Es ist fünf Uhr morgens, ich bin aufgestanden und habe mir einen Instantkaffee aufgegossen. (Einige meiner israelischen Bekannten trinken, warum auch immer, tatsächlich Instantkaffee lieber als das, was ich richtigen Kaffee nennen würde – sie nehmen sogar Nescafé-Pulver mit auf Reisen! Es wird unserer geteilten lebensfrohen Bitterkeit gerecht werden, wenn ich es aus einer Art solidarischem Masochismus heraus heute ebenso tue.)
Während ich dies schreibe, schläft der Rest meiner Familie den ruhigen Sonntagmorgenschlaf von Menschen, die nicht jederzeit von Sirenen geweckt werden können, woraufhin sie 15 Sekunden Zeit haben, um sich vor den Raketen der Terrorbanden in Sicherheit zu bringen.
Ich höre Deep Purple auf den Kopfhörern. – »Sweet child in time«, so singt Ian Gillan (1970-Original auf YouTube), zu Deutsch etwa: »Süßes Kind in der Zeit, du wirst die Grenze sehen, die zwischen Gut und Böse gezogen ist.«
Keine andere Zeit
Es ist soweit: Die zukünftige Realität, vor der wir warnten, wird zur gegenwärtigen, und wir beginnen die Grenze zwischen Gut und Böse zu sehen, und – Nein! Doch! Oh! – die, welche sich »gut« nennen, halten Händchen mit dem Bösen.
Im Lied von Deep Purple geht es um den Vietnamkrieg, und ich nehme mir heraus, die Worte auf mich und uns zu beziehen. Ob ich »süß« bin, das kann man diskutieren – meine Kinder sind es ohne Zweifel, und einiges andere auch noch – doch ich fühle mich wie ein »Kind in der Zeit«, in dieser Zeit, die ich nicht herbeiführte, und die ich doch mit einem Minimum an Würde durchleben will – eine andere Zeit als die seine hat ja keiner.
»die ollen Philosemiten«
»Am Ende gewinnt immer die Realität«, so schrieben wir uns auf die Brust, und dann ergänzten wir, etwas müde, aber wütend: »Willkommen in der Realität!«
Es ist Mai 2021, und die Realität des Gutmenschentums hat »gewonnen«. In Deutschland marschieren muslimische Judenhasser auf, und brüllen wilde Drohungen. Die Clans zeigen so auch, wer wirklich die Macht auf den Straßen des Propagandastaates hat (@glr_berlin, 15.5.2021). Niemand macht sich (mehr? noch?) die Mühe, zu sagen, das seien »keine richtigen Muslime«. Die Judenhasser in den Straßen genießen, so fürchte nicht nur ich, Rückendeckung von manchen derer in den Redaktionen.
Jedoch, denkt nicht, dass ihr sicher seid, wenn und weil ihr keine Juden seid! Ein Staatsfunker spricht aus, was als Geist in gewissen Köpfen und Fluren wabert: »Lieber Gott, mach die ollen Philosemiten tot!« (Falls Sie sich fragen, woher der Staatsfunker das Wort hat: Einer der Herren, die das Wort zuerst »populär« machten, schrieb auch zuerst den Satz »Die Juden sind unser Unglück«; siehe Wikipedia. Der deutsche Staatsfunk ist ein gar dunkler Abgrund.) – Wenn Sie Sympathien für das jüdische Volk und den Staat Israel empfinden, dann will der Staatsfunker sie totgemacht sehen, und zwar von Gott persönlich. Auch er ist Teil der neuen-und-doch-nicht-ganz-neuen Realität.
Ach, überhaupt, diese »Realität«… Menschenskinder!
Die Realität wird geleugnet, bis sie gewinnt, und dann interessiert die Leugner ihre Schuld noch weniger als ihre Opfer sie berühren. Gutmenschen waschen ihre schmutzigen Hände im Wasser ihrer reinen Absichten.
»Wir haben es nicht gewusst!«, so werden sie wieder sagen, und »wir haben es nicht gewollt!« – Dann wird man ihnen sagen: »Aber ihr wurdet doch gewarnt!« – Und sie werden sich verteidigen: »Nur die Rechten haben so etwas gesagt, und auf die Rechten hört man nicht, das hat uns der Staatsfunk gelehrt! Auf die Rechten hört man nicht, wieviel Menschenleben das Nichthören auch kostet.«
Herumhüpfende Mini-Muffins
Jedoch, die Chancen stehen statistisch gut, dass Sie, während Sie dies lesen, gar nicht in einer jener deutschen Städte leben, wo das Böse wieder marschiert.
Einige meiner Leser haben sich in Deutschland wunderbare »Innenhöfe« eingerichtet, wo sie noch einige Jahre (wahrscheinlich? hoffentlich?) sicher leben werden. Andere schreiben mir aus ihren Innenhöfen rund um den Globus.
Die Damen meines Hauses schlafen noch, mein Zehnjähriger aber hüpft um mich herum. Er soll seine Hausaufgaben machen, dann können wir gleich gemeinsam zum Sonntagsspaziergang aufbrechen. Mein Instantkaffee ist ausgetrunken. Ich frage mich, warum wir überhaupt das Pulver daheim haben, und da fällt mir die Antwort ein: Die Damen hatten es als Backzutat geholt. Da war doch was! Was kaut mein Sohn denn da? Ich gehe herunter zum Kühlschrank und bediene mich an den Mini-Muffins! Darf der Kleine überhaupt Mini-Schoko-Muffins mit Instant-Kaffee essen (sie sind köstlich)? – Nun, es wird seinem Herumhüpfen nicht schaden. Er sollte jetzt aber wirklich seine Hausaufgaben für Montag erledigen!
Die Ereignisse in den Straßen Berlins, die verlöschende Zukunft Deutschlands, die an- und ausbrechende Realität, die sich zwingend aus gutmenschlichem Wahn ergeben musste, all das ändert nichts daran, dass jeder Tag im Leben nur einmal passiert, nur einmal gelebt werden kann, und dass nicht einmal die Götter dir deinen vergangenen Tag wiederbringen können (auch dann nicht, wenn sie nicht gerade im Auftrag irgendwelcher Staatsfunker damit beschäftigt sind, »Philosemiten« totzumachen).
Kein Falsett mehr
Das Lied »Child in Time« ist für seine hohen Tonlagen bekannt. Ian Gillan kann das Falsett so nicht mehr singen (ultimateclassicrock.com, 31.8.2020). In einer bemerkenswerten Zeile des Liedes springt die Melodie um eine halbe Oktave herunter (siehe musescore.com, Takt 56/ YouTube bei 1:52 und dann mehrmals wiederholt), der Verlauf der Melodie ist unterbrochen, das Schlagzeug setzt aus, und der Sänger mahnt: »wait for the ricochet« – »warte auf den Querschläger«!
Das also empfehle ich uns heute: Gesteht euch ein, dass der Fall ist, was der Fall ist – und habt ein Auge dafür offen, wann und woher die Querschläger kommen. Ein »Querschläger«, das ist die Kugel, die vielleicht gar nicht für dich gedacht war, oder die vielleicht tückischerweise erst in eine andere Richtung geschossen wurde, die dann aber irgendwo abprallt und dich doch erwischt.
Die Realität bricht im Gutmenschen- und Propagandastaat an – und es sieht nicht gut aus. Es ist aber auch der Fall, dass auch dieser Tag nur einmal kommt.
24 Stunden sind 86400 Sekunden
Dein Auftrag lautet, auch diesen Tag gut zu leben – auch dieser Tag soll seiner 24 Stunden, seiner 86400 Sekunden wert sein!
Plant für die Zukunft, plant klug und plant ehrlich! – Doch dann, wenn die Pläne aufgestellt sind und ihre Umsetzung läuft, dann lebt diesen Tag.
Ich veröffentliche jetzt diesen Text und sende die E-Mail dazu heraus. Das Tochterherz ist aufgestanden, und hat verraten, dass sie mir noch einen großen Muffin versteckt hatte – siehe das Foto über diesem Essay! Ich esse den jetzt, aufgeschnitten und mit Marmelade bestrichen. Dann gehen wir heraus zum Sonntagsspaziergang – ja, mit Masken dabei, und doch dort, wo wir keine brauchen, aber immerhin ohne Raketen.
Ich sage mir: Genieße diese Stunde, du »Kind in der Zeit«!
Lebe diese Minute – und hüte dich vor den Querschlägern.