt immobilen Möbel der Fall, geschmackvoll aufgestellt um ein Potpourri der von den Kindern beim Aufbruch zur Schule fallengelassenen Gegenstände).

Wer hat das schon?

Was wollte ich werden, in jenem Alter damals, wenn Jungen noch Helden sein wollen? Ich hoffe, dass ich Schreiber werden wollte. Und vor allem Vater. Und immer ein Mensch, klar. Von allen drei Berufen aber, Vater, Mensch und Schreiber, natürlich der Beste und Tollste und überhaupt Angesehenste. Ach, ich werde dereinst froh sein, nicht eine totale Katastrophe genannt zu werden. Nicht, dass es schon wieder heißt: »Der hat doch blaugemacht!«

Erst will man alles, dann etwas, dann wenigstens nicht nichts.

Sei nicht traurig, wenn du nicht alles gewonnen hast. Wer hat das schon?

Sei zufrieden, wenn es nicht nichts war.

Weiterschreiben, Wegner!

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