Dushan-Wegner

17.10.2021

Wir sind Scharfschützen, mit Farbe und Pinsel

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
»Im ganzen Dorf, auf Scheunentoren und auf Holzlattenzäunen, ja sogar auf den Mauern des Saloons, überall waren auffällige Zielscheiben aufgemalt, konzentrische Kreise, und mitten durch jede Zielscheibe war ein Schuss gegangen…« (mit Audio 🔊)
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Es kam einmal, so erzählt eine metaphorische Geschichte, ein Fremder in ein Dorf, und das Dorf lag in Texas, und was der Fremde im Dorf in Texas zu sehen bekam, das erstaunte ihn sehr.

Im ganzen Dorf, auf Scheunentoren und auf Holzlattenzäunen, ja sogar auf den Mauern des Saloons, überall waren auffällige Zielscheiben aufgemalt, konzentrische Kreise.

Mitten durch jede Zielscheibe aber war ein Schuss gegangen. Keinen Fingerbreit an Abweichung, nie ein Fehler, keine Unsicherheit.

Der Fremde im Dorf in Texas erklärte in großer Ergriffenheit: Hier in Texas, in diesem Dorf, hier lebt wahrlich der schärfste Scharfschütze der Welt!

Was der Fremde nicht wusste, was er gar nicht wissen konnte, war die Abfolge der Entstehung von Zielscheiben und Einschusslöchern.

Es stimmt, dass in der exakten Mitte jeder Zielscheibe sich jeweils ein Einschussloch befand. Doch tatsächlich war es die Angewohnheit des Dorftrottels, erst hier und dorthin zu ballern, um dann mit Farbe und Pinsel eine Zielscheibe rund um das Einschussloch zu malen.

Doch kein Trottel?

Ich habe einst gelernt, dass die Geschichte vom texanischen Scharfschützen die Warnung vor einem Denkfehler sei. Statistiker könnten der Versuchung erliegen, zufällige Datenhäufungen zum beobachteten Phänomen zu erklären. Die Exegese der Sprüche von Orakeln und Ökonomen hätte ohne nachträglich aufgepinselte Zielscheiben wohl überhaupt nichts zu berichten.

Ich hielt die Praxis jenes texanischen Scharfschützen mein Leben lang für eine Schummelei, für einen Betrug, womöglich sogar einen Selbstbetrug – und für nichts anderes.

Ich bin mir darin nicht mehr sicher.

Heute verstehe ich: Der texanische Meister-Schütze ist kein Trottel, er ist ein weiser Mann!

Wenn du siehst, dass du das erste Ziel deiner Reise nicht erreichen wirst, dann gib dir ein anderes Ziel! Suche und finde etwas dort, wohin du tatsächlich gelangt bist, das würdig ist, zum Ziel erklärt zu werden.

Das Leben ist kurz und jeder Tag ist uns nur einmal geschenkt. Es muss doch unsere Pflicht sein, etwas mehr Glück und Freude aus diesem Leben zu wringen.

Wenn es für Glück und Freude notwendig ist, dass ich die Definition meines Ziels ändere, dann will ich das tun.

Nein, nicht das Schönreden

Nein, ich rede hier nicht vom dumpfen Schönreden. Was schlecht ist, ist schlecht.

Das Böse und Kalte schwächt eine ihm und uns relevante Struktur. Das Böse opfert sein Land für die Illusionen einer Ideologie, das Kalte opfert sein Kind für eine Illusion von Freiheit.

Nein, wir wollen nicht das Schlechte schönreden. Wir würden es ja selbst nicht glauben, und sich selbst zu belügen, das ist die fürs Seelenheil gefährlichste der Sünden. Solches Schönreden bleibt, wie die Amerikaner es sagen, das Auftragen von Lippenstift auf ein Schwein.

Ich will das Schöne und Gute suchen und finden, ich will es feiern, und ich will es zu meinem neuen Ziel erklären, gerade dort, wo Finsternis und Kälte zu gewinnen scheinen.

Der Buddha spricht vom Lotus, der auf einer Müllkippe am Straßenrand erblüht und mit seinem Duft die Herzen erfreut. Ich spreche hier vom Suchen und Sehen dieses einen Lotus.

Wenn das Leben dir einen Müllhaufen vor die Füße kippt, vermagst du die eine Blüte zu sehen, die darauf wächst?

Vermagst du es, ohne den Gestank und die Bosheit zu leugnen, die eine Lotusblume zu finden, und dich dann an ihrem Duft zu erfreuen?

Wo ist dein David?

Wer hat denn jedes seiner Ziele erreicht? Keiner! Wir sind alle Gescheiterte. Keiner lebte, der nicht gescheitert wäre, keiner lebt, der nicht scheitern wird. Welches der großen Ziele der großen Männer, eines Jesus, eines Buddha, eines Martin Luther King, eines Gandhi, welches dieser großen Ziele ist denn nicht als gescheitert anzusehen? Und groß bleiben sie doch, die Männer wie auch ihre Ziele.

Der Felsblock, aus welchem einst Michelangelo den David holte, er galt als verhauen und unbenutzbar. Der Meister aber schlug und schliff geschickt Stand- und Spielbein aus dem Stein, und er drehte Davids Kopf auf die bekannte Weise zur Seite, er ließ die Adern auf Hals und Hand zur jeweiligen Stellung passend hervortreten, und so holte er aus dem unvollkommenen Felsblock den vollkommenen David.

Zuletzt sind wir alle Gescheiterte, ohne Ausnahme, und doch gilt es, aus dem verhauenen Fels unseres Lebens doch nochunseren eigenen David zu meißeln.

Der texanische Scharfschütze, er ist kein Trottel, er ist ein weiser Mann.

Er zielt und er schießt, so gut er kann, und dann findet er einen Weg, mit dem Ergebnis glücklich zu werden.

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