04.02.2020

Soll man (noch) Verantwortung übernehmen?

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Polina Rytova
»Die meisten Bootsmigranten sind keine Flüchtlinge«, lesen wir heute. Ach, es ist ermüdend. – Das Problem von Schlepperei und Open Borders: Es demotiviert Bürger, ihre Hoffnung in ein Land zu investieren, das ihnen gefühlt nicht mehr gehört.
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Nehmen wir einmal an, ein Sänger heute würde ein Lied schreiben, in welchem er den Mächtigen verspricht, dereinst über ihrem Grab zu stehen. Die Meinungs-Stasi würde ihn jagen. Politiker mit der moralischen Reinheit einer Klärwerkspfütze würden ihn aburteilen. Feuilletonisten mit der geistigen Tiefe eines Kuchentellers würden ihn zum »Nazi« erklären. Seine Auftritte würde man absagen, seine Lieder auslisten – so technisch nah wie man heute ans Verbrennen verpönter Kunst kommt – und seinen Namen würde man erst beschmutzen und dann ausradieren, wie die Guten es eben mit Andersdenkenden, also ihren »Feinden« zu tun pflegen.

Nun, das Lied »Masters of War« von Bob Dylan endet mit eben diesen Worten: »… I’ll stand over your grave ‚Til I’m sure that you’re dead«, zu Deutsch: »Ich werde über eurem Grab stehen, bis ich sicher bin, dass ihr tot seid.«

Der gesamte letzte Vers jenes Liedes ist derart »deftig«, und man fragt sich, was die Wut des Sängers in solchem Maße erregte.

Im fünften Vers lesen wir Zeilen, die mir, seit ich sie vor vielen Sommern zum ersten Mal hörte, nicht aus dem Geist gehen wollen.

You’ve thrown the worst fear
That can ever be hurled
Fear to bring children
Into the world
(Bob Dylan, Masters of War)

Zu Deutsch: »Ihr habt die übelste Angst verbreitet, die verbreitet werden kann: Die Angst, Kinder in die Welt zu bringen.«

Es wäre merkwürdig, wenn diese Zeilen mich als Vater nicht ergreifen würden. Doch, man muss nicht Mutter oder Vater sein, um zu verstehen, wovon der Sänger schreibt. Es ist größer.

Was treibt einen Menschen an? Was bewegt uns, zu tun, was wir tun? Es gibt jene unter uns, welche zuerst nach Genuss lüsten, und sie werden versuchen, mit so wenig Arbeit wie nötig so viel Sinnesfreuden wie möglich zu erlangen. Es gibt jene, welche sich danach sehnen, zu gehorchen und selbst Gehorsam zu erzwingen, und solche schließen sich dann wahlweise (oder kombiniert?!) dem Sadismus, dem Masochismus, dem Journalismus oder einem der anderen heute grassierenden Ismen an.

Mancher aber, und in diese Gruppe zähle ich mich gern selbst, nimmt die Freuden und Genüsse des Lebens gerne und dankbar an, wenn er sich auch nicht über diese »definiert«. Gehorsam ist für uns nur Mittel zum Zweck, stets nach dem Prinzip »so wenig wie möglich, so viel wie nötig«. Das, was uns zuerst treibt, ist die Verantwortung für die uns relevanten Strukturen (siehe auch »Tue, was richtig ist, nicht was dir Szenenapplaus einbringt!«).

Es wäre keine allzu verwegene These, dass es der Verantwortungstrieb ist, der ein Land stark werden lässt, der aus einem historisch-geologischen Gebilde eine Heimat macht, aus der Zukunft ein Versprechen.

Welche Nachrichten?

Schon länger stellen wir fest, dass man dieser Tage jede zweite Schlagzeile kommentieren könnte mit dem Ausruf: »Nein! Doch! Oh!« – Heute ist keine Ausnahme – wir lesen: »Die meisten Bootsmigranten sind keine Flüchtlinge« (welt.de, 3.2.2020) – Wir atmen durch.

Wir lesen von »Aktivistenschiff[en]«, die auch weiterhin die Kunden von Schleppern auf dem Meer an Bord nehmen und in die EU bringen. Wir lesen, dass mehr Migranten auf dem Weg zur afrikanischen Küste sterben als auf dem Meer selbst. Wir lesen, dass in den ersten Wochen von 2020 die Zahlen in Italien wieder hoch gingen, und dass ein Teil der Migranten bereits mit der Zusage von Bord geht, nach Deutschland weiterreisen zu können. Und dann schließlich, eine Aussage, welche das Wort »Flüchtling«, wie es in den letzten Jahren verwendet wurde, in den Verdacht bringt, das Lügenwort der letzten Jahrzehnte zu sein: »Anders als häufig behauptet, handelt es sich bei den in Italien Ankommenden mehrheitlich nicht um Flüchtlinge.« (welt.de, 3.2.2020)

Wie nannte man Menschen, die genau das schon früher aussprachen? Es bestätigt sich eine alte Regel: Als »Rechter« gilt einer, der zu früh eine unangenehme Wahrheit ausspricht.

Welche Motivation?

Welche Motivation soll ein Bürger haben, sich um sein Land zu kümmern, wenn in ihm das Gefühl wächst, dass eben dieses ihm nicht mehr gehört? Was ist denn die Motivation, sich für etwas einzubringen, das dir am Ende doch von höheren Mächten weggenommen wird? Und, noch weiter, um die Frage aus dem Lied zu stellen: Wie kann ein Mensch ohne Angst seine Kinder in die Welt bringen, während die Regierung eben dieses Land zur Gefahrenzone werden lässt?

Welche Zukunft?

Verantwortungsgefühl allein wird nicht die Zukunft eines Landes sichern (dafür braucht es noch Erfindungsreichtum und Sekundärtugenden), doch welche Zukunft wird ein Land haben, wenn die Menschen keine Verantwortung mehr fühlen für das Land? Welche moralische Legitimation hat eine Regierung, wenn die Menschen sich zu fürchten beginnen, ihre Kinder in diesem Land zur Welt zu bringen und aufwachsen zu lassen?

2016 schrieb ich den Text »Merkel – ihr Erbe wird ein Land ohne Verantwortungsgefühl sein«. Die Rolle des Essayisten hat sich über die letzten Jahre gewandelt. Wovor wir einst warnten, tritt inzwischen ein. Bürger verlieren ihre Motivation, Verantwortung für ein Land zu übernehmen, ihre Zeit und ihr Geld in ein Land zu investieren, das höhere Mächte sowieso an Fremde zu verschenken und verscherbeln scheinen.

Wie lebt man in einem Land, in dem es als moralisch schlecht gilt, für eben dieses Land praktische und rationale Verantwortung zu übernehmen? Wie plant man Zukunft, wo eben diese von einer ethisch verwahrlosten Pseudo-Elite verzockt wird?

»Ist euer Geld so gut?«

Man muss es ja gar nicht so derb formulieren wie es einst der heutige Nobelpreisträger Bob Dylan in Worte fasste. Man kann sich ja nur wünschen, dass die Gestalten, die hierfür verantwortlich sind, endlich abtreten, endlich abgewählt werden. Einige Bürger, habe ich gehört, würden manchen Verantwortlichen lieber im Gefängnis als in Verantwortung sitzen sehen, doch ich teile das nicht: Sollen diese Gestalten sich von mir aus in Aufsichtsräten oder Lobby-Büros versorgen lassen.

Im selben Lied fragt Bob Dylan (ich übersetze): »Lasst mich euch eine Frage stellen: Ist euer Geld so gut? Wird es euch Vergebung kaufen? Meint ihr, dass es das könnte?«

Es spricht für das positive Menschenbild des Sängers, dass er an das Gewissen von Politikern appelliert, in vollem Wissen, dass die sehenden Auges in Kauf nehmen, wenn Bürger infolge ihrer Politik leiden oder sogar sterben – oder auch »nur« ihre Heimat verlieren.

Ich bin mir absolut sicher, dass es ethisch gut ist, Verantwortung zu übernehmen – die Frage ist jedoch: Verantwortung wofür?

Die Aufgabe des Individuums ist heute, sich nicht von der drohnenden Unmöglichkeit, Verantwortung fürs Land zu übernehmen, davon abbringen zu lassen, dort anzupacken und Verantwortung zu übernehmen, wo es möglich ist.

Noch immer gibt es Menschen, die lernen wollen, welche die alten Werte und Künste hochhalten – wir können und sollten uns verbünden! Noch immer gibt es Menschen, welche die alten Bücher lesen und aufgeklärtes, rationales Denken pflegen – wir dürfen uns nicht davon abbringen lassen. Und: Noch immer gibt es Menschen, welche täglich mit ganzer Kraft darum kämpfen, ihre Kinder zu anständigen Menschen werden zu lassen.

Das Kanzleramt überlegt aktuell, das Essen für die Ärmsten teurer zu machen, weil sich teure Preise für Grüne so schön »moralisch« anfühlen (bild.de, 3.2.2020). Staatsfunker überbieten sich bald täglich damit, Hass und Zwietracht in der Gesellschaft zu säen (aktuell etwa bild.de, 4.2.2020: »ZDF-Journalist pöbelt gegen Bundeswehr-Soldaten«). Es ist schwer, Verantwortung für ein Land zu übernehmen, dessen Eliten es aktiv kaputt und ungerecht zu machen scheinen.

Kann es einen neuen, klügeren Anfang für Deutschland geben? Merkels Welteinladung ist ja nur einer von vielen groben, folgenreichen Fehlern. – Ich weiß es nicht, ich ahne nur, dass man sich dereinst fragen wird, wie ein Land sich so von einer alten Physikerin und einem spaltenden, üblen Hass säenden Staatsfunk kaputtmachen lassen konnte.

Jedoch: Wenn es einen neuen Anfang für Deutschland geben soll, dann wird er mit den Menschen beginnen, die gern und bewusst Verantwortung übernehmen, und sei es heute »nur« für Familie, Arbeitsstelle, Nachbarschaft und Freundeskreis.

Kämpft und arbeitet! Wenn es gerade aussichtslos ist, kurzfristig das gesamte Land zu ändern, dann ändert eben die Dinge, die ihr ändern könnt, für die ihr Verantwortung übernehmen könnt! Vielleicht kommen klügere Zeiten, ich hoffe ja, dass wir in unserer Beharrlichkeit dazu beitragen, auch gegen den Anschein des Augenblicks.

Um es mit Bob Dylan zu sagen, und zwar mit einem anderen Lied, und einer Zeile, die er als lapidare Feststellung meinte, die uns jedoch Grund für zarte Hoffnung sein kann: »The times, they are a-changin’« – die Zeiten sind ein sich Änderndes – oder, frei: Es werden andere Zeiten kommen.

Weiterschreiben, Dushan!

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