12.02.2023

Übers Weiterleben

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Es wird sich seinen Sinn finden.
Die simpelste Weise, der eigenen Sterblichkeit zu begegnen, besteht darin, sie zu ignorieren. Die andere ist, ein »Weiterleben« zu versuchen. Wörtlich durch Einfrieren oder durch Glaube, oder metaphorisch in Kindern oder Lebenswerk. Was bevorzugen Sie?
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Essayisten sind Menschen, wie Sokrates. Über Sokrates aber wurde gesagt, dass er ein Mensch ist, und dass alle Menschen sterblich sind, und daraus folgt, dass auch Essayisten sterblich sind.

Der Gedenke daran, dass man irgendwann sterben muss und dann nicht mehr da ist, zumindest nicht im direkten Sinne, das ist kein schöner Gedanke.

Ich werde heute später Kuchen kaufen, für meine Familie, das ist ein weit schönerer Gedanken. Und indem ich ans Kaufen und späteres Essen des Kuchens denke, vermeide ich natürlich den Gedanken daran, dass ich sterben muss.

Die Tätigkeiten des Menschen, solange er lebt, lassen sich nämlich in drei Kategorien einteilen, und diese drei Kategorien sind ›Vermeidung‹, ›Verarbeitung‹ und ›Versuch der Überwindung‹.

Gar nicht erst

»Ich kann sowieso nichts dran ändern.«

»Das ist etwas für Philosophen.«

»Daran denke ich lieber nicht.«

Solche und andere Sätze sagen wir, um nicht daran zu denken, dass es irgendwann vorbei sein wird.

Die meisten von uns sagen diese Dinge gar nicht erst, oder höchstens nur auf Nachfrage.

Die Arbeit lenkt uns ab. Die täglichen Sorgen um die Familie und andere Verantwortlichkeiten. Ich sage nicht, dass das schlecht wäre, im Gegenteil! Was für eine hervorragende Gelegenheit, die Gedanken ans eigene Ende zu vermeiden, indem man sich einen Sinn schafft.

Gerne wieder?

Nicht jeder Mensch vermeidet es, an seine Sterblichkeit zu denken. Manche Menschen wollen es verarbeiten.

»Verarbeiten«, was für ein Wort. Man verarbeitet Kuhfleisch zu Hamburgern, Kuhhaut zu Leder und andere Produkte der Kuh zu Dünger.

Wir »verarbeiten« unsere Sterblichkeit zum Beispiel durch einen Blick zurück, wie man auch auf eine Reise zurückblickt.

Wir sagen Sätze wie: »Es war schön!«, »Das hat sich gelohnt!«, und je nach Metaphysik auch: »Gerne wieder!«

In der Bibel wird über Moses gesagt, dass er in hohem Alter verschied, als er »alt und lebenssatt war« (1. Mose 25:8). Das ist kein Vermeiden von Gedanken an die eigene Sterblichkeit, das ist die Annahme und Verarbeitung im zufriedenen Blick zurück.

Milch wird mal zu Joghurt und mal zu Käse verarbeitet. Wir verarbeiten unsere Sterblichkeit zu Sentimentalität und Zufriedenheit – keine schlechte Wahl, wenn es denn gelingt.

Bislang nicht

Jedoch, Vermeidung und Verarbeitung sind die nicht einzigen möglichen Weisen, sich den Gedanken an die eigene Sterblichkeit zu stellen — oder eben nicht zu stellen.

Eine weitere Möglichkeit ist die Überwindung, und zwar nicht nur der Gedanken selbst, sondern der Sterblichkeit.

»Tod, wo ist dein Stachel? Totenreich, wo ist dein Sieg?«, so schreibt Paulus in der Bibel. Paulus ist tot, länger schon. Viele, viele Generationen haben seitdem den »Stachel« des Todes gespürt, um dann selbst zuletzt mit ihrem Tod ihre Mitmenschen (hoffentlich!) ins Herz zu stechen.

Manche Religion versprach, sie könne uns ein sehr konkretes Weiterleben nach dem Tod sichern. Soweit mir bekannt, konnte aber bislang noch keine Religion den Beweis liefern, dass sie für ihr diesseitiges Geld auch wirklich die zugesagten jenseitigen Vorteile liefert.

Und auch der Medizin gelang es bislang nicht, den Tod zu überwinden. Es scheint auch aus der Mode gekommen zu sein, seinen ganzen Körper oder nur seinen Kopf einzufrieren, in der Hoffnung, dass irgendwann jemand einen Weg findet (und ein Interesse daran hat) die durch Einfrieren entstandenen Schäden zu reparieren und den Eingefrorenen neu zu beleben.

Nein, es funktioniert nicht, die Gedanken an den Tod zu überwinden, indem man den Tod selbst überwindet — zumindest nicht, wenn man die konkrete Überwindung auch nur einmal belegen soll.

Neu definieren

Da bislang niemand belegen konnte, den Tod konkret überwunden zu haben, und doch der Drang zur Überwindung in so vielen von uns pocht, finden wir eben andere Wege der Umdeutung der Begriffe rund um den Tod.

Eltern könnten »Weiterleben« derart neu definieren, dass sie sagen können, sie würden in ihren Kindern weiterleben.

Unternehmer könnten »Weiterleben« derart neu definieren, dass sie sagen können, sie würden in ihrem Unternehmen weiterleben.

Eigentlich darf ja jeder Mensch, der irgendwann am Entstehen von irgendwas beteiligt war, das »Weiterleben« derart neu definieren, dass er im Geschaffenen und dessen Wirkung auf die Menschen weiterlebt.

Jetzt oder später

Woody Allen scherzte sehr ernsthaft: »Ich möchte nicht Unsterblichkeit durch meine Arbeit erlangen, sondern indem ich nicht sterbe. Ich will nicht in den Herzen meiner Landsleute leben, sondern in meiner Wohnung.«

Das ist natürlich Humor, also die Zuckerhülle um die bittere Pille, dass das tatsächliche Weiterleben nicht funktioniert — und man sich also in Umdeutungen wird flüchten müssen.

Jedoch, es lässt sich das Argument vorlegen, dass der Mensch tatsächlich in seinem Werk etwas erschafft, das zentrale Eigenschaften mit »Weiterleben« gemeinsam hat!

Nehmen wir etwa diesen Text, der genau hier vorliegt. Die Worte sind von mir, und der Leser »hört« mich. Ich »spreche« darin zum Leser, und Sprechen verbindet man doch mit Leben.

Der einzelne Leser weiß allerdings nicht, selbst wenn er diesen Text nur Minuten nach Veröffentlichung liest, ob ich nicht kurz zuvor aus diesen oder jenen Gründen verstarb — und es macht keinen Unterschied. Ich kenne den einzelnen Leser ja zumeist gar nicht, kann also nicht einmal an speziell ihn denken!

Dass ich durch meinen Text »zum Leser spreche«, ist also zunächst einmal unabhängig davon, ob ich zum Zeitpunkt des Lesens irgendwo auf der Welt als biologisch lebender Körper existiere.

Indem ich zum Leser spreche, praktiziere ich etwas, was bereits zu meinen Lebzeiten einen sehr wesentlichen Zweck und Teil meines Lebens ausmacht.

Auch ich definiere »Weiterleben« für mich derart um, dass ich »in meinem Werk« weiterleben kann. Es bleibt eine Um- und Neudeutung des Begriffs »Leben«. Doch diese Umdeutung fühlt sich richtig an, denn sie übernimmt Aspekte dessen, was ich als mein Begriff von »Leben« festgelegt habe.

Von Birnen

In der Schule habe ich das Gedicht über den Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland gelesen. Sein Leben lang war er großzügig mit den Birnen in seinem Garten gewesen, hatte sie gern verteilt. Wenn immer einer an seinem Haus vorbeikam: »Wiste ’ne Beer?«

Zuletzt bat er, man möge ihm eine Birne mit ins Grab legen. Sein Sohn und Erbe war knausrig, und gab niemandem von den Birnen im geerbten Garten. Die Birne im Grab aber wuchs zum Birnbaum heran, und wer zur rechten Zeit über den Friedhof ging, dem schenkte Herr von Ribbeck eine Birne. Ja, mancher meinte sogar, es flüstern zu hören: »Wiste ’ne Beer?«

Zur Sicherheit

Sokrates ist tot, und dennoch können wir seine durch die Schriften des ebenfalls toten Platon lesen. Über die Jahrtausende »sprechen« sie zu uns, »leben« also in ihrem Werk weiter.

Wir können die Gedanken an unsere Sterblichkeit vermeiden wollen, und uns mit ach-so-wichtigen und ach-so-unterhaltsamen Dingen ablenken. Wir können diese Gedanken verarbeiten, und uns darüber freuen, was wir eben vom Leben hatten.

Wir können aber auch versuchen, unseren Lieben und auch unseren unbekannten Mitmenschen etwas zu hinterlassen, das einen Wert hat. Das kann ein echtes Werk sein oder einige freundliche Worte. Solange wir wirken, solange es einen Unterschied machte, dass wir da waren, solange leben wir auf gewisse Weise weiter.

Weiterschreiben, Dushan!

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