Was würden Sie von einer Regierung halten, die ihren Bürgern verbietet, Kinder zu bekommen? »Undenkbar!«, meinen Sie? Nun, von 1979 bis 2015 galt in China die »One Child Policy«. Dreieinhalb Jahrzehnte lang durften chinesische Familien offiziell nur ein Kind zur Welt bringen. Das heißt praktisch: Die Kinder Nummer 2,3,4 und so fort waren verboten. 2016 wurde es schließlich gelockert — auf immerhin zwei Kinder pro Familie. (Es gibt übrigens auch religiöse Kinderverbote! Nicht nur bei katholischen Geistlichen gibt es das Zölibat! Bei der amerikanischen Freikirche der »Shaker« (siehe Wikipedia) galt das Zölibat für alle! — und daraus ergab sich die vollständige Kinderlosigkeit, was ganz praktische Probleme beim Fortbestehen der Gemeinschaft mit sich brachte.)
Fragen wir aber andersherum: Was würden Sie von einer Regierung halten, die ihren Bürgern befehlen wollte, Kinder zu bekommen? Nun, so eine Verpflichtung wäre natürlich schwer umzusetzen, wenn auch verschiedene Regierungen seit je her versuchen, die Bürger zu motivieren. Aktuell versucht man etwa in Süd-Korea mit finanziellen Anreizen, junge wohlhabende Familien zum Zeugen von Nachwuchs zu bewegen (businessinsider.com, 18.12.2018) — bislang nicht ausreichend erfolgreich (pulsenews.co.kr, 30.1.2020). Während Regierungen »nur« zu motivieren versuchen, ist es innerhalb mancher religiöser Kulturen durchaus üblich, einen als »Gebärpflicht« zu bezeichnenden sozialen Druck aufzubauen.
Was sagt Ihre moralische Intuition zu dieser Frage? Ist ein staatliches Verbot des Kinderkriegens gut im ethischen Sinne zu nennen, oder wäre es die Pflicht zum Kinderkriegen, die wir als gut betrachten sollten? — Wenn Sie ähnlich wie ich veranlagt sind, werden Sie mit Bestimmtheit ausrufen: »Weder noch!!«
Kinder zu bekommen, dass ist eine derart schwerwiegende Veränderung des persönlichen Lebens, dass es nicht moralisch, sondern auch pragmatisch »schwierig« erscheint, es via Verboten oder gar Pflicht zu regulieren.
Stellen wir uns nun vor, eine Regierung würde beschließen, Menschen unter Hausarrest zu stellen, weil sie sich weigern Kinder zu zeugen, und ohne Kinder das Volk aussterben wird — ein Skandal wäre das! — Wo wir aber gerade vom »präventiven Einsperren« zum Wohle der Allgemeinheit reden…
Warum eigentlich?
Aus Italien wird aktuell (Montag 24.2.2020, gegen Mittag) der fünfte am Corona-Virus Gestorbene gemeldet — und es macht sogar die Börsen nervös (welt.de, 24.2.2020).
Weltweit werden Menschen unter Quarantäne gestellt, um eine globale Epidemie der Corona-Virus zu verhindern — oder sie zumindest zu bremsen. Kreuzfahrtschiffe werden zu Beobachtungsstationen umfunktioniert, in Italien wurden ganze Dörfer unter Quarantäne gestellt (bild.de, 24.2.2020), ähnlich wie schon zuvor in China (siehe auch Essay vom 30.1.2020), wenn auch (hoffentlich) mit deutlich weniger Erkrankten.
Die Reaktion auf das Corona-Virus erinnert in (mindestens) einem Punkt an den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Jahrelang behauptete man den Deutschen gegenüber, Grenzen könnten heutzutage gar nicht geschützt werden — doch als die Staatschefs in den deutschen Norden kamen, ging es plötzlich doch — und prompt wurden hunderte Kriminelle gefasst (siehe spiegel.de, 10.7.2017; welt.de, 11.7.2017).
Städte und Schiffe werden zu »Spontan-Gefängnissen« für Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, und wir akzeptieren das, zumindest moralisch. Warum eigentlich?
Freiheit der Wenigen, Gefährdung der Vielen
Gerade jene Antworten, die wir mit allergrößter Selbstverständlichkeit geben, sind extra haarig zu begründen. Etwa diese: Was ist an einer Krankheit schlecht?
Eine Krankheit bereitet uns Leid und Schmerzen (wobei wir damit gefährlich nah an definitorischer Zirkularität entlang schrammen), und Leid ist eben schlecht, weil sie die sehr relevante Struktur Wohlbefinden schwächt — so weit werden wir uns schnell einig.
Warum aber darf man, moralisch betrachtet, Menschen quasi einsperren, wenn sie auch nur möglicherweise einen gefährlichen Virus tragen könnten? Eine mögliche Antwort wäre utilitaristisch (siehe Wikipedia): Die zeitweilige Einschränkung der Freiheit der Wenigen wird als weniger schwerwiegend als die Gefährdung der Vielen angesehen. – Vielleicht hat es aber damit zu tun, was ein Virus überhaupt ist, und einem panischen Gefühl, dass wir »in Konkurrenz« mit dem Virus stehen…
Durchaus eine DNA
Man stellt Menschen unter Quarantäne, um die Ausbreitung eines Virus zu stoppen — was aber ist ein Virus? Nun, wenn Sie vermuten, Viren (siehe Wikipedia) seien »Lebewesen«, dann verwechseln Sie diese womöglich mit Bakterien (siehe Wikipedia).
Viren gelten als »dem Leben nahestehend« — Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel, aber durchaus eine DNA — und sie vermehren sich, und das bei Gelegenheit, wie aktuell, viel schneller und viel effektiver als uns lieb ist. Auch wenn sie selbst nicht als vollwertige Lebewesen angesehen werden, sind Viren auf gewisse Weise die »reine Essenz« dessen, was auch uns als Lebewesen und als Menschen antreibt.
Der Evolution und Fortpflanzung ist es relativ egal, was wir Menschen unter »Sinn« verstehen oder unter »Leben« (und »Glück« ist nicht nur nicht nützlich, sondern ein echtes Evolutionsproblem: man bedenke die Länder, wo Menschen »glücklich(er)« zu sein meinen und sich in Folge nicht mehr fortpflanzen… siehe oben). Der Motor der Evolution ist die Bewahrung von Information — im Falle von Lebewesen und auch Viren also die DNA — die Gene. Ob Lebewesen wie wir oder organische Strukturen wie Viren — eine Art, die nicht darauf fokussiert ist, ihre Information zu bewahren (meist indem sie die Träger vermehrt), wird aussterben.
Alle unsere Eigenschaften dienen in irgendeiner Form der Bewahrung unserer Information — sprich: der DNA — und selbst unsere scheinbar »überflüssigen« Eigenschaften, wie etwa der Sinn für Schönheit und Kultur, haben mit Informationen zu tun.
Es ergibt guten Sinn, dass wir die schnelle und exponentielle Verbreitung von Information (vor allem im Internet und sozialen Medien) als »viral« bezeichnen.
Viren — so ernüchternd und beinahe demütigend es sich anfühlen kann — sind von der gleichen »Motivation« getrieben wie der Mensch (wenn er nicht der Dekadenz verfällt und auszusterben beschließt): Viren »wollen« ihre Informationen vermehren (so weit man bei einer kleinen Informations-Einheit von »wollen« reden kann).
Staaten sperren Menschen in Quarantäne-Stationen, bis die Inkubationszeit des Virus abgelaufen ist, sprich: Bis wir gesehen haben, ob sie den Virus in sich tragen, und was dieser mit ihnen anstellt. Die moralische Rechtfertigung für die Freiheitsberaubung ist, dass das Wohl der übrigen Menschen und im Extremfall das Überleben des Volkes auf dem Spiel steht.
Doch — ach! — der Corona-Virus ist nicht die einzige gefährliche Information, die sich auf der Welt ausbreitet, immer wieder in der Geschichte, und auch heute.
Andauerndes Experiment
Auch politische Ideen (und auch weitere Ansätze, wie Leben und Gesellschaft zu ordnen seien) sind Informationen, die sich wie Viren ausbreiten — und zwar alle, die irgendeinen Erfolg zu haben erhoffen.
»Wie ein Virus« zu sein ist zunächst einmal Abwertung (wie Ihnen jeder Internet-Marketer bestätigen wird). Ich selbst wende all mein schreiberisches Können auf, in der Hoffnung, dass auch diese Essays etwas mehr »wie ein (extra erfolgreicher) Virus« sind.
Die Frage ist nicht, ob diese oder jene politische Idee ein »Virus« ist — sie sind es alle. Die Frage ist, von welchem politischen Virus wir quasi infiziert werden wollen.
Wie aber können wir feststellen, welche Viren wir für unsere Gesellschaft wünschen? Indem wir anschauen, was dieser Virus in anderen Ländern mit seinen Trägern so anstellt.
Sozialisten, EU-Bürokraten und sogenannte »Postnationale« nehmen zynisch in Kauf, dass sich auch gefährliche, zu Leid führende Ideen ungebremst ausbreiten — oft genug werden sie ja zentral angeordnet. (Im Text »Kultur ist wie Kuchen: wenn man die Zutaten ändert, funktioniert das Rezept nicht« beschreibe ich, wie die zentralistischen und grundfalschen Ideen der kommunistischen Führung Chinas zu Hungersnöten mit Millionen Toten führten.)
Dumme politische Ideen können zu ebenso viel Leid führen wie Krankheiten. Wer die rasche Verbreitung von Krankheiten verhindern will, der muss potentiell infizierte Menschen unter Quarantäne stellen. Nationen sind potentiell alle von schlechten politischen Ideen befallen. Nationen sollten alle und immer ein wenig auch behandelt werden, als würden sie Ideen entwickeln, die anderen Nationen gefährlich sind — und doch ist es für das Lernen unabdingbar, für die potentiell nützlichen Ideen offen zu bleiben.
Es war ein links-globalistischer US-Akademiker, der im deutschen Staatsfunk davon sprach, dass in Deutschland ein »Experiment« stattfände (siehe auch »Wie Gaffer beim Logikunfall«) — in nicht-linken Kreisen sorgte es für berechtigte Empörung. Auf gewisse Weise stellt aber jeder Staat und jede Gesellschaft ein andauerndes Experiment dar. Eine Nation wird das Zeugen von Kindern mit Geld fördern wollen, die andere wird es mit Denken und Kultur machen. Eine Nation wird die Menschen mit Moral und Propaganda bei der Stange halten, die andere wird ihren Bürgern die Bausteine ihres Glücks zur Verfügung stellen. Was wird besser funktionieren? Wir werden es ausprobieren — und dann werden wir voneinander lernen — hoffentlich.
Der Filter
Die Zukunft Europas wie der Welt ist nicht der eine Superstaat. (Nebenbei: Das beste Argument gegen mehr zentralistische Machtfülle von EU oder EZB ist das Personal dieser Institute, sei es die vorbestrafte Chefin der EZB oder die Frau Doktor mit den vielen Beratern, von denen offenbar keiner ihr riet, dass man seine Handys nicht einfach so löschen darf, wenn man den Job wechselt und mit einer Affäre zu tun hat.)
Die Zukunft der Gesellschaften in Europa und weltweit sind selbstständige, verschiedene Zellen, mit echten, starken Grenzen, die zwar durchlässig sind, deren Durchlässigkeit aber wie ein intelligenter und präziser Filter funktioniert, nicht wie das sprichwörtlich sperrangelweit offene und also dumme Scheunentor.
Der Staat der Zukunft in einer friedlichen Welt ist nicht »tolerant« (was heute de facto eine Mischung aus Beliebigkeit, Selbsthass und Recht-des-Stärkeren bedeutet), sondern fair, transparent und verbindlich organisiert mit offen kommuniziertem Wertekatalog, mit klaren Verhaltensregeln – und jederzeit nach außen offenen Grenzen!
Sturmwinde wehen uns um die Ohren, erschüttern die Mauern unserer Gewissheit. Wir sind damit beschäftigt, den umherfliegenden Balken auszuweichen, die der Sturm uns um die Ohren weht. Und doch, die Zukunft wird kommen, ob wir über sie nachdenken oder nicht. Wir werden hoffentlich ein Teil der Zukunft sein, doch wenn wir mit gestalten wollen, wie die Welt für uns und unsere Kinder wird, sollten wir von Zeit zu Zeit aufblicken und in die Zukunft blinzeln.