Dushan-Wegner

13.06.2023

Es wirkt alles so surreal

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Doch wo wird es ankommen?«
Gewalt gehört zum neuen Alltag in Europa. Doch die Regierung hat eine Lösung: Messerverbot in Zügen. – Man seufzt. Es wirkt alles so absurd, so surreal. Doch es passiert wirklich. Vorsicht aber, wenn du darüber sprichst!
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Damit aufregende Filme und gruselige Geschichten auch unterhaltsam sind, ist es eine zwingende Voraussetzung, dass wir als Zuschauer oder Leser wissen, dass das Erzählte nicht real ist. Ein Schau-Spiel, ein Spiel-Film, es ist alles »als ob«.

Doch wäre das Geschehen nicht »als ob«, sondern »in echt«, wären wir noch immer er- und aufgeregt – und wir würden unsere Erregung allerdings weit weniger positiv empfinden. Außer natürlich, wir wären Psychopathen.

Apropos: Ich weiß nicht, wer es ist, der wirklich heute die Fäden zieht (wenn ich mich auch frage, ob manche der Marionetten wirklich ganz so tumb sein müssen). Ich bin aber ausreichend sicher, dass die Dinge, die um uns herum passieren, »in echt« passieren, dass es also wohl »die Realiät« ist – und das fühlt sich reichlich surreal an.  (»Als ob« sind lediglich die Begründungen, die der Staatsfunk für die Ereignisse angibt.)

Stets verglichen

Doch ich bin nicht allein damit, mit diesem Gefühl! Ich höre und lese heute mehrfach täglich von Mitmenschen, wie surreal sich doch alles anfühlt.

Manche sagen auch schlicht: »Das kann doch alles nicht wahr sein!«

Man könnte auch formulieren: »Es ist schon seltsam, in was für einer absurden Zeit wir leben.«

Letzteres ist ein Satz, den ich eben ganz konkret las. Geschrieben hat ihn Jochen Mitschka (@jochen_mitschka, 12.6.2023).

Der Kontext: Herr Mitschka veröffentlicht seine Meinung auf Twitter, wie man es heute eben tut. Und viele Leute »melden« seine Meinung bei den Twitter-Autoritäten als potenziell illegal. Darüber wird er dann benachrichtigt. (Man wird von Twitter über jede Meldung durch einen liebenswerten Mitbürger per E-Mail benachrichtigt.)

Ich selbst (@dushanwegner) werde so oft bei den Autoritäten gemeldet, dass ich mir vor einigen Monaten einen speziellen Filter eingerichtet habe, der alle Benachrichtigungen in einen Ordner sortiert. Darin finden sich bislang, Stand heute Morgen, 626 Benachrichtigungen darüber, dass man mich meldete.

Die Denunzianten, die ihre Mitmenschen wegen »falscher Meinung« melden, bleiben anonym. Ich erfahre, dass man mich meldete, aber nicht, wer es war.

Ich hatte mich daran gewöhnt, hatte es als »neues Normal« abgeheftet. Noch war keine der Meldungen insofern erfolgreich, als man mich gesperrt hätte.

Herrn Mitschkas Verwunderung rief mir neu ins Bewusstsein, wie absurd es doch alles ist – stets verglichen mit dem einstigen Ideal einer öffentlichen, demokratischen Debatte.

Mal mit Äxten

»Früher hätte es das nicht gegeben«, ist ein problematischer Satz, wenn man das Wort »früher« nicht genau definiert.

Ich meine mit »früher« hier mindestens die westliche Bundesrepublik bis vor Merkel und ihrem »Neuland«, sprich: dem Internet und den reichlich anti-sozialen »sozialen« Medien.

Und mit »es« meine ich mindestens die alltägliche anonyme Denunziation Andersdenkender – und einiges mehr.

Europa hat ein Gewaltproblem, mal mit Äxten und mal mit Fäusten, aber immer wieder mit Messern. Doch die deutsche Regierung weiß sich und uns zu helfen. Nein, nicht indem sie die Leute abschiebt, die so doofe Sachen machen, sondern, und ich zitiere die Schlagzeile wörtlich: »Nach Übergriffen und tödlichen Attacken: Faeser will Messer-Verbot in Zügen und Bahnhöfen« (bild.de, 10.6.2023).

Warum verbietet man nicht einfach alles Verbotene? Dann wäre Deutschland das spiegelbildliche Gegenstück zu Brechts Mahagonny. Dort sollte nichts verboten sein (außer kein Geld zu haben), und damit sollte es auch nichts Verbotenes geben – in Deutschland gäbe es zwar Verbote, doch nichts Verbotenes, denn was verboten ist, das kann es nicht geben.

An die Innenhöfe

Ein Roman über unsere sogenannte Realität wäre vor wenigen Jahren noch als »zu absurd« und »surreal, aber ohne die Poesie« abgelehnt worden.

Wie das verschlingende Nichts in Michael Endes Roman »Die unendliche Geschichte« rückt das Surreale näher.

Einige von uns haben sich ihren »Innenhof« eingerichtet und erhoffen sich davon etwas Schutz, mindestens etwas Ruhe.

Etwas Ruhe und etwas Atemfreiheit. Das Vordringen des kalten, zerstörerischen Surrealen kann dir die Luft abschnüren, bis du zu ersticken meinst, und dann ist nichts wichtiger, als in deinem Innenhof etwas Luft holen zu können.

Der Innenhof kann ein physischer sein, mit Wänden und einem Dach, vielleicht mit Garten und etwas Grün.

Auch ein »ökonomischer Innenhof« verspricht Ruhe; also finanzielle Sicherheit, durch Erspartes, Rentenanspruch oder geldwerte Fähigkeiten.

Zu oft wird der »geistige Innenhof« unterschätzt – die seelische Ordnung gegen die Unordnung der Welt.

Doch wie solide dein Innenhof auch ist, du bist nicht allein damit, wenn du das Gefühl hast, dass das Surreale sich täglich näher an und bald in die Realität deiner Innenhöfe frisst.

Wie im Film

Der Filmemacher Federico Fellini beschrieb das Sehen eines Films als »Träumen mit offenen Augen«. Ein Film muss nicht von Surrealisten gedreht sein, um auf uns »surreal« zu wirken. Wir sehen ja stets etwas, das in dem Moment nicht wirklich »da« ist, selbst beim solidesten Dokumentarfilm.

Wir sagen heute, dass die Ereignisse auf uns »surreal« wirken. »Surreal« bedeutet im Wortsinn »jenseits der Realität«, doch wir meinen damit wohl: »Die Dinge, die passieren, scheinen neuen, teils geheimen Regeln zu folgen, die vielem widersprechen, was wir bislang als die der Realität zugrunde liegenden Regeln annahmen und voraussetzten.«

In Filmen wie »Fear and Loathing in Las Vegas« oder »Trainspotting« wird filmisch dargestellt, wie es sich anfühlt, harte Drogen zu nehmen, wie die Wahrnehmung der Realität sich von ebendieser löst. Ich kenne diese Albträume nicht aus eigener Erfahrung, doch die Darstellungen erinnern mich an das Gefühl, das mich beim Betrachten heute täglicher Ereignisse erfasst.

Mein Verstand und meine bisherige Erfahrung sagen mir, dass das doch alles nicht die Realität sein kann – doch sonstige Sinne scheinen zu versichern, dass es die Realität ist.

An der Uhr

Eine surreal irre Politik schwört, dem Volk zu nutzen, und schadet dann genau diesem. Sie lässt Gewalt und Verbrechen zunehmen, um »Gutes« zu tun, zerstört die Natur, um die Natur zu retten, schafft die Freiheit ab, um die Freiheit zu sichern, opfert menschliches Leben im Namen der Menschlichkeit – und dann will sie das Problem importierter Messergewalt lösen, indem sie Messer verbietet.

Man muss vorsichtig sein, was man wie darüber sagt. – Hätten Sie sich vor einigen Jahren noch vorstellen können, dass im ach so demokratischen Deutschland bei jeder Äußerung wieder der Gedanke mitschwingen wird, ob man das »so sagen darf« oder ob feige anonyme Denunzianten einen bei den Autoritäten melden? Ja, es fühlt sich fürwahr alles sehr surreal an, wie ein sehr großes Spiel, ein falsches Spiel – auf mehr als einer Ebene.

In TV-Cartoons – also surrealen Filmen für Kinder – könnte ein Charakter die Zeit zurückdrehen wollen, indem er an den Uhrzeigern dreht. – Die Politik agiert in ähnlicher Logik.

Man könnte heute ja versucht sein, praktische Dummheit in der Politik zu verbieten, doch dann stünden wir womöglich über Nacht ganz ohne Regierung da.

Wäre das wirklich noch surrealer?

Weiterschreiben, Wegner!

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