Dushan-Wegner

28.03.2023

Unser rutschendes Haus

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten
»Es war schön, solange es schön war. Solange es schön war, wollten wir nicht wahrhaben, dass es bald unschön werden würde. Die ersten Risse in den Wänden taten wir noch als Charakter ab.« (eine Geschichte)
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Es war schön, solange es schön war. Solange es schön war, wollten wir nicht wahrhaben, dass es bald unschön werden würde.

Die ersten Risse in den Wänden taten wir noch als Charakter ab. Unser Haus habe eben Charakter, so sagten wir.

Zum Charakter der Wände gesellte sich ein Charakter quer durch den Boden. Der Bodencharakter verlief durch Wohnzimmer und Küche und schnitt unser Haus in zwei Lager.

Hugo und seine Leute behaupteten, es sei unsere Hälfte des Hauses, mit der offensichtlich etwas nicht stimme.

Meine Leute und ich waren jedoch sicher, dass unsere Hälfte des Hauses weiterhin stand, wo und wie sie schon immer gestanden hatte.

Ich erinnere mich, als zum ersten Mal eine Hausbewohnerin mit dem Fuß in den großen Bodencharakter im Wohnzimmer geriet, und sich so das Bein brach. Es war Lotta, eine von Hugos Leuten.

Die Risse, die wir bis eben noch als Charakter schöngeredet hatten, mussten besprochen werden.

Wir Hausbewohner beider Lager setzten uns noch am selben Tag im großen Wohnzimmer zusammen.

Wir hatten uns entlang des Risses platziert. Hugos Leute saßen auf deren Seite, wir auf unserer.

Hugos Leute zischten untereinander. Auch meine Leute flüsterten.

Hugo war wohl mutiger als ich. Er sprach zuerst.

Hugos Stimme erhob sich über das Zischen und Tuscheln.

Er klang eisig streng, als er verkündete: »Lotta hat sich den Fuß gebrochen. Wir verlangen, dass ihr Lotta für ihre Schmerzen finanziell entschädigt. Es ist wohl an der Zeit, dass ihr aus dem Haus auszieht.«

Meine Leute waren von dieser Dreistigkeit ebenso überrumpelt wie ich – Hugos Leute aber applaudierten ihm.

Meine Reaktion war wenig ruhmhaft: »Was haben wir damit zu tun? Wenn überhaupt, ist es Lottas eigene Schuld!«

Hugo giftete sofort zurück: »Lotta sollte euch verklagen.«

Bevor ich mich weiter verteidigen konnte, erklärte Hugo: »Wir sind hier fertig. Beim nächsten Unfall werfen wir euch persönlich raus.«

Meine Autorität hatte Risse bekommen, und das war kein guter Charakter.

Es gelang mir gerade so, meine Leute zu motivieren, uns auf die Suche nach den Ursachen der Risse zu machen.

Unsere Theorie lag bald vor.

Es genügte ja, nur einmal das Haus zu verlassen und auf eine nahe Anhöhe zu steigen.

Von dort sah man mit bloßem Auge, dass das Gelände unter einer Hälfte des Hauses abgesackt war. Sogar die Bäume an jener Haushälfte standen schief.

Es war nur dem sonnigen Wetter der letzten Tage zu verdanken, dass es nicht ins Haus hineingeregnet hatte. Von oben sah man, dass auch das Dach entlang der Bruchstelle aufgerissen war.

Ich suchte Hugo privat auf, ohne seine oder meine Leute. Ich wollte die irrationale Aufregung aus der Sache nehmen. Ich erklärte ihm, was wir festgestellt hatten. Mindestens seine Hälfte des Hauses war in großer Gefahr. Vermutlich würde das gesamte Gebäude davon betroffen sein.

Es war, als ob ich wieder zu einem anderen Hugo spräche.

»Danke dir«, sagte er und schüttelte mir sogar die Hand.

Hugo versicherte: »Ich hatte auch schon genau diesen Verdacht. Lass uns das doch nochmal in großer Gruppe besprechen. Offen und sachlich. Wir sind ja doch alle am Wohl des Hauses interessiert.«

Na gut.

Das zweite große Treffen wurde abgehalten, wieder im Wohnzimmer, die Sitzordnung wieder durch den Graben sortiert.

Meine Leute brachten Skizzen mit. Man hatte Erklärungen zum Absacken auf Hugos Seite des Hauses mitgebracht.

Als Hugos Leute von ihrer Seite aus im Wohnzimmer eintrafen, gingen sie merklich schräg, um nicht wegen der Neigung des Bodens umzufallen. Und auch sie hatten etwas dabei: Es war ein großer Umschlag, dessen Inhalt wir noch erleben würden.

Meine Leute waren vorbereitet, die geologischen Fakten im Vortrag zu erklären. Wir hatten Pläne ausarbeiten lassen, wie sich Hugos Seite des Hauses und damit auch das gesamte Gebäude stabilisieren ließe.

Hugo ergriff das Wort, und wieder erwischte es mich kalt: »Reden wir nicht drumherum! Eure Unverschämtheit ist widerlich. Dass ihr euch hier überhaupt zeigt, schier Wahnsinn! Warum seid ihr nicht längst ausgezogen? Kein Funken Anstand.«

Hugos Leute johlten.

Meine Leute schauten derweil reichlich konsterniert drein.

Ja, sie hatten mir von einem weiteren Treffen mit Hugo abgeraten. Ja, ich hatte sie bekniet und angebettelt, mir noch einmal zu vertrauen.

Auch ein Hugo könne sich ändern, hatte ich gesagt. Ach, wie falsch ich doch lag!

»Hugo«, sagte ich, sobald das Gejohle es zuließ, »wir haben einige Untersuchungen angestellt, wie es dazu kam, dass der Boden unterm Haus auf eurer Seite abgesackt ist …«

Weiter kam ich nicht, denn Hugo lachte und rief in den Raum: »Auf unserer Seite? Jetzt sind also wir schuld. Aha. Müssen wir uns das anhören? Müssen wir uns diese Lügenmärchen anhören?«

»Nein, bringt sie zum Schweigen!«, grölten Hugos Leute.

Zwei meiner Leute schüttelten den Kopf und verließen das Wohnzimmer.

»Ha, seht nur«, dröhnte Hugo, »die ersten Ratten verlassen das sinkende Lügenschiff! Die fürchten die Wahrheit, und darin zumindest liegen sie richtig.«

»Was ist denn die Wahrheit?«, fragte ich, und Hugo schaute mich überrascht an, wie ein Schachspieler einen unterlegenen Gegner anschaut, der einen selbst für seine Verhältnisse überraschend dummen Fehler macht.

Er ließ sich den großen Umschlag geben und zog zwei Bilder heraus.

Ein Bild war die Röntgenaufnahme von Lottas gebrochenem Bein. Der Knochen war durchgebrochen, kein Zweifel, das sah man auch aus zweiter und dritter Reihe, und es tat bereits beim Hinschauen weh.

Das zweite Bild war eine Großaufnahme von Lottas Gesicht, in Tränen aufgelöst. Was hatte sie nur durchgemacht!

Hugos Leute schnappten demonstrativ nach Luft.

Einer seiner Anhängerinnen gelang es, spontan in Tränen auszubrechen.

Einer rief: »Rache für Lotta!«

Hugo genoss die Entrüstung sichtlich. Dann bedeutete er seinen Leuten, doch bitte wieder zu schweigen.

Er hielt die beiden Bilder hoch und sprach mich an: »Du fragtest, was die Wahrheit ist? Das hier ist die Wahrheit. Egal, welche Lügen und Behauptungen ihr euch noch einfallen lasst: Dies ist Lotta, und Lotta hat Schmerzen, und diese Bilder von Lotta sind die Wahrheit.«

»Lotta ist die Wahrheit!«, wiederholten seine Leute.

Hugo fuhr fort: »Ja, selbst wenn irgendwas von dem stimmen sollte, was ihr behauptet, will ich es nicht hören.«

Zu seinen Leuten aber rief er: »Wollen wir weiter hören, wie die uns beschuldigen?«

Einer von Hugos Leuten sprang auf und brüllte, »Nein, keine …« – weiter kam er nicht, da der Boden auf deren Seite doch schon arg schräg stand. Der Empörte fiel direkt aus dem Sprung rückwärts um. Er purzelte den abschüssigen Flur hinunter und prallte gegen etwas Gläsernes, das klirrend zu Bruch ging.

Sogar Hugo zog die Augenbrauen hoch und seine Mundwinkel zuckten. Er rang sein Lachen nieder und sicherte sich die weitere Initiative, indem er uns angriff: »Ihr habt genug Schaden angerichtet. Die Wahrheit ist doch, dass es eure Seite des Hauses ist, die in Schräglage geraten ist, und ihr schiebt uns die Schuld zu.«

»Kein Reden mehr mit denen«, riefen Hugos Leute und sogar: »Rache für Lotta!«

Hugo nickte mir zu, wie man einem Kollegen zunickt, und er zog mit seinen Leuten ab.

Ich verstand nicht, was passiert war. Meine Leute aber wandten sich nach dieser zweiten Niederlage endgültig von mir ab.

Diejenigen, welche die Forschungen zur Absackung angestellt hatten, zogen als Erste aus dem Haus aus.

Unsere Seite war zwar nicht abgesackt, doch erstens wollten sie nicht mehr in diesem Wrack von Haus mit seinem in mehrerer Hinsicht feindseligen Charakter wohnen. Und zweitens fürchteten sie, dass durch das Ausbleiben von Befestigungen auf der absackenden Seite das gesamte Haus in die Tiefe gerissen würde.

Diejenigen meiner Leute, die im Haus blieben, schlossen sich einem Mitbewohner an, der mir bis eben noch als eher sanftmütiger Charakter erschienen war. Dieser neue Anführer war über Nacht ein ganz anderer Mensch geworden. Er klang wütend und selbstbewusst. Er forderte, dass wir uns gegen Hugos Leute mit Gewalt verteidigen sollten. Man müsse das Haus zur Not auch gegen Hugos Willen auf deren Seite gegen den drohenden Absturz sichern.

Unsere Leute verloren sich aber bald in internen Debatten.

Auf Hugos Seite schien es wiederum Leute zu geben, die es leid waren, zwischen schiefen Wänden zu stolpern und sich derart Knochen und Laune zu ramponieren. In den letzten Wochen regnete es regelmäßig ins Wohnzimmer und in die Zimmer auf Hugos Seite, und so ein triefnasses Bett kann einem ganz schön die Laune vermiesen.

Es kam zu Überläufern in beiden Richtungen. Eine Gruppe innerhalb unserer Leute plädierte für einen Dialog über den Graben hinweg. Man sollte doch Gespräche nicht wegen einiger Differenzen in der Sache aufgeben.

Es blieb eine einseitige Geste, die gefährlich nach Anbiederung oder sogar Unterwerfung roch. Unter Hugos Leuten kam kein vergleichbares Harmoniebedürfnis auf, im Gegenteil! Je gefährlicher die Risse und die Schräglage wurden, desto militanter wurde auch ihr Kampf gegen unsere Leute.

Ich verließ das Haus immer öfter. Gelegentlich galt es, einige private Angelegenheiten zu organisieren. Meistens ordnete ich aber einfach nur spazierenderweise meine Gedanken.

Und dann geschah es. Man könnte sagen: endlich.

Als ich wieder einmal auf der Anhöhe über unserem zerbrochenen Haus saß, vernahm ich überlauten Lärm, wie Explosionen tief in der Erde.

Der Boden unter mir bebte, das weiter unten vor mir liegende Haus sprang auf und ab wie ein Ball.

Ich hörte Menschen im Haus vor Angst schreien. Ich sah beängstigend wenige von ihnen nach draußen stürzen. Wenige unserer Leute und wenige von Hugos Leuten.

Hugo selbst sah ich nicht herauskommen.

Deren Seite des Hauses sackte nicht nur ab, sie fiel und stürzte in die Tiefe, als der Boden unter ihr von der Erde selbst weggerissen wurde.

Und unsere Hälfte stürzte direkt hinterher.

Ein guter Teil der Leute, die sich eben aus dem Haus gerettet hatten, wurde dann doch mit in die Tiefe gerissen.

Vier oder fünf sah ich, die panisch davonliefen, mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib.

Ich hatte ja ein Ende des Hauses geahnt, doch eine solch lapidare Brutalität hatte ich nicht erwartet.

Ich fand Unterschlupf bei Freunden, zwei Städte weiter, man besorgte mir eine Arbeit.

Meine engsten Freunde hatten zuvor im Haus gelebt, und so hatte ich nun keine Freunde mehr.

Statt Freunde fand ich immerhin neue Gewohnheiten. Ein täglicher Rhythmus ist fast so gut wie Freundschaften.

Geschäfte, in denen ich einkaufte.

Cafés, die ich besuchte.

Behörden, die ich um diesen oder jenen Gefallen bat, wenn mir langweilig war.

Und dann, ein Jahr später, an einem angenehmen Caféhaus-Morgen, sah ich zum ersten Mal jemanden aus dem Haus wieder.

Es war nicht nur jemand, es war Hugo selbst.

Ich saß, gemäß meiner Gewohnheit, in einem bestimmten Café.

Hugo betrat die Terrasse dieses Cafés. Er war natürlich nicht allein – Hugo doch nicht! Elf Getreue folgten ihm.

Als er mich an meinem Tisch sitzen sah, rief er im Ton so ehrlicher wie lauterer Freude meinen Namen und stürmte auf mich zu.

Ich stand unwillkürlich auf.

»Wie wunderbar, wie großartig, wie wirklich, wirklich großartig, dich zu treffen«, rief er, und er umarmte mich, ob ich wollte oder nicht.

Später erfuhr ich, dass Hugo sich am Tag des Einsturzes in einer anderen Stadt befunden hatte. In einer wichtigen Angelegenheit.

»Wir haben viel zu bereden, alter Freund«, sagte er, als wären wir in bester Harmonie auseinandergegangen.

Auf seinen Wink hin zogen seine Leute weitere Stühle heran und setzten sich an meinen eher kleinen Tisch.

Ich erkannte unter seinen Leuten tatsächlich Gesichter aus dem alten Haus wieder. Da war sogar Lotta! Und ja, sie humpelte etwas, war aber sonst bildhübsch, was sich in dieser Kombination extra falsch anfühlte.

»Hast du gehört?«, fragte Hugo mit der Begeisterung eines Kindes und zugleich der Autorität eines erfahrenen Menschenfischers, »wir beziehen ein neues Haus. Schöner Ausblick, solider Grund. Genau das Richtige für dich! Ein Zimmer ist noch frei.«

Ich schaute ihn vermutlich so an, wie ein Welpe dreinschaut, wenn er verwirrt ist, aber nicht grundsätzlich abgeneigt – den Kopf schräg und mit großen Augen.

Er schlug mir auf die Schulter, und er sagte: »Schau dich um! Nur nette, solide Leute. So wie du. Genau dich brauchen wir. Neu anfangen, aber mit Verstand. Und nicht allein, sondern in Gemeinschaft.«

Es waren tatsächlich sehr freundliche Menschen, die Hugo da aufs Neue versammelt hatte.

Wer wollte denn bestreiten, dass Hugo sich darauf verstand, Menschen um sich zu scharen? Und auch ein Hugo kann sich ja ändern. Er schien ja jetzt recht freundlich.

Während ich noch tat, als würde ich grübeln und die Sache bedenken, winkte Hugo bereits der Kellnerin, etwas Feierliches zu servieren.

Ach, besser der Hugo, den man kennt, als Einsamkeit. Es waren ja doch meine Leute.

Und später, viel später würde ich hoffentlich wieder sagen können: Es war schön, solange es schön war. Die Hauptsache ist doch, dass es überhaupt irgendwann wirklich schön war.

Weiterschreiben, Wegner!

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