Dushan-Wegner

23.06.2023

Die Sache mit dem U-Boot

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: »Soll der Fisch da sein?«
Tagelang waren wir mit der Suche nach dem U-Boot beschäftigt. Und dann: Man wusste wohl von Anfang an, dass das Ding implodiert war. Aber alle waren so schön beschäftigt. Was meint ihr, wovon wollte man ablenken?
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Eine gefühlte Woche lang schien die Top-Meldung bei bild.de die Suche nach dem Submersible »Titan« der Firma »Oceans Gate« zu sein. (Ein »Submersible« ist ein Unterwassergerät, das nicht autonom operieren kann, sondern von einem Mutterschiff und dessen Personal abhängig ist).

Am 18. Juni 2023 gegen 4.00 Uhr morgens Ortszeit tauchte das Submersible »Titan« über dem Wrack der Titanic ins Wasser. An Bord waren der Chef der Betreiberfirma sowie vier Passagiere. Es waren Männer im Alter zwischen 48 und 77 Jahren – und ein 19-jähriger Jugendlicher, der Sohn des 48-jährigen Geschäftsmanns.

Nach etwa einer Stunde und 45 Minuten brach der Kontakt zwischen dem Mutterschiff »Polar Prince« und der »Titan« ab. Das war per se nichts Ungewöhnliches, doch als der Kontakt nicht wieder aufgenommen wurde und das Submersible nicht wieder auftauchte, begann etwa ein halbes Dutzend kanadischer und amerikanischer »Coastguards« nach dem Schiff zu suchen.

Man konnte es nicht verpassen, wenn man westliche Nachrichten verfolgte – wer die Details nachlesen will, kann dies im Abschnitt »Such- und Rettungsbemühungen« bei Wikipedia tun.

Endlich Trümmer

Am Donnerstag dann, dem 22. Juni 2023, gab die US-Küstenwache bekannt, dass man in der Nähe der Titanic erste Trümmer der »Titan« gefunden habe (news.uscg.mil, 22.6.2023).

Nach allem Anschein war die »Titan« implodiert. Das heißt, dass sie in Sekundenbruchteilen unter dem immensen Wasserdruck in sich kollabiert war. Diese Erkenntnis ist nicht nur für die Angehörigen eine Erleichterung: Bis Freitag war man davon ausgegangen, dass die 5 Männer in der Kapsel festsitzen.

Medien konnten Klicks und Views generieren, indem sie wilde Spekulationen publizierten, was wohl in den Psychen der Männer vorgeht, ob einer durchgedreht sei – oder ob ein Unterseemonster sich des Dings bemächtigt hätte (bild.de, 22.6.2023).

Es wurde bekannt, dass das Submersible eher zusammengeschustert wirkte, dass viele Experten es kritisiert und sogar explizit darum gebeten hatten, nicht mit so riskantem Gerät das Leben der Passagiere und auch das Image der Tauchindustrie zu gefährden.

Und es wurde bekannt, dass der Chef keine »50-jährigen weißen Männer« mit Militär-Tauch-Erfahrung anstellen wollte, wie alle anderen Tauchfirmen es tun – er wollte junge Leute um die 20, denn die seien »inspirierend« (nypost.com, 21.6.2023).

Und jetzt ist der Chef samt vier Passagieren eben tot.

Die nächste Top-Meldung wird gesucht, mit der man die Leute über Tage hinweg beschäftigen kann.

Ein Detail der »Titan« wird aber nicht ganz so laut berichtet, und zwar: Kurz nachdem das Blechding mit den Menschen an Bord vermisst gemeldet wurde, analysierte die US Navy ihre Audio-Daten und fand den Sound einer lauten Implosion exakt zum Zeitpunkt des Tauchgangs und aus dem Gebiet des Titanic-Wracks (siehe theguardian.com, 23.6.2023).

Auch Filmregisseur und Tiefseetauch-Profi James Cameron (er tauchte selbst 33-mal zur Titanic) wird zitiert, dass seine Kontakte in der Tauchindustrie ihm von einem lauten Knall wie von einer Implosion berichteten.

Mit anderen Worten: Man wusste fast vom Beginn der Suchaktion an, dass die »Titan« anscheinend implodiert war.

Man verschwieg es.

Man ließ die Öffentlichkeit und Millionen Menschen mitbangen, was wohl in den Köpfen der Männer vorging.

Ich vermute sogar, dass die Angehörigen früh Bescheid wussten. Ich twitterte am 22.6.2023 meine Verwunderung darüber (»Etwas stimmt da nicht«), dass der adoptierte Sohn eines der Männer ein Konzert besuchte, während sein Vater eingeschlossen auf dem Meeresboden hockte. Meine Vermutung ist heute, dass er nicht mehr bangte, sondern Bescheid wusste und sich einfach von der Trauer ablenken wollte, was ein Stück weit verständlich wäre.

Wir aber zählten die Stunden herunter, wie lange der Sauerstoff reichen würde.

Noch 32 Stunden!

Noch 12 Stunden!

Irgendwann: Noch 3 Stunden!

Die ehrliche Meldung

Sicher, es war richtig, erst einmal weiterzusuchen, schon um sicherzugehen, dass man sich mit der Implosion nicht irrte.

Doch der Öffentlichkeit nichts davon zu sagen, dass man eine laute Implosion gehört hatte, lässt sich wohl als »Lügen durch Weglassen« bezeichnen.

Die ehrliche Meldung zur »Titan« wäre gewesen: »Ein Boot mit 5 reichen Männern an Bord wollte, wie viele andere superreiche Touristen vor ihnen, zum Massengrab der Titanic tauchen. Allerdings ist das beteiligte Tauch-Unternehmen dafür bekannt, es mit der Sicherheit und Erfahrung lockerer zu handhaben als andere Unternehmen. Knapp zwei Stunden nach dem Tauchgang brach der Kontakt ab. Am nächsten Tag setzte die Suche ein – doch die US-Navy wusste schon sehr bald, dass eine Implosion stattgefunden hatte. Es ist also davon auszugehen, dass alle Beteiligten einen schnellen, schmerzlosen Tod starben.«

Das hätte die Menschen natürlich nicht eine Woche lang beschäftigt gehalten – es hätte nicht so schön abgelenkt. (In den USA sind gewisse Kreise gewiss dankbar für alles, was von den neuesten Skandalen um Hunter Biden ablenkt, etwa dass er angeblich Prostituierte von den Steuern absetzte. In Deutschland möchte man wahrscheinlich von allem ablenken, was die Regierung dem Land antut.)

Einer meiner frühen Essays verhandelte den Krieg um »Wichtigkeit«, und dazu gehört: um unsere Aufmerksamkeit. Der Text hieß »Die Freiheit nehm‘ ich mir« und um nichts weniger geht es hier: Indem wir uns von Dramen ablenken lassen, die vielleicht gar keine echten Dramen mehr sind, verlieren wir tatsächlich etwas von unserer Freiheit – nämlich die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was unsere Leben wirklich verändert.

Das ist die eine Frage, die wir stellen sollten, ob wir von Rammstein, Titan(ic) oder der nächsten großen tagelangen Top-Meldung lesen: Wovon wollen die uns heute wieder ablenken?

Weiterschreiben, Wegner!

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